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Analoge Größenvorstellungen und Zahlenstrahl in der Dyskalkuliediagnostik

L. Tischler

1 Rechnen als Funktion und Informationsverarbeitung

Rechenstörungen gehören zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

(UESF). Der Störungsbeginn solcher Entwicklungsrückstände liegt ausnahmslos im Kleinkindalter

und in der frühen Kindheit (s. etwa Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2006). Allerdings ist die Re-

chenstörung selbst erst nach Einsetzen der Beschulung diagnostizierbar (vgl. DSM-5: „This neuro-

developmental disorder first manifests [Hervorhebung v. Verf..] during the years of formal schoo-

ling.“ APA, 2013, S. 32).

Dieser Widerspruch erweist sich nur dann als auflösbar, wenn man davon ausgeht, dass es

sich bei der Störung des Rechnens nicht um die eigentliche Störung, sondern um die Symptomatik

einer tiefer liegenden (früheren) Störung handelt, die sich erst nach Einsetzen der Beschulung in

Rechenschwierigkeiten äußert. Das Manifestieren, Offenbarwerden, der Störung impliziert entspre-

chend das zuvor verdeckte Vorhandensein.

Im DSM-5 (APA, 2013) werden die UESF als speecific learning disorders den Neuroent-

wicklungsstörungen (neurodevelopmental disorders) zugeschrieben. Diese sind als „group of condi-

tions“ (APA, 2013, S. 31) charakterisiert durch „developmental deficits that produce impairments of

personal, social, academic, or occupational functioning“ (ebd.)1.

In diesem Zusammenhang beschreibt das DSM-5 specific learning disorders als „specific

deficits in an individual‘s ability to perceive or process information [Hervorhebung v. Verf..] effi-

ciently and accurately“ (APA, 2013, S. 32). Die Beschreibung einer UESF als Informationsverarbei-

tungsstörung entspricht der allgemeinpsychologischen Auffassung von Psychischem als informati-

onsverarbeitender Prozesskonfiguration im Rahmen einer universalistischen Funktionslehre (vgl.

Prinz & Müsseler, 2008).

Entsprechend liegt der Symptomatik beeinträchtigter Rechenfertigkeiten eine Störung

grundlegender Funktionen oder Fähigkeiten (engl. abilities) zugrunde. Auf diesen bauen die Fertig-

1 Diese Beschreibung entspricht Beeinträchtigungen (impairments) im sogenannten globalen psychosozialen Funkti-onsniveau (Achse 6, Multiaxiales Klassifiaktionsschema nach ICD-10: psychische, soziale und berufliche (schuli-sche) Leistungsfähigkeit; s. Remschmidt et al., 2006).

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keiten (engl. skills) auf, oder anders ausgedrückt, auf ihnen basiert der Rechenerwerb. Eine

Diagnostik der Rechenleistung kann sich demgemäß beziehen auf die bloßen Rechenfertigkeiten

(Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division) sowie zusätzlich die Überprüfung neuropsycholo-

gischer Basisfunktionen, die zur Entwicklung von Rechenfertigkeiten notwendig sind2.

2 Fähigkeit, Funktion, Basiskompetenz und Fertigkeit

Zur begrifflichen Unterscheidung sind zunächst die grundlegenden Fähigkeiten a) Basisfähigkeiten

oder neuropsychologische Basisfunktionen zu nennen. Zu diesen gehören etwa Aufmerksamkeits-

funktionen, Gedächtnis und Arbeitsgedächtnis, exekutive Funktionen, die visuell-räumliche Wahr-

nehmung und andere (s. neuropsychologisches Gebäude des Rechenerwerbs; Jacobs, Petermann &

Tischler, 2013, S. 188).

Auf diesen bauen direkt (auch über implizites Lernen) die b) mathematischen Basis-

kompetenzen auf. Diese umfassen etwa Mengenerfassung, Mengenschätzen und Mengenzerlegung

sowie Zählen, Menge-Zahl-Zuordnung und Seriation (zur Diagnostik der Zahlbegriffsentwicklung

anhand von Seriationsaufgaben s. etwa van Luit, van de Rijt & Hasemann, 2001). An diesem Ent-

wicklungspunkt ist entsprechend das Verständnis für den semantischen Gehalt der Zahl (Zahlbe-

griffsentwicklung) mit seinem Ordinal- sowie dem Kardinalaspekt anzusiedeln.

Ordinal- und Kardinalaspekt–das Verständnis von Rangreihen, von viel/wenig und mehr/we-

niger sowie von absoluten Größen–stellen als mathematisches Konzeptwissen die Grundlage für die

Durchführung von Rechenprozeduren (Prozeduralwissen) dar. Erst dieses Wissen ermöglicht das

tatsächliche Verstehen (ansonsten möglicherweise bloß auswendig gelernter) regelgeleiteter kogniti-

ver Operationen mit Zahlen. An dieser Stelle kann nun von c) Rechenfertigkeiten gesprochen wer-

den–Rechnen als regelgeleitetes prozessieren von (diskreten3) Größenvorstellungen im mentalen

Zahlenraum4.

2 Eine basale Funktionsdiagnostik lässt sich am ehesten als Modifikationsdiagnostik darstellen, deren Ziel in einerVeränderung (Optimierung) von (Lehr- und) Lernprozessen besteht (Therapieplanung). Die bloße Feststellung einerbeeinträchtigten Rechenleistung (ggf. Diagnose Rechenstörung, F81.2 ICD-10-GM 2016; s. Deutsches Institut fürMedizinische Dokumentation und Information [dimdi], 2016) kann etwa im Rahmen der Erteilung von Zugangsbe-rechtigungen (s. § 35a SGB VIII) als Ergebnis- (Status-) oder Selektionsdiagnostik verstanden werden (s. hierzuausführlich Pawlik, 1982).

3 Kann ein Merkmal endlich oder unendlich viele Ausprägungen annehmen, die sich als abzählbar erweisen, handeltes sich um eine diskretes Merkmal. Kann ein Merkmal hingegen sämtliche Ausprägungen innerhalb eines Intervallsannehmen, so heißt das Merkmal stetig. Mengen (etwa Geld) sind im Gegensatz zu Massen (etwa Wasser, Butter,Mehl) immer unmittelbar abzählbar.

4 Als von besonderer differentialdiagnostischer Bedeutung erweist sich hier die Leistungsfähigkeit des visuell-räum-lichen Arbeitgedächtnisses sowie die Kapazität der phonologischen Schleife (Baddeley & Hitch, 1974; vgl. Dehae-ne, 1999, S. 121ff)

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3 Analoge Größenvorstellungen vs. Zahlen

Als Ausgangspunkt für eine gelungene Zahlbegriffsentwicklung kann die Entwicklung von soge-

nannten analogen Größenvorstellungen (analogue magnitude representations, AMR; vgl. einfüh-

rend Beck, 20145) gesehen werden. Sie repräsentieren ontogenetisch wie auch phylogenetisch frühe

räumliche, zeitliche u. a. Größen, die als aufsteigendes bzw. absteigendes Kontinuum gedacht wer-

den können. In ihrer Eigenschaft als kontinuierlich lassen sich diese Größen nicht abzählen oder

messen.

Erst mit der Verwendung von Zahlwörtern und Maßeinheiten wird es möglich, diese (oft-

mals visuell basierten) Größenvorstellungen in diskrete Merkmalsausprägungen zu transformieren

und einzeln abzuzählen, zu messen und mit ihnen entsprechende Rechenoperationen durchzuführen.

Die Voraussetzung für das Rechnen stellt also die Verknüpfung der analogen (kontinuierlichen, ste-

tigen) Größenvorstellungen mit diskreten (abzählbaren) Größenvorstellungen dar–Zahlen. Diese

Zahlen (deren semantischer Gehalt sich in Ordinal- und Kardinalspekt ausdrücken lässt), werden als

Ziffern visualisiert.

Als eng mit der Entwicklung analoger Größenvorstellungen verbunden erweist sich womög-

lich die Fähigkeit zum sofortigen und exakten Erfassen kleiner Mengen von bis zu fünf Objekten.

Diese Fähigkeit wird als Subitizing6 bezeichnet7. Der Begriff wurde geprägt durch Kaufman, Lord,

Reese und Volkmann (1949). Die sofortige Mengenerfassung gelingt bei kleinen Mengen bis fünf

exakt, danach werden Angaben von Versuchspersonen, denen kurzzeitig visuelle Stimuli dargeboten

werden, ungenauer. Eine mögliche Erklärung8 für diese Fähigkeit liefert wiederum die Verwendung

von AMR im Sinne eines Näherungsspeichers (vgl. Dehaene, 1999, S. 109ff), der nach dem Prinzip

des Weberschen Gesetzes arbeitet (s. u.). Je kleiner die zu erfassende Menge, desto genauer werden

die Informationen kognitiv prozessiert.

Mit Blick auf die Entwicklung von Rechenstörungen erweist es sich entsprechend als wahr-

scheinlich, dass bereits sehr frühe Funktionsbeeinträchtigungen mit Bezug auf die Numerosität (an-

geborene, zahlen- und mengenmäßige Vorstellungen von Objekten, Tönen, Farben etc.; s. ausführ-

lich Butterworth, 20059) eine Rolle spielen. So konnten etwa Landerl, Bevan und Butterworth

(2003) zeigen, dass dyskalkue Kinder Defizite in den basalsten Funktionen numerischer Informati-

5 „AMRs are primitive representations of spatial, temporal, numerical, and related magnitudes. They are primitive becausethey represent magnitudes without presupposing the ability to represent any units of measurement or mathematically defi -ned system of numbers“ (Beck, 2014, S. 2).

6 vgl. lat. Subito = plötzlich 7 Die Übersetzung als simultane (also gleichzeitige) Mengenerfassung erweist sich als problematisch, da mit

Subitizing gerade ein einzelner kognitiver, gleichsam punktueller Akt gemeint ist – eben keine serielle oder parallele Verarbeitung stattfindet.

8 Weitere Erklärungsansätze stellen das visual-indexing und die pattern-recognition dar (s. etwa Krajcsi, Szabó & Mórocz, 2013).

9 „The term ‚numerosity‘ is used here as the cognitive [Hervorhebung v. Verf.] counterpart to the term ‚cardinality‘ used by mathematicians and logicians“ (Butterworth, 2005, S. 3).

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onsverarbeitung aufweisen; dazu gehören etwa Subitizing sowie das Abzählen kleiner Mengen. Die

Autoren nehmen an, dass bei Dyskalkuliebetroffenen ein mangelndes Verständnis von Numerosität

sowie eine stark begrenzte Kapazität des Erkennens und Unterscheidens auch kleinster

Numerositäten zu einer mangelhaften Zahlbegriffsentwicklung führt („developing the normal mea-

nings for numerical expressions and lead to their difficulties in learning and retaining information

regarding numbers“; Landerl et al., 2003, S. 122).

3.1 Mengenschätzen vs. Zählen

Die angeführten analogen Größenvorstellungen und die mit ihnen durchgeführten Informationsver-

arbeitungsprozesse (etwa Mengenschätzen) können – mit Ausnahme des Subitizing – also niemals

so genau sein, wie es das Abzählen anhand von Zahlen ermöglicht. Dennoch kann man anhand von

AMRs zumindest Schätzungen und Überschlagsrechnungen vornehmen.

Dabei werden die Schätzungen umso weniger exakt, je größer die zu schätzende Menge ist.

Stellen Sie sich vor, Ihnen würde für zwei Sekunden ein Bild mit 50 Heftzwecken gezeigt. Diese

kurze Zeit reichte nicht aus, um die Heftzwecken einzeln abzuzählen. Zum Schätzen wären Sie ent-

sprechend auf Ihre AMRs angewiesen. Wahrscheinlich schätzten Sie die Menge auf 40, vielleicht

auf 60 Stück. Dies stellte womöglich eine recht gute Schätzung dar. Was geschähe, wenn Ihnen nun

eine Menge von 500 Heftzwecken kurzzeitig dargeboten würde? Wahrscheinlich schätzten Sie die

Menge auf 400, vielleicht auf 600 Stück.

Obwohl die zweite Schätzung mit ±100 wesentlich deutlicher von der tatsächlichen Menge

abwiche als die erste Schätzung (±10), würden wir nicht behaupten wollen, bei der zweiten Menge

sei schlechter geschätzt worden. Denn ohne bewusstes Zutun beurteilen wir die Größe der Abwei-

chung (10 vs. 100) stets im Verhältnis zu der zu schätzenden Gesamtmenge (50 vs. 500). Die Quali-

tät einer Schätzung besteht also nicht in der gezählten, absoluten Abweichung, sondern in der Be-

stimmung der verhältnismäßigen, relativen, Abweichung. Das Abweichungsintervall vergrößert

sich, die Schätzung wird undeutlicher–verrauscht–, die Relationen hingegen bleiben erhalten: hier

±10 ÷ 50 = ±100 ÷ 500 = … 0.2 = k (konstant).

3.2 Webersches Gesetz und Logarithmus

Das Rauschen (noise) der Schätzung folgt dabei einem Gesetz aus den Anfängen der

Psychophysik. Es handelt sich um das Webersche Gesetz: Δ R ÷ R = k. k steht hier für die Weber-

sche Konstante, R für den Reiz und Δ R für die Veränderung des Reizes. Unabhängig davon (also

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konstant, = k), ob es sich um 50, 500 oder 5000 zu schätzende Objekte handelt, wird sich die Schät-

zung Δ R (±10/±100/±1000) ÷ R 50/500/5000 = k = 0.2 annähern bzw. sich innerhalb des Abwei-

chungsintervalls von -0.2 bis +0.2 bewegen.

Eine mathematische Beschreibung dieses Prinzips ermöglicht der sogenannte Logarithmus10.

Er bezeichnet den Exponenten, mit dem man eine (hier beispielhaft gewählte) Basis 10 potenzieren

muss, um eine gegebene Zahl (hier bspw.) 10/100/1 000/10 000 zu erhalten. Der Logarithmus von

10/100/1 000/10 000 bei einer gegebenen Basis 10 ist 1/2/3/4 (101 = 10; 102 = 100; 103 = 1000; 104

= 10 000). Obwohl sich also die Zahlen (vgl. o. Abweichungsintervall) absolut (abgezählt) expo-

nentiell voneinander unterscheiden (101 = 10 → 102 = 100 → 103 = 1 000 → 104 = 10 000) bleiben

die Relationen zwischen den Logarithmen (1 → 2 = 1 → 3 = 1→ 4 = 1) bzw. 10 ÷ 100 = 10, 100 ÷

1 000 = 10, 1 000 ÷ 10 000 = 10 erhalten.

4 AMR und mentaler Zahlenstrahl

Das näherungsweise kognitive Prozessieren anhand von AMRs findet bei abgeschlossener Zahlbe-

griffsentwicklung seine Entsprechung im sogenannten mentalen Zahlenstrahl (s. Dehaene, Bossini

& Gireaux, 1993; mental number-line): In ihrer Arbeit konnten Dehaene et al. anhand von Kompati-

bilitäts- und Inkompatibilitätseffekten belegen, dass (in westlichen Kulturen mit Schreibrichtung

von links nach rechts) Zahlen in der Vorstellung von links nach rechts aufsteigend repräsentiert

sind. Auch der Zahlenstrahl repräsentiert Relationen zwischen Mengen anstatt absoluter (abgezähl-

ter) Zahlen. Das bedeutet, der Zahlenstrahl verfügt über eine gleichbleibende mental-räumliche

Ausdehnung unabhängig von den absoluten Größe des repräsentierten Intervalls (vgl Abb. 1). Die

Größenvorstellungen werden also skaliert–unter Einhaltung der Proportionen/Relationen einge-

passt.

Abbildung 1. Gleichbleibende Relationen auf dem mentalen Zahlenstrahl bei Veränderung des re-präsentierten absoluten/abgezählten Intervalls

10 Die entsprechenden Erweiterungen Webers Überlegungen finden sich bei Fechner (1860) und Stevens (1957).

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5 AMR in der Dyskalkuliediagnostik

In der Diagnostik von Rechenstörungen erweisen sich entsprechend Aufgaben zur Positionsbestim-

mung auf dem Zahlenstrahl als nützlich, um die Ausbildung der AMR als Grundlage der Zahlbe-

griffsentwicklung zu überprüfen („Zuordnen von Zahlen zu analogen Repräsentationen: Auf einem

‚Zahlenstrahl‘ wie dem Metermaß liegt die kleinere Zahl links, die größere Zahl rechts“ [DGKJP et

al., 2007, S. 216], vgl. etwa RZD2-6 [Jacobs, 2005,], Jacobs & Petermann, 201411; ZAREKI-K, von

Aster, Bzufka & Horn, 2009). Eine Abklärung des Relationsverständnisses kann ebenso Fragen wie

„Wenn du 50 Schritte an einem Tag gehst, ist das viel oder wenig?“ (vgl. Untertest Kontextbezoge-

ne Mengenbewertung, RZD 2-612) oder den Größenvergleich von Zahlen (auditiv oder visuell) bein-

halten.

Aufgaben zum Subitizing finden in der Regel keine Anwendung, da Sie aufgrund der erfor-

derlichen Reaktionszeitmessungen und exakten Reizdarbietungsdauer den Einsatz von Computern

erforderten.

5.1 AMR versus räumlich-perzeptive Wahrnehmung

Ein wesentliches differentialdiagnostisches Moment in der Dyskalkuliediagnostik stellt die richtige

Interpretation von Ergebnissen in Zahlenstrahlaufgaben dar. Ein defizitäres Abschneiden in entspre-

chenden Untertests kann auf mindestens13 zwei Ursachen zurückgeführt werden: a) eine Beeinträch-

tigung in den AMR sowie b) eine Beeinträchtigung in der räumlich-perzeptiven Wahrnehmung (s.

hierzu Tischler & Tischler, 2015ab). Das Unvermögen, die Position der gesuchten Zahl auf dem

Zahlenstrahl angemessen anzugeben resultiert im zweiten Falle b) nicht aus defizitären AMR, son-

dern misslingt, da die Abstände und Positionen auf dem Zahlenstrahl nicht korrekt erfasst werden

können (vgl. etwa Subtest Positionen unterscheiden der VOSP, Warrington & James, 1991). Es han-

delt sich hier gewissermaßen also nicht um ein Problem des Abrufs (Output), sondern um ein Pro-

blem des Inputs.

Wenn Aufgaben zur kontextbezogenen Mengenbewertung (s. Fußnote 12) gelingen, das Be-

11 Die zweite Auflage von 2014 enthält keine neue Normierung. Es finden weiterhin die Normen der ersten Auflagevon 2005 Anwendung.

12 „Kinder mit Rechenstörungen zeigen häufiger Probleme bei der Bestimmung der relativen Größe einer Anzahl vonObjekten. Im Gegensatz zum Subtest Mengenschätzen, der die Erfassungsfähigkeit der absoluten Menge einer Zahlüberprüft, wird beim Subtest Kontexbezogene Mengenbewertung der relative Wert einer Anzahl von Objekten er-fragt. Das absolute Mengenwissen soll also in Alltagssituationen transferiert werden. Im Dehaene Model (1992)wird dafür die Analoge Repräsentation von Größen benötigt um einen Vergleich von Größen vorzunehmen (etwa 20Bauklötze in einer Kiste). Diese Aufgabe setzt auch ein gewisses Alltagswissen voraus. Etwa die gewöhnliche Grö-ße von einer Kiste oder von Bauklötzen“ (Jacobs, 2005, S. 78).

13 Vgl. hierzu die diagnostischen Leitlinien der DGKJP (DGKJP et al., 2015) zur Legastheniediagnostik zum Ausschluss einer okulären Lesestörung (etwa Visusprobleme, beeinträchtigte Okulomotorik etc.)

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stimmen von Positionen auf dem Zahlenstrahl hingegen nicht, sollte differentialdiagnostisch eine

Abklärung der visuellen Perzeptionsleistung erfolgen (s. a. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftli-

chen Medizinischen Fachgesellschaften, 2009, S. 3f, räumlich-perzeptive Störungen ).

Dipl.-Psych. Dr. Lars Tischler ist Lehrbeauftragter für Diagnostik in der Pädagogischen Psycholo-gie, Interventionen in der Pädagogischen Psychologie und Allgemeine Psychologie an der MedicalSchool Hamburg. Er ist Heilpraktiker Psychotherapie und doziert am VIGESCO-Institut fürpsychologisch-pädagogische Bildung und Entwicklung und ist wissenschaftlicher Beirat im Fach-verband für ganzheitliche Entwicklung und ganzheitliche Therapie e. V., 4Kids2GET.

Korrespondenzadresse:

Lars Tischler

Medical School Hamburg

Am Kaiserkai 1

20457 Hamburg

[email protected]

[email protected]

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