Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder in Yoko Tawadas...

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Nationale und Kapodistrische Universität Athen Fachbereich für deutsche Sprache und Literatur DLD81: Διαπολιτισμικά Ζητήματα Leitung: Dr. Aglaia Blioumi Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder in Yoko Tawadas literarischem Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“

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Hausarbeit im Rahmen des Seminars Interkulturelle Elemente in Literatur, Philosophie und Kunst

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Nationale und Kapodistrische Universität AthenFachbereich für deutsche Sprache und LiteraturDLD81: Διαπολιτισμικά ΖητήματαLeitung: Dr. Aglaia Blioumi

Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder

in Yoko Tawadas literarischem Essay„Eigentlich darf man es niemandem sagen,

aber Europa gibt es nicht“

vorgelegt von

Inhalt

Page 2: Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder in Yoko Tawadas literarischem Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“

Einleitung.............................................................................................................S. 3

Teil I – Theoretischer Teil

1. Deutsche Migrationsgeschichte nach 1950........................................................S. 4

2. Von der ‚Gastarbeiterliteratur‘ zur interkulturellen Literatur.............................S. 5

3. Der dynamische Kulturbegriff als Voraussetzung für interkulturelle Literatur...S. 6

4. Interkulturalität und ihr Bezug zum monokulturellen Selbstverständnis...........S. 6

5. Selbstkritik als Mittel zur Korrektur nationaler Stereotype...............................S. 7

6. Die doppelte Optik in der Literatur...................................................................S. 8

7. Hybridität in der Literatur.................................................................................S. 8

8. Über Yoko Tawada..........................................................................................S. 9

Teil II – Praktischer Teil

9. Zusammenfassung des literarischen Essays „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“.................................................S.10

10.Tawadas Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder..................................................................................S.11

10.1 Die Dekonstruktion von unreflektierten Eigen- und Fremdbildern..............S.11

10.2 Auflösen und Korrektur von Stereotypen.....................................................S.13

2

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10.3 Der Gebrauch der doppelten Optik..............................................................S.13

10.4 Elemente der Hybridität in Yoko Tawadas Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“................................S.15

Schlussbemerkungen.........................................................................................S.17

Bibliographie

Einleitung

In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts vollzog sich in

Deutschland, anfangs mit den ‚Gastarbeitern‘, die am deutschen

‚Wirtschaftswunder‘ mitarbeiten sollten, später mit ihren Kindern

und Enkelkindern, seit Ende des Millenniums vermehrt durch

Migranten aus der ganzen Welt, ein kultureller Wandel hin zur

Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit der Kulturen. Diese Entwicklung

spiegelt sich natürlich auch in der Literatur wider, die von den

Menschen verfasst wurde, die als Migranten nach Deutschland

zogen oder als Kinder oder Enkelkinder von Migranten dort leben.

An der in diesem Kulturwandel entstandenen Literatur lässt sich der

Übergang von einem statischen zu einem dynamischen Kulturbegriff

erkennen, bei dem Kulturen nicht nebeneinander bestehen, sondern

ineinander verflochten sind, miteinander interagieren und sich in

einem Diskurs befinden.

Ziel der vorliegenden Hausarbeit ist es, anhand des literarischen

Essays der japanischen Autorin Yoko Tawada „Eigentlich darf man

es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“ zu untersuchen,

auf welche Weise Konzepte des kulturell Eigenen und des Fremden

entblößt und durchbrochen werden. Dabei sollen die ‚doppelte

Optik‘ und der ‚Perspektivenwechsel‘ veranschaulicht werden,

durch die ein Abstand zum kulturellen Selbstverständnis und zum

3

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Konzept des ‚Fremden‘ ermöglicht wird und einer Selbstkritik auf

kultureller Ebene ermöglicht, „die Prägung des Individuums und

einer bestimmten Gruppe in einem gegebenen soziohistorischen

Umfeld zu hinterfragen.“1

Der erste, theoretische Teil der Arbeit, widmet sich der Autorin des

Essays und den Begriffsbestimmungen. Im zweiten Teil wird das

Essay Yoko Tawadas im Hinblick auf die Interkulturalität untersucht.

Meine These dabei ist, dass die Auflösung der kulturellen Fremd-

und Eigenbilder im Essay über die Interkulturalität hinaus zur

Hybridisierung führt, welche die Idee der bloßen Vernetzung von

undurchlässigen Kulturkonzepten aufhebt.

Teil 1

1. Deutsche Migrationsgeschichte nach 1950

Nicht erst seit dem deutschen ‚Wirtschaftswunder‘ in den 50er-

Jahren des vorigen Jahrhunderts ziehen Menschen nach

Deutschland, um dort zu arbeiten und zu leben (in dieser

Reihenfolge!). Schon am Anfang der Industrialisierung Deutschlands

gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden ausländische

Wanderarbeiter beschäftigt. Hinzu traten vor allem in der ersten

Hälfte des 20. Jahrhunderts millionenfache Zwangswanderungen

während und im Gefolge der beiden Weltkriege.2 In den 50er-Jahren

des 20. Jahrhunderts kam es aufgrund des rasanten wirtschaftlichen

Aufschwungs in der Bundesrepublik zu einem massiven Mangel an

Arbeitskräften, dem mit der Anwerbung von ‚Gastarbeitern‘

begegnet wurde. So wurden seit 1955 bis gegen Ende der 60er-

Jahre, vornehmlich aus Ländern im Süden Europas und aus dem

1 Blioumi, Aglaia: Interkulturalität und Literatur. Interkulturelle Elemente in Sten Nadolnys Roman „Selim oder Die Gabe der Rede“. In: Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten (hrsg. von Aglaia Blioumi). München: Iudicium 2002. S. 32.2 Vgl. Oltmer, Jochen: Deutsche Migrationsgeschichte seit 1871. URL: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56355/migration-1871-1950 (4.9.2012)

4

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Norden Afrikas, Arbeitskräfte angeworben. Bis 1973 lebten knapp 4

Millionen Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland. Anfangs

kamen die Arbeiter ohne ihre Familien, da ihre Arbeitsverträge

befristet waren. Mit der Verlängerung der Verträge und der längeren

Aufenthaltsdauer - was dadurch zu erklären ist, dass die Arbeitgeber

diese Lösung als rentabler ansahen, da erfahrene Arbeiter nicht

immer neu eingelernt werden mussten – holten die Arbeiter ihre

Familien nach Deutschland nach. Nach dem Anwerbestopp 1973

zogen etliche ausländische Arbeitnehmer in ihre Heimat zurück,

andere entschlossen sich dazu, mit ihren Familien in der

Bundesrepublik zu bleiben.3 Mit dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘,

wodurch die Grenzen zu den ehemaligen Ostblockstaaten

aufgehoben wurden, mit Kriegen auf globaler Ebene und

Vertreibungen ethnischer Minderheiten aus ihrer Heimat verstärkte

sich die Zahl der Zuwanderer, Aussiedler und Asylbewerber in

Deutschland. Im Jahr 2008 hatte fast ein Fünftel der Bevölkerung in

Deutschland einen Migrationshintergrund.

2. Von der ‚Gastarbeiterliteratur‘ zur interkulturellen

Literatur

Mitte der 60er- Jahre erschienen erste literarische Publikationen, oft

mit autobiographischen Zügen, in denen die Migranten über die

Arbeitswelt und das Leben in Deutschland schrieben.4 Nachdem der

befristete Aufenthalt für die ‚Gastarbeiter‘ aufgehoben war, planten

die Migranten längerfristige, wenn nicht lebenslange Aufenthalte in

Deutschland. Das charakteristische Merkmal der

Gastarbeiterliteratur zu jener Zeit war der Optimismus vonseiten der

3 Vgl. Seifert, Wolfgang: Geschichte der Zuwanderung nach Deutschland nach 1950. URL: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138012/geschichte-der-zuwanderung-nach-deutschland-nach-1950 (4.9.2012)4 Vgl. Chiellino, Gino: Italian Literature in Germany from 1964 to Today. In: Social Pluralism and Literary History. The Literature of the Italian Emigration. Hrsg. von Francesco Loriggio. Toronto, Canada: Guernica Editions Inc. 1996.S.306.

5

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fiktiven Charaktere, dass man im fremden Land ‚Wurzeln fassen‘

könnte. Themen wie die Aussichtslosigkeit einer Rückkehr ins

Heimatland, die Emigration der Frauen als Flucht vor

patriarchalischen Verhältnissen und als einziger Ausweg zur

Emanzipation werden von Chiellino5 angeführt als charakteristische

Themen der Zeit, die Erfahrungen aller Migranten ansprachen. Das

Entkommen aus der Armut und den gesellschaftlichen und

politischen Zwängen und zugleich das Ankommen, Fuß fassen im

neuen Land war am wichtigsten.

Im Laufe der Jahre hat sich die Situation der Migranten und damit

die Perspektivik sehr verändert: ihre Kinder und Kindeskinder sind

in Deutschland aufgewachsen. Während die zweite Generation

diejenige war, die ‚zwischen zwei Stühlen‘ saß, also zwischen zwei

Kulturen aufwuchs, ohne sich der einen oder der anderen Kultur

angehörig zu fühlen und, schlimmer noch, ohne sich von der einen

oder anderen Kultur vollkommen akzeptiert zu fühlen, wächst die

heutige Generation inmitten verschiedener Kulturparadigmen auf:

dazu gehören nicht nur die Kulturen ihrer Eltern und Großeltern,

sondern unter anderem auch die Jugendkultur und die Popkultur,

welche durch ihre Internationalität zu einem dynamischen

Kulturbegriff beigetragen haben.

Die interkulturelle Literatur, die sich in dem dynamischen Prozess

des Kulturaustauschs bis heute herausentwickelt hat, ist keine

Literatur, die das kulturelle ‚Dazwischen‘ beschreibt, sondern

erzählt aus dem Fokus der Schnittfläche zwischen den

verschiedenen Kulturparadigmen, nimmt die Optik einer

Hybridkultur an. Blioumi führt aus: „Hybridität ist das Gegenteil des

monokulturellen Selbstverständnisses, da sie innerhalb eines

nationalen Gebildes die Koexistenz und Interaktion mehrerer

Kulturen anerkennt.“6

5 Vgl. ebd.6 Blioumi 2002. S. 31.

6

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3. Der dynamische Kulturbegriff als Voraussetzung für

interkulturelle Literatur

Interkulturelle Literatur ist grenzübergreifend, durchbricht die

Membrane der Monokultur, ist vielschichtig, aber das

charakteristischste Merkmal ist die Dynamik, die ihr innewohnt.

Dadurch, dass Grenzen aufgehoben werden, wird der statische

Kulturbegriff abgelöst von einem dynamischen, der die Kulturen im

Wandel erfasst. Das statische Kulturmodell ist geprägt von

Stereotypen, wie das der Abstammungsgesellschaft, der

‚Kulturnation‘ oder der ‚Volksnation‘. Solche Begriffe wurden in

Europa im 19. Jahrhundert geprägt, auf sie stützten sich die neu

gebildeten Nationalstaaten, um ihre Territorien von anderen Staaten

abzugrenzen aufgrund ihrer Nationalsprache und ihrer ‚Kultur‘. Im

21. Jahrhundert jedoch sollte diese Abgrenzung nicht länger

notwendig sein zur Identitätsfindung der Völker, eher ist sie dem

dynamischen Prozess der Interaktion der Kulturen hinderlich.

4. Interkulturalität und ihr Bezug zum monokulturellen

Selbstverständnis

Interkulturalität, welche auf einem dynamischen Vorgang basiert,

der die Vorstellung von in sich homogenen, hermetisch

abgeschotteten Kulturkreisen durchbricht und eine Vermischung der

Kulturelemente zulässt, ist nicht denkbar ohne das Grundwort, die

„Kulturalität“, also das Selbstverständnis, einem gewissen

Kulturkreis anzugehören. Blioumi geht davon aus, der Begriff der

Interkulturalität sei erst in Beziehung zur Idee der Nationalstaaten

nachvollziehbar, denn im Prozess der Entstehung der

Nationalstaaten seien beispielsweise Sprachen mit Kulturkreisen

gleichgesetzt worden, habe sich die Idee einer

Abstammungsgesellschaft geformt.7 Nationales Denken ist also –

7 Vgl. ebd. S. 30.

7

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vor allem im europäischen Raum- monokulturelles Denken. In Zeiten

jedoch, in denen Anstrengungen gemacht werden, außer dem

wirtschaftlichen auch das kulturelle Europa zu vereinen, in denen

die Diversität als ‚Schlagwort‘ der Integration gebraucht wird und

man in der Vielfalt und Vielschichtigkeit das Gesamtbild, einem

Mosaik ähnlich, sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf kultureller

Ebene, herzustellen versucht, ist das streng nationale und

monokulturelle Denken anachronistisch und fortschrittshemmend.

5. Selbstkritik als Mittel zur Korrektur nationaler

Stereotype

In der Literatur drückt sich monokulturelles Denken nicht nur

dadurch aus, dass Eigen- und Fremdbilder projiziert werden,

sondern durch die Art und Weise, wie diese gezeichnet werden, wie

die Begriffe funktionalisiert werden: die Überbewertung des

nationalen-kulturellen Eigenbildes impliziert die Herabsetzung des

Fremdbildes. Dasselbe geschieht in umgekehrter Weise. Die

Idealisierung des Fremdbildes unterstellt, dass das Eigenbild

korrekturbedürftig ist. Aber auch das bloße Ansprechen einer

Gruppe ‚ihr‘ impliziert das ‚wir‘, macht deutlich, dass im Rahmen

des monokulturellen Selbstverständnisses und mithilfe von

Ausgrenzungsmechanismen gedacht wird. Die Erzählperspektive

verrät sehr viel über die Optik, aus der das ‚Eigene‘ und das

‚Fremde‘ dargestellt werden. Wird einer monoperspektivischen

Optik nichts entgegengesetzt, führt dies nach Ansicht von Blioumi

leicht zu einer „Verabsolutierung von eigenkulturellen

Vorstellungen und gesellschaftlichen Praxen“8. Ein Mittel, dem

vorzubeugen, die Anschauungsperspektiven zu relativieren, ist die

„Selbstkritik auf kultureller Ebene, die die Prägung des Individuums

und einer bestimmten Gruppe in einem gegebenen

8 Ebd. S. 31.

8

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soziohistorischen Umfeld hinterfragt“9. Ob und wie diese Selbstkritik

ihr Ziel, die Infragestellung überlieferter kultureller Schemata

vonseiten des Rezipienten, des Lesers, erreicht, hängt nicht zuletzt

damit zusammen, wie subtil und einleuchtend diese Selbstkritik

eingesetzt wird. Selbstkritik ist zum einen ein Eingeständnis, dass

etwas in der Vergangenheit falsch gemacht wurde, und zum

anderen, dass es nun die Bereitschaft zur Besserung gibt. Im

literarischen Essay Yoko Tawadas „Eigentlich darf man es

niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“ soll aufgezeigt

werden, mit welchen sprachlichen und stilistischen Mitteln auf

subtile Art und Weise Selbstkritik geübt wird.

6. Die doppelte Optik in der Literatur

Ein Mittel, um den Blick für die Relativität der eigenen kulturellen

Vorstellungen zu schärfen, ist die doppelte Optik. Die

Erzählperspektive ist nicht fixiert auf die Sicht des Eigenen, sondern

der Blickwinkel ändert sich und nimmt auch die Sicht des Anderen

ein. Der Gewinn des Gebrauchs der doppelten Optik liegt auf der

Hand: die kulturell monoperspektivischen Betrachtungsweisen

werden bewusst gemacht, ohne explizit kritisiert zu werden. Es wird

Platz gemacht für weitere Sichtweisen und damit der Abstand zur

eigenkulturellen Sicht ermöglicht, denn oft ist es der Fall, dass der

Leser sich nicht bewusst ist, dass sein kulturelles Selbstverständnis

von Vorurteilen belastet ist. Durch die doppelte Optik entsteht ein

‚Aha- Effekt‘ beim Leser, was eine unterschiedliche Sichtweise der

eigenen Kultur ermöglicht und die kulturelle Empathie fördert. In der

Hausarbeit soll dargestellt werden, wie Yoko Tawada in ihrem Essay

die Technik der doppelten Optik benutzt, um über den Gebrauch der

Sprache festgefahrene kulturelle Ansichten zu dekonstruieren und

den Weg für neue, polyperspektivische Ansichten zu ebnen.

9 Ebd.

9

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7. Hybridität in der Literatur

Der von Homi Bhabha entwickelte Begriff des Hybriden und des

Third Space, des Dritten Raumes, ist mittlerweile ein in der

deutschen Literatur- und Kulturwissenschaft immer wichtiger

gewordenes Konzept. Michael Hofmann10 erläutert Bhabhas Begriff

der Interkulturalität nicht als ein Aufeinandertreffen verschiedener

klar unterscheidbarer Kulturen, die sich beim Aufeinandertreffen

irgendwie vermengen, sondern dass schon jede einzelne

Ausgangskultur durch Hybridisierung verschiedenster kultureller

Tendenzen gekennzeichnet sei. Die Orte, an denen Hybridisierung

stattfindet, sind die Metropolen, die zu kulturellen Schmelztiegeln

werden: hier kommt es zum kulturellen Synkretismus, wird die Idee

der Abstammungskultur obsolet gemacht. Mit dem ‚Dritten Raum‘

wird der Raum des Hybriden bezeichnet, der weder allein dem

Raum der Ursprungskultur der einzelnen Subjekte angehört noch

dem Raum des Landes, in dem das Subjekt sich aufhält, sondern

„an allen Räumen teil hat und doch gleichzeitig exterritorial

erscheint“.11 In Yoko Tawadas Essay wird Hybridität durch Sprache

hergestellt. Jedoch wird am Ende deutlich, dass neue Wege

außerhalb der Sprache erschlossen werden müssen, um mit der

Hybridität innerhalb eines bestimmten Systems umgehen zu

können.

8. Über Yoko Tawada12

Yoko Tawada wurde 1960 in Tokyo geboren und lebt seit 1982 in

Deutschland. In Tokyo studierte sie Literaturwissenschaften und in

Hamburg Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Dort promovierte

10 Vgl. Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2006. S. 28.11 Ebd. S.29.12 Vgl. Yoko Tawadas Homepage in Deutschland. URL: http://yokotawada.de/?page_id=5 (16.9.2012)

10

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sie ebenfalls. Ihre erste Buchveröffentlichung in deutscher Sprache

war 1987 „Nur da wo du bist da ist nichts“, in Japan waren es 1992

die Erzählungen „Sanninkankai“. Sie schreibt in deutscher und

japanischer Sprache. Yoko Tawada ist während ihrer Schaffenszeit

mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen sowohl in Japan als

auch in Deutschland ausgezeichnet worden. Außerdem hat sie

Gastprofessuren angenommen und hunderte von Vorlesungen

weltweit gehalten. Der Essayband „Talisman“, welcher den Essay

zur vorliegenden Hausarbeit beinhaltet, erschien 1996. Der Band

beinhaltet 18 literarische Essays, in denen fiktionale Elemente sich

mit autobiographischen Inhalten mischen.

Teil II- Praktischer Teil

9. Zusammenfassung des literarischen Essays „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“

Im vorliegenden Essay ruft die Erzählerin anfangs ein fiktives

Gespräch mit einer ihrer Erzählfiguren, Xander, ins Gedächtnis

zurück. In besagtem Gespräch betrachtet Xander die „weiße“

Hautfarbe als etwas Organisches und nicht metaphorisch. Ihre

zögernde Frage, ob er tatsächlich glaube, dass Haut eine Farbe

habe, bejaht er ohne jeden Zweifel.

Sie erklärt ihm daraufhin auf eine wissenschaftliche Art und Weise,

Haut habe keine Farbe, genauso wenig wie Fleisch. Ihre Antwort,

aber auch die Art und der Ton, in dem sie ihm antwortet,

verunsichern ihn. Seine Anschauung von „eurer“ und „unserer“

Haut überrascht die Erzählerin, da sie von Xander erwarten würde,

auf einem anderen Niveau zu argumentieren, wenn er das Eigenbild

11

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des „Weißen“ verteidigen wollte. Dies jedoch reicht nur bis zur

Hautoberfläche.

Die Tatsache, dass man in Europa dem visuellen Sinn eine

besondere Bedeutung zuschreibt, ist nach Ansicht der Autorin ein

triftiger Grund, dass dem Aussehen so viel Bedeutung beigemessen

werde. Die Finsternis biete die Gelegenheit, die Augen von täglichen

Bildern, Eindrücken, zu befreien. Da die optische Wahrnehmung am

leichtesten falle, mache man sich nicht die Mühe, die übrigen Sinne

anzustrengen. Auch sei es als notwendig angesehen, den Körper des

anderen anzusehen. Jemandem keinen Blick zu gönnen, sei eine

Strafe.

Sie selbst möchte nicht teilhaben an dieser Praxis, weil sie sich

gezwungen sehe, ihren Körper zu präsentieren, aus ihm einen

europäischen Körper zu machen. Der (philosophische) Gedanke, der

hinter solchen Prozessen stehe, sei der, dass etwas, das nicht

gesehen werde, vielleicht nicht existiere.

Über „Europa“ gelangt die Erzählerin zur Vorstellung von Europa als

weiblicher und männlicher Theaterfigur. Die männliche sei diejenige,

die von anderen betrachtet werden möchte, während die weibliche

Figur die mythologisierte sei, welche mit der Zeit verloren gegangen

sei. Für die Autorin ist Europa von Beginn an eine idealisierte Figur,

die sie materialisieren möchte.

Zur europäischen Musik äußert sich die Erzählerin dahingehend,

dass die Meinung, nur europäische Musik sei die einzig wahre Musik,

in Japan weiter verbreitet sei als in Deutschland. Viele Japaner

hielten Europa für die Wiege der Kultur, dennoch gehöre sie der

ganzen Welt, weil sie leicht nachzuahmen sei, und die beste der

Kulturen sei die japanische, weil sie die europäische Kultur am

besten nachahmen könne. Für sie selbst gebe es allerdings keine

japanische Sichtweise, somit müsse sie ständig neu konstruiert

werden, sei also nicht authentisch japanisch. Diese „japanische

Brille“, die für eine Sichtweise aus der japanischen Kultur heraus

12

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sorgen soll, sei ein Prozess, der schmerze und mehr schade als

nütze. Die Erzählerin fühlt sich gezwungen, ständig durch die Augen

sehend zu erfahren.

Ihr Essay schließt sie mit der Erkenntnis, dass ihre Metasprache, mit

der sie über Europa spricht, nicht ihre eigene sei, sondern dass sie

sich diese auch über ihre Figur Xander angeeignet habe, indem sie

alles, was er sagte, wiederholte. Sie gesteht die Unmöglichkeit ein,

in einer ihr nicht eigenen Sprache über Europa zu diskutieren. Sie

müsse andere Methoden finden, um mit Europa umzugehen.

10. Tawadas Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder

Bevor aufgezeigt wird, mit welchen schriftstellerischen Mitteln es

Tawada gelingt, die Konzepte kultureller Fremd- und Eigenbilder zu

durchbrechen, soll zunächst gefragt werden, wie solche Fremd- und

Eigenbilder dargestellt werden. Welche Marker des Eigenen bzw.

Fremden werden eingesetzt? Welche Überzeugungen, Stereotype

werden im Prozess aufgedeckt? Wie gehen die literarischen Figuren

mit ihrem kulturellen Selbstverständnis um?

10.1 Die Dekonstruktion von unreflektierten Eigen- und

Fremdbildern

Tawadas Essay beginnt mit Erinnerungen der fiktiven Erzählerin an

ein Gespräch mit Xander, einer ihrer literarischen Figuren aus einer

früheren Erzählung:

„Damals betrachtete Xander die ‚weiße‘ Hautfarbe als einen Bestandteil seines Körpers und nicht als Metapher.“ 13

Das Eigenbild Xanders, so merkt der Leser, basiert auf einer naiven,

unreflektierten Sichtweise, was darauf schließen lässt, dass das 13 Tawada, Yoko: „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“. In: Talisman: Literarische Essays. Tübingen: Konkursbuchverlag 1996. S.45.

13

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Individuum Xander sich zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht

kritisch mit seinem kulturellen Selbstverständnis

auseinandergesetzt hat. Die Erzählerin zögert, bevor sie ihr

Gegenüber fragt: „Glauben Sie wirklich, dass Haut eine Farbe

hat?“14, worauf Xander mit einem kurzen Lachen antwortet: „Was

für eine Frage. Oder glauben Sie vielleicht, dass die Farbe von Ihrem

Fleisch kommt?“15 Ihr Zögern steht für eine wohlüberlegte

Vorgehensweise, ihre Frage steht für eine Einladung zum Diskurs,

während sein kurzes Lachen und seine rhetorische Frage ein

Zeichen dafür sind, dass er in festgefahrenen Schemata denkt. Ihr

Standpunkt ist ein wissenschaftlicher, seine Reaktionen sind

emotional-affektiv: „Er streichelte den rechten Arm mit der linken

Hand, als wollte er sich vergewissern, dass er eine weiße Hautfarbe

besaß.“16 Solche Vorstellungen wie auch der Gebrauch von Markern

des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ werden benutzt, um den Kontrast

zu verstärken zwischen der unreflektierten Sichtweise Xanders und

der intellektuellen, im Grunde transkulturellen Sichtweise der

Erzählerin: „Aber das Licht spielt auf eurer Haut anders als auf

unserer.“ Wie wenig bewusst die Pronomen ‚eurer‘ und ‚unserer‘

von Xander gebraucht werden, fällt deshalb auf, weil die Erzählerin

zuvor erklärend sagt: „In uns gibt es keine Farbe.“ Sie gebraucht

das Pronomen ökumenisch, während er das ‚Andere‘ von sich

abzugrenzen versucht. Für die Erzählerin ist Hautfarbe kein Thema,

war es nie, daher spricht sie nicht wie eine ‚aufgeklärte‘ Person, also

jemand, der irgendwann einmal anders gedacht hat und im Laufe

der Zeit dazugelernt hat.

14 Ebd.15 Ebd.16 Ebd.

14

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10.2 Auflösen und Korrektur von Stereotypen

Xander drückt mit seinen Ansichten Stereotype aus, sein Denken ist

‚rassistisch‘, er unterscheidet Menschen nach ihren Rassen. Die

Erzählerin ist erstaunt über die Wortwahl ihres Gesprächspartners,

da sie seine Ansichtsweise nicht nachvollziehen kann:

Dass er die zwei Wörter „eurer“ und „unserer“ so sehr betonte, überraschte mich. Ich konnte seine Absicht nicht verstehen: Falls für ihn die Identität als „Weißer“ wichtig sein sollte, müsste er eher behaupten, dass keiner von den "„Weißen“ eine papierfarbene Haut besitze und dass die Gemeinsamkeit der sogenannten Weißen auf einer ganz anderen Ebene zu finden sei.17

Die Ebene, auf der sie argumentiert, ist eine gänzlich andere als die

Xanders. Sein Selbstverständnis drückt sich auf emotionaler Ebene

aus, er betont die Wörter stark, nicht nur die Wortwahl, auch der

Tonfall überraschen sie. Ihre Reaktion ist, dass sie seinen

Gedankenlauf nicht versteht, denn ihre Überlegungen basieren auf

logisch nachvollziehbaren Grundlagen. Seine Argumentation

weiterführend, kommt sie zu einem völlig anderen Ergebnis, was

eine Diskrepanz aufzeigt, die von ihr aber nicht gewertet wird,

sondern objektiv festgestellt. Somit werden Stereotype nicht nur als

affektiv enttarnt, sondern es wird ihnen auch die

(pseudo)wissenschaftliche Grundlage entzogen, auf der sie einst, im

Zuge der Rassentheorie, aufbauten.

10.3 Der Gebrauch der doppelten Optik

Wie schon anfangs beschrieben, bewirkt die doppelte Optik, dass

sich das ‚Andere‘ nicht nur zum ‚Eigenen‘ gesellt, also integriert

wird, sondern dass sich eine dialogische Beziehung entwickelt

dadurch, dass bewusst gemacht wird, dass man kulturelle

Verhaltens- und Denkmechanismen nachahmt, wenn man in einem

17 Ebd. S. 46.

15

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gewissen Kulturkreis aufwächst. Blioumi beschreibt, wie

Funktionalisierungsmechanismen zur Veranschaulichung des

‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ wie beispielsweise Dichotomien

eingesetzt werden, um die erschaffenen kulturellen Unterschiede zu

problematisieren.18 Tawada benutzt in ihrem Essay die europäische

Kultur im Gegensatz zur Erzählerin als nicht- europäischem

Individuum. Sie generalisiert nicht und betont darüber hinaus das

persönliche Gefühl des fiktiven Charakters. So vermeidet sie einen

Kulturaustausch und mit ihm die Erschaffung von Klischees: Was

beschrieben wird, sind Beobachtungen und Eigenreflexion:

Da ich nicht gewohnt war, auf die Farbe der Haare und der Augen zu achten, fiel es mir in Europa nicht besonders auf, dass sich bei den Europäern im Tageslicht andere Farben reflektieren als bei mir. Was mir aber stark auffiel, war, dass ein europäischer Körper immer nach einem Blick sucht. [...] Oft musste ich in der S- Bahn oder im Bus meine Augen schließen, weil diese Aufgabe für mich zu viel wurde.19

Die Erzählerin spricht von den Anforderungen der europäischen

Kultur, sich mit ihr auf eine Art auseinanderzusetzen, die ihr

ungewohnt ist, und beschreibt die Anstrengungen, denen sie sich

unterzieht, um diesen Anforderungen zu genügen. Die ‚doppelte

Optik‘ ist hier ein schwieriger, sogar schmerzhafter Prozess, da sie,

indem sie die europäische Kultur betrachtet, zwangsläufig ihre

eigene Kultur aus dieser ungewohnten, weil nicht kulturspezifischen,

Perspektive betrachten muss:

Meine japanische Brille ist aber kein Instrument, das man einfach in einem Laden kaufen kann. Ich kann sie auch nicht nach Laune aufsetzen oder abnehmen. Diese Brille ist durch meine Augenschmerzen entstanden und wuchs in mein Fleisch hinein, so wie mein Fleisch in die Brille hineinwuchs.20

18 Vgl. Blioumi, Aglaia: Interkulturalität als Dynamik. Ein Beitrag zur deutsch-griechischen Migrationsliteratur seit den siebziger Jahren. Hrsg. von Elisabeth Bronfen, Michael Kessler, Paul Michael Lützeler, Wolfgang Graf Vitzthum, Jürgen Wertheimer. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2001. Band 20.19 Tawada 1996. S. 47.20 Ebd. S. 50.

16

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Das Ergebnis ist irreversibel. Hat man einmal diesen Prozess

durchlaufen, ist der alte Zustand nicht mehr herzustellen, die

‚doppelte Optik‘ verhilft nicht einfach zu einer weiteren Sichtweise,

sie dekonstruiert das Prinzip des kulturellen Ist – Zustandes, das

naive kulturelle Selbstverständnis.

10.4 Elemente der Hybridität in Yoko Tawadas Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“

Hybridität als Ausdruck der Prozesshaftigkeit und des permanenten

Wandels von Kulturen erscheint in Yoko Tawadas Essay durch die

Ausdrucksweise der Erzählerin. Sie räumt ein, dass sie sich, um

Europa ‚sehen‘ zu können, eine japanische Brille aufsetzen muss.

Dies bedeutet, dass sie sich zwingen muss, in Stereotypen zu

denken, um solche Denkweisen überhaupt nachvollziehen zu

können. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass der

Hybridisierungsprozess schon stattgefunden hat. Die

Hybridisierung, die vernetzt ist mit dem dynamischen Kulturbegriff,

drückt sich so aus, dass es nicht mehr um die Integration eines

abgeschlossenen Systems in ein anderes System geht21, sondern

dass die Vorstellungen, wie ein solches System auszusehen und zu

funktionieren hat, aufgelöst, dekonstruiert werden müssen, um Platz

zu schaffen für neue Formen des Umgangs mit der Hybridität.

Europa, die als männliche Figur verlangt, angeschaut und kritisiert

zu werden, löst in der Erzählerin Unbehagen aus, da sie es nicht

gewohnt ist, ständig Blickkontakt zu halten und Kritik zu üben. Um

nicht von der europäischen Kultur assimiliert zu werden, sich

aufzulösen und ihre Identität zu verlieren, sucht sie nach einem

21 Vgl. Mader, Elke/ Hirzer, Petra: Peruanisches Masala. Hybridisierungsprozesse in der lateinamerikanischen Bollywood Fan- Kultur. In: Hybridität – Transkulturalität – Kreolisierung. Innovation und Wandel in Kultur, Sprache und Literatur Lateinamerikas. Hrsg. von Eva Gugenberger, Kathrin Sartingen. Wien; Berlin; Münster: Lit Verlag 2011. S. 76.

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Ausweg, das Bedürfnis Europas zu befriedigen, ohne daran selbst

zugrunde zu gehen:

Als ich nach Europa kam, hatte ich nichts über Europa zu erzählen, weil ich keine Sprache kannte, die von meinen neuen Mitmenschen verstanden werden konnte. Ich habe nach und nach Xanders Sprache gelernt, indem ich alles, was er sagte, wiederholte. [...] Kaum fange ich an, über Europa zu sprechen, wiederhole ich sie. Deshalb höre ich auf, zu sprechen. Ich muss mir eine andere Methode überlegen, um mit ihr umgehen zu können.22

Das Subjekt, welches hier zum Ausdruck kommt, ist eins, das den

Hybridisierungsprozess schon hinter sich hat und auf der Suche ist

nach einer neuen Sprache, um mit den ‚Mitmenschen‘, nicht den

‚Deutschen‘ oder den ‚Japanern‘ zu kommunizieren, um „die Grenze

zwischen Betrachter und Objekt (zu) überschreiten“23.

22 Tawada 1996. S. 51.23 Ebd. S. 50.

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Schlussbemerkungen

Ziel der vorliegenden Hausarbeit war, darzustellen, auf welche

Weise Konzepte kultureller Fremd- und Eigenbilder in Yoko Tawadas

literarischem Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber

Europa gibt es nicht“ aufgezeigt und durchbrochen werden. Zu

diesem Zweck wurde im ersten Teil ein kurzer Abriss der

Migrationsgeschichte in Deutschland nach 1950 gegeben sowie

einiger Begriffe aufgeführt, die Bestandteil des Diskurses der

interkulturellen Literatur sind.

Im zweiten Teil der Arbeit wurde auf den Essay Tawadas

eingegangen und der Versuch gemacht, die Begriffe der ‚doppelten

Optik‘, der Hybridität und mit ihr des dynamischen Kulturbegriffs

sowie der Selbstkritik als Mittel zur Korrektur nationaler Stereotype

innerhalb des Textes ausfindig zu machen.

Von der Hybridität und dem dynamischen Kulturbegriff wird, wie

sich gezeigt hat, im Text ausgegangen. Die Frage geht darüber

hinaus, nämlich, welche Mittel geschaffen werden können, um der

Hybridität Ausdruck zu verschaffen, damit dieser Prozess nicht nur

subjektiv erfahren, sondern damit man sich über die Erfahrungen

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auf eine Art austauscht, die grenzüberschreitend wirkt und sich

nicht nur auf die Sprache als Ausdrucksorgan beschränkt.

Das Verfahren der ‚doppelten Optik‘, so hat sich im Text gezeigt, ist

kein einfacher Vorgang: Empathie zu zeigen bedeutet auch, zu

seiner eigenen kulturellen Identität Abstand zu nehmen und sie neu

zu betrachten. Der Gewinn, der aus einem solchen Prozess für das

Individuum entsteht, ist dass die kulturelle Identität nicht verloren

geht, sondern, dass man sie letzten Endes bereichert durch eine

erweiterte Perspektive auf kulturelle Diversität.

Bibliographie

Primärliteratur

Tawada, Yoko: „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“. In: Talisman: Literarische Essays. Tübingen: Konkursbuchverlag 1996.

Sekundärliteratur

Blioumi, Aglaia: Interkulturalität und Literatur. Interkulturelle Elemente in Sten Nadolnys Roman „Selim oder Die Gabe der Rede“. In: Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten (hrsg. von Aglaia Blioumi). München: Iudicium 2002.

Blioumi, Aglaia: Interkulturalität als Dynamik. Ein Beitrag zur deutsch-griechischen Migrationsliteratur seit den siebziger Jahren. Hrsg. von Elisabeth Bronfen, Michael Kessler, Paul Michael Lützeler, Wolfgang Graf Vitzthum, Jürgen Wertheimer. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2001. Band 20.

Mader, Elke/ Hirzer, Petra: Peruanisches Masala. Hybridisierungsprozesse in der lateinamerikanischen Bollywood Fan- Kultur. In: Hybridität – Transkulturalität – Kreolisierung. Innovation und Wandel in Kultur, Sprache und Literatur

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Page 21: Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder in Yoko Tawadas literarischem Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“

Lateinamerikas. Hrsg. von Eva Gugenberger, Kathrin Sartingen. Wien; Berlin; Münster: Lit Verlag 2011.

Schmitz, Helmut: Einleitung: Von der nationalen zur internationalen Literatur. In: Helmut Schmitz (Hrsg.):Von der nationalen zur internationalen Literatur: Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam, New York: Editions Rodopi 2009. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 69).

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