Hyle (Studien zum aristotelischen Materie-Begriff) || 8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips und...

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784 8. Die Hyle als Seinsprinzip Begriff zu ziehen, aber das Axiom darf auch nicht unterschätzt wer- den, denn es gewinnt in der zum Teil kosmologisch verengten Onto- logie des Aristoteles größere Bedeutung als bei Platon, zumal auch die (keineswegs unwichtige) des Aristoteles doch hinter den unkörperlichen Erscheinungsformen des platonischen zweiten Prin- zips in den Schatten tritt. Deshalb darf man für Aristoteles konsta- tieren : Der Lehrsatz von der Beschränkung der Hyle auf den einen, scharf abgegrenzten Kosmos engt zusammen mit der konstanten .Proportion' der Elemente — die im Hyle-Begriff enthaltene .Mög- lichkeit' des Werdens so ein, daß die unkörperliche prima materia fast entbehrlich scheint, eben weil sie nur in (quantitativ und qualitativ) völlig stereotyper Ausprägung vorkommt. Natürlich kann Aristoteles nach wie vor nicht auf sie verzichten, da er ja den kykuschen Wechsel der Elemente ineinander beibehalten und erklären will. Aber darüber hinaus erklärt und vermag die prima materia nicht viel, und wir stehen bei den eben besprochenen Gedankengängen dicht vor einem soliden .Stoff-Begriff oder auch einem ,Masse'-Begriff, denn man könnte das Axiom fast auch so ausdrücken: ,Die Masse (= quantitas materiae) unseres Kosmos bleibt konstant' 529 . Wieder einmal zeigt sich, wie die zeitgebundene Enge der aristotelischen Kosmologie und Naturphilo- sophie manche Zentralbegriffe von Aristoteles' Metaphysik in einer Weise beeinflußte, die seinen Intentionen zuwiderlief; denn sein Materie-Begriff ist qualitativ-eidetisch gemeint und behält auch trotz einiger .quantitativer' Aspekte (s. o.) bei Aristoteles diesen Charakter. Aber eine gewisse Zwiespältigkeit bleibt, die dann in der Folgezeit etwa bei der Stoa — zum Austrag kam 630 . 8.2j als ,Relaiionsbegriff' 631 Man bezeichnet die aristotelische Hyle gern als .Relationsbe- griff' 532 , und es lohnt sich, diesem Terminus nachzusinnen, weil sich und Aristoteles ist außerphilosophischer, religiöser Herkunft und liegt darum aller logischen Beweisbarkeit vorauf. Es wäre zu prüfen, wieweit die Lehre von unendlich vielen Welten bei Demokrit und Epikur mit der Andersartigkeit religiöser Anschauungen im Zusammenhang steht. 629 Das über die Antike handelnde Kapitel bei Jammer, Masse (S. 5—37) ist ganz un- zureichend. 580 Auch der Platonismus ist nicht ganz unschuldig an der späteren Quantifizierung der Materie, vgl. o. 2.33 S. 236ff und u. S. 812 A. 16. 631 Beste Zusammenstellungen der Belege auch heute noch Bonitz s. v. y86b i bis 7873 26 und Zeller II 2 4 323—327, die im Folgenden stillschweigend vorausgesetzt werden. 632 Diese Redeweise ist so verbreitet, daß sich Belege dafür erübrigen. Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/2/13 9:47 AM

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784 8. Die Hyle als Seinsprinzip

Begriff zu ziehen, aber das Axiom darf auch nicht unterschätzt wer-den, denn es gewinnt in der zum Teil kosmologisch verengten Onto-logie des Aristoteles größere Bedeutung als bei Platon, zumal auchdie (keineswegs unwichtige) des Aristoteles doch hinter denunkörperlichen Erscheinungsformen des platonischen zweiten Prin-zips in den Schatten tritt. Deshalb darf man für Aristoteles konsta-tieren :

Der Lehrsatz von der Beschränkung der Hyle auf den einen,scharf abgegrenzten Kosmos engt — zusammen mit der konstanten.Proportion' der Elemente — die im Hyle-Begriff enthaltene .Mög-lichkeit' des Werdens so ein, daß die unkörperliche prima materia fastentbehrlich scheint, eben weil sie nur in (quantitativ und qualitativ)völlig stereotyper Ausprägung vorkommt. Natürlich kann Aristotelesnach wie vor nicht auf sie verzichten, da er ja den kykuschen Wechselder Elemente ineinander beibehalten und erklären will. Aber darüberhinaus erklärt und vermag die prima materia nicht viel, und wir stehenbei den eben besprochenen Gedankengängen dicht vor einem soliden.Stoff-Begriff oder auch einem ,Masse'-Begriff, denn man könnte dasAxiom fast auch so ausdrücken: ,Die Masse (= quantitas materiae)unseres Kosmos bleibt konstant'529. Wieder einmal zeigt sich, wie diezeitgebundene Enge der aristotelischen Kosmologie und Naturphilo-sophie manche Zentralbegriffe von Aristoteles' Metaphysik in einerWeise beeinflußte, die seinen Intentionen zuwiderlief; denn seinMaterie-Begriff ist qualitativ-eidetisch gemeint und behält auch trotzeiniger .quantitativer' Aspekte (s. o.) bei Aristoteles diesen Charakter.Aber eine gewisse Zwiespältigkeit bleibt, die dann in der Folgezeit —etwa bei der Stoa — zum Austrag kam630.

8.2j als ,Relaiionsbegriff'631

Man bezeichnet die aristotelische Hyle gern als .Relationsbe-griff'532, und es lohnt sich, diesem Terminus nachzusinnen, weil sich

und Aristoteles ist außerphilosophischer, religiöser Herkunft und liegt darumaller logischen Beweisbarkeit vorauf. Es wäre zu prüfen, wieweit die Lehre vonunendlich vielen Welten bei Demokrit und Epikur mit der Andersartigkeitreligiöser Anschauungen im Zusammenhang steht.

629 Das über die Antike handelnde Kapitel bei Jammer, Masse (S. 5—37) ist ganz un-zureichend.

580 Auch der Platonismus ist nicht ganz unschuldig an der späteren Quantifizierung derMaterie, vgl. o. 2.33 S. 236ff und u. S. 812 A. 16.

631 Beste Zusammenstellungen der Belege auch heute noch Bonitz s. v. y86b i bis7873 26 und Zeller II 24 323—327, die im Folgenden stillschweigend vorausgesetztwerden. 632 Diese Redeweise ist so verbreitet, daß sich Belege dafür erübrigen.

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8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 785

an ihm in nuce die gesamte Problematik der aristotelischen Hyle wieder-holt. Um nichts zu präjudizieren, vermeiden wir jede voreilige Fest-legung des Terminus .Relationsbegriff' und warten das Ergebnis derfolgenden Einzelbetrachtungen ab. Auch die Einteilung und Reihen-folge der Beispiele in 8.271 und #.272 schließen keinerlei Vorentschei-dung ein (etwa über die systematische oder historische Entwicklung desRelationsbegriffes bei Aristoteles), sondern sind nach praktischenGesichtspunkten vorgenommen worden: Es handelt sich um eine reineMaterialsammlung, die jeder Leser nach Gutdünken umarrangierenkann533. Erst in den darauf folgenden Abschnitten 8.273 ff wird danneine Wertung des Materials versucht.

8.271 als Strukturbegriff der aristotelischen SeinsstufungAristoteles denkt sich wie die Akademie534 das Sein als hierarchi-

sche Stufenfolge. Obwohl er hierbei im ganzen und im einzelnen vielvon der Akademie übernimmt535, gestaltet er das Überkommene zuetwas ganz Eigenem um. Diese aristotelische Konzeption von Seins-stufung wollen wir unter Verweis auf früher Gesagtes536 stichwortartigresümieren und zugleich die Rolle der Hyle in der Semsschichtungcharakterisieren, tritt in der aristotelischen Seinsstufung auf zweiArten in Erscheinung:

erstens in jeder einzelnen Schicht als Gegenüber der Form (gleich-sam »horizontal');

zweitens dient sie zur Bezeichnung des Verhältnisses zwischen denStufen (.vertikal').Natürlich überschneiden sich beide Gesichtspunkte ständig, weil Hyleauch als .Gegenüber' der Form immer zugleich auch das .Substrat'der Form ist; aber es hat doch einen gewissen praktischen Wert,sie auseinanderzuhalten, und die ,Relationalität' von Hyle für beideFälle getrennt zu prüfen.

633 Z. B. kann man sich schon darüber streiten, ob die Dichotomic .innerhalb der Seins-stufung' — .außerhalb der Seinsstufung' sinnvoll ist, zumal dann die beiden Ru-briken Heterogenes unter sich begreifen, aber ich bin trotz mancher Bedenken dabeigeblieben, weil jede andere Einteilung mindestens ebenso problematisch ist.

534 Zu den Seinsstufungen der Akademiker vgl. o. 2, zusammenfassend 2.243 b (Sche-mata) und 2.51.

535 Ygj_ dazu Ot 2.52. Einige Bemerkungen darüber auch in Kosmologie und Metaphysik180.

säe Vgl. o. bes. 2.52, 4.212—214 und Sach-Index s. v. Stufung; s. ferner Kosmolo-gie und Metaphysik passim (Dreistufung der Substanzen), Scala naturae passim(Stufung im .toten' Elementarbereich, Seelenschichtung, Scala der belebten Natur).Dor Einzelheiten und Belege; im Folgenden tragen wir nur wenige Belege nach,die an den genannten Stellen noch nicht angeführt sind. Wichtig z. B. Bonitz s. v.

3iob i6ff.50 Happ.Hyle

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786 8. Die Hyle als Seinsprinzip

Wir beginnen mit der letztgenannten Fragestellung (Hyle .verti-kal') und fassen von den Teilbereichen der aristotelischen Seinsstufung,die man am besten gesondert betrachtet,

a) zuerst den stofflichen Elementar-Bereich ins Auge. Er enthältfolgende Stufen: prima materia (bzw. Grundkräfte) — Elemente —Homoiomere — Anhomoiomere — Gesamtkörper — Seele. Aristotelessieht hierin eine Schichtenfolge von Überformungen, indem die jeweilshöhere Stufe ,Form' der ihr nachgeordneten Schichten und umgekehrtdie niedere Schicht »Materie' ( ) der nächsthöheren ist. Die obereStufe ist nicht nur ontologisch, sondern auch axiologisch der niederenvorgeordnet; zudem stellt sie das , ( ) dar, das von der niede-ren Stufe erstrebt wird. Jede Stufe (außer der ersten und letzten) istalso, je nachdem von wo aus man sie betrachtet, .Materie' oder ,Form'bzw. beides zugleich. Die Relation ,Materie'—,Form' ist mithin —wie schon betont — nicht fest fixiert, sondern wiederholt sich vonStufenpaar zu Stufenpaar, schematisch dargestellt:

- > · Seele F6Gesamtkörper F4 = M5Anhomoiomere F3 = M4Homoiomere F2 = M3Elemente Fj = Maprima materia (Grundkräfte) Mj

An dem Schema des Elementar-Bereiches sieht man deutlich die,Relationalität' der Hyle537, aber auch, daß die Relationalität nichtbeliebig weitergeht: Es gibt eine Stufe, die Materie, aber nicht Form ist,und eine, die Form, aber nicht Materie ist. Dieser Befund wird sichauch bei der aristotelischen Seinsstufung im Ganzen ergeben.

Auch dieser aristotelische Gedanke einer Schichtenfolge von Über-formungen geht auf platonisch-akademische Anregungen zurück638.Dem wollen wir jedoch jetzt und im Folgenden nicht nachgehen (zumales für die Erklärung der aristotelischen Lehre als solcher nicht vielerbringt), sondern uns immanent auf Aristoteles beschränken unddabei alle Details vermeiden. Nur ein Punkt verdient einen Hinweis:

537 Dieser Terminus ist so durchsichtig, daß man ihn unbedenklich verwenden kann,obwohl er von N. Hartmann im Rahmen seiner bekannt einseitigen Modell-Lehregeprägt wurde und dadurch selbst vorbelastet ist.

638 Zu denken ist an die Lehre der akademischen sog. .Elementen-Metaphysik', daß inder als .Reihe' betrachteten Seinsstufung die vorgeordnete Schicht jeweils Formder nachgeordneten ist; diese Lehre wurde offenbar vor allem an der Dimensionen-folge abgelesen, wo ja eine regelrechte mathematische Reihe vorliegt, die vorher-gehende Dimension (als .Element') ,in' die nachfolgende eingeht und zugleich dienächste Dimension formgebend .begrenzt' ( ?). Näheres dazu o. 2.244^ zur

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8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 787

Von den genannten Stufen des Elementar-Bereiches kommen nur zweials selbst ndige Substanzen vor, die beseelten Gesamtlebewesen (obersteStufe bzw. die beiden obersten Stufen) und die anorganischen Homoio-mere. Hiervon erscheinen erstere nicht als Hyle einer h heren Form539,wohl aber letztere. So darf man sagen, da die anorganischen Homoio-mere, weil sie auch als selbst ndige ούσίαι auftreten (k nnen), in ande-rer Weise Hyle sind als die brigen Stufen, die f r sich keine Subsistenzim Sinne der aristotelischen ουσία haben640: Sie sind ενεργεία οντά,die durch berformung in den Verband des Lebewesens aufgenommenwerden und dadurch zur Hyle, also einem δυνάμει δν, werden; sobalddas Lebewesen vergeht, machen die anorganischen Homoiomere sichwieder selbst ndig (d.h. sie werden zu ούσίαι = ενεργεία όντα). Dieanderen Stufen (z. B. organische Homoiomere, Anhomoiomere) exi-stieren nur im Rahmen der gr eren Gesamtheit und vergehen auchwieder zugleich mit diesem Gesamt (vgl. u.).

b) 'An die Elementar-Stufen schlie en sich an die Stufung derSeelenteile (Vegetativ-, Sinnen-, Geist-Seele) und die Reihe der Lebe-wesen von den Pflanzen bis zum Menschen (Scala naturae)5*1. BeideReihen bilden zwar — wie die Elementarstufen — eine Rangfolge demWert nach, zeigen aber — anders als diese — kaum Ans tze zu einerdurchgehenden Teleologie und werden nicht durch den ZwiebegriffΟλη (δύναμις) — εϊδο$ (ενέργεια) charakterisiert642: Deshalb lassenwir sie hier au er Betracht. Wohl aber wendet Aristoteles die RelationHyle — Eidos auf die Schichtung der vier Elemente im sublunarenKosmos an und auf die Stufung der thersph ren im Raum ber demMond643. Da es sich in beiden F llen um das Verh ltnis selbst ndigerSubstanzen zueinander handelt, die nicht (wie die anorganischen Ho-moiomere) ihr ουσία-Sein in einem gr eren Ganzen aufgeben, sondernselbst ndig bleiben, scheint es sich um einen ,weiteren, formaleren'Gebrauch der Relation zu handeln, der auf folgenden Gedanken be-ruht: a) »Begrenzendes* = Form, .Begrenztes' = Materie, eine ausvor-philosophischen Popul r-Anschauungen stammende Vorstellung,die noch durch die -nipas-Lehre der platonischen Metaphysik philo-

Fortwirkung dieser Gedanken in den .reihenhaften' Stufungen des Aristoteles aus-f hrlich o. 4.212—215, was wir hier nicht wiederholen.

S8e Vgl. u. b).640 Auch diese Feststellung m te noch weiter differenziert werden, weil die Seins-

weisen z. B. der Anhomoiomere und der prima maleria nat rlich nicht dieselbensind, aber darauf brauchen wir hier nicht einzugehen.

641 Hier ber Scala naturae 3—6. Auf die bergreifenden Ordnungsstrukturen, in denender Mensch steht, kann hier nicht eingegangen werden.

542 vgi Scala naturae 230f. 239—243.543 N heres o. 4.2140 4 (Elemente), 4.214b ( ther), 5.431 ( ther und Elemente).

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788 8. Die Hyle als Seinsprinzip

sophisch untermauert wird544, β) Je h her im Kosmos' = , desto wert-voller', eine Verbindung von Wertgedanken und Raumbildern645.

Schlie lich scheint Aristoteles auch noch das Verh ltnis subluna-rer Bezirk : ther, auch wenn er nicht direkt die Ausdr cke Ολη undείδος gebraucht, doch als eine Art Materie-Form-Relation verstandenzu haben : Denn die Sterne sind Telos f r den Bereich unter dem Mond,wie dann — in Wiederholung der Beziehung — die unbewegten Be-weger Telos f r die Gestirne sind646. Nimmt man nun das oben berdie Schichtung der Elemente und thersph ren Gesagte sowie die engeVerbundenheit von Telos und Eidos bei Aristoteles hinzu, dann liegtdie Materie-Form-Relation ganz nahe547.

Wir gehen nun zu der zweiten Erscheinungsform von Hyle in derSeinsstufung ber648: Hyle innerhalb der einzelnen Seinsstufen. Eskommen dabei nur die zwei Seinsschichten des Sublunaren und Supra-lunaren in Frage:

c) Im Bereich unter dem Mond kann man wiederum Hyle unterzwei Aspekten betrachten: Man kann a) erstens von der Ολη einerindividuellen ουσία (wobei die ουσία etwas Unbelebtes oder etwasLebendiges — Mensch, Tier, Pflanze — ist) oder etwas abstrakter vonder Ολη einer bestimmten Art (z. B. des Menschen im allgemeinen)549

sprechen. Damit kn pfen wir an die oben a) vorgef hrte Seinsstufungan, gehen aber dann doch dar ber hinaus, indem wir speziell die Be-ziehung zwischen der vorletzten Stufe (differenzierteste Materie =εσχάτη Ολη) und dem εΐδο$ betrachten550, ) Zweitens kann man den644 Vgl (Jazu 4.2140, 5.431 U. .546 Kosmologie und Metaphysik 174. 182, Scala naturae 233 A. 57. Dazu die Stellen, an

denen die Vollkommenheit der h heren Tiere und des Menschen, die ja nach demkosmischen .Oben' tendieren, damit begr ndet wird, da die Tiere, je vollkommenersie sind, desto weniger Erde (Trockenes) und desto mehr Fl ssigkeit (Wasser),Luft und .Feuer' enthalten: gen. an. B i, 732b3if τελεώτερα δε τα θερμότερατην φύσιν καΐ υγρότερα καΐ μη γεώδη. 733 a 3 ff · a nf ζωτικόν yap το Ογρόν,ττορρωτατω δε του εμψύχου το ξηρόν (und das Folgende). B 6, 745 b i s — 20(Mensch enth lt von allen Lebewesen am wenigsten Erde). Γι , 75ia 30 — 752a 8passim (Eierfarbe der V gel und Fische vom Warmen, Feuchten und , Erd-artigen' [γεώδες] aus erkl rt). Diese Betrachtungsweise ist in gen. an. oft be-merkt worden. Vgl. dazu o. S. 373 A. 312, S. 768 A. 442 (wo Belege und Hin-weise) .

64β vgi o> 5.422/423 und Kosmologie und Metaphysik 167 — 170.647 Ganz nahe kommt meteor. A 3, 34ob 14 — 19 το γαρ υπό την άνω ττεριφοράν

σώμα οίον ύλη τις οΟσα καΐ δυνάμει θερμή καΐ ψυχρά καΐ ξηρά καΐ υγρά κτλ. (s.auch die Stelle aus cael. B i, die o. 5.431 ausgewertet ist). Vgl. ferner o. 4.212/213

ber die Dreistuf ung der Substanzen und ihren .Reihen'-Charakter.548 Die beiden Arten, wie Ολη in der aristotelischen Seinsstufung auftritt, sind o. S. 785

genannt.649 Man denke an die ύλη αίσθητή ως καθόλου, wie sie o. 7.34/35 geschildert ist.650 Dabei m te vor allem die Individuation zur Sprache kommen, ber welche die

knappen Bemerkungen 8.246 a, 8.253 u. . zu vergleichen sind. Das Problem der

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8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 789

f r den sublunaren Bereich zentralen Begriff der .Ver nderung' (μετα-βολή) zum Ausgangspunkt nehmen und entsprechend den verschie-denen Arten der Ver nderung eine Reihe der Materien bilden: ύληγεννητή — Ολη άλλοιωτή — Ολη αύξητή, wobei jedes nachfolgendeGlied alle vorhergehenden impliziert551.

d) Im therbereich gibt es nur eine einzige homogene Art vonMaterie, eben ther als Ολη τοπική552, die mit je einem είδος zusammen-tritt zur ουσία einer bestimmten Sternsph re. Man kann nun der ebengenannten Reihe der Materien noch die Ολη τοπική anf gen und kommtso zu einer l ckenlosen Implikationsfolge: ύλη τοπική — Ολη γεννητήusw.

Nach diesem kurzen berblick ber das Auftreten von Ολη in deraristotelischen Seinsstufung bleibt zu fragen: Verbirgt sich hier hintereinem homonym verwendeten Wort Ολη eine unreduzierbare Pluralit tvon .Materien' oder berechtigt etwas dazu, all diese verschiedenen Ver-wendungsweisen von Ολη zu einer Einheit zusammenzufassen ? MehrereGr nde sprechen f r Letzteres:

a) Die verschiedenen Hyle-Arten des aristotelischen Kosmos vonder Ολη τοπική bis zur Ολη αύξητή f gen sich — wie wir soeben bereitssahen — notwendig zu einer Reihe zusammen, deren Glieder einestrikte Ordnung des .Fr her' und , Sp ter' bilden553. Schon dadurchist der Zusammenhang der Hyle-Arten gen gend garantiert. ImHinblick auf andere Reihen l ge es nahe, ber die Ολη τοπική hinausdie Reihe fortzusetzen und durch ein .erstes' Glied abzuschlie en,n mlich durch die Ολη αύτη καθ* αυτήν als oberstes Hyle-Prinzip564.

β) Die bei der .horizontalen' Betrachtungsweise sich ergebendenHyle-Eidos-Verh ltnisse des sublunaren Bereiches und diejenigen des

therbereiches lassen sich durch die Proportionsgleichung (αναλογία)miteinander verbinden, etwa so: .sublunare Hyle: sublunares Eidoswie ther-Materie: Sph ren-Eidos'. Rechtsgrund f r die Gleich-setzung ist der Umstand, da sich die Hyle zu ihrem jeweiligen Eidos

Individuation betrifft ja mehr die Lebewesen (und da am meisten die h heren Tiereund Menschen) als die anorganischen Homoiomere, weil deren εσχάτη Ολη aus denElementen besteht, ihr sISoj aus der .Mischungsformel' (λό/os τηί μίξεως). —Alle anderen Fragen, die mit der Stufe .Gesamtk rper' verbunden werden k nnen,bergehen wir hier; vgl. u. 8.272a ber die kategoriale Auff cherung des Hyle-

Eidos-Verh ltnisses .861 N heres o. 8.132; s. auch u. 8.272 a.ίδ2 N heres zum Wesen des thers o. 5.3. Die .Homogenit t* dieses merkw rdigen

Stoffes l t sich ja nur negativ beschreiben als Freisein von s mtlichen physikali-schen Eigenschaften au er Ausgedehntheit und Ortsbewegung.

458 Zur .Reihe' der ΰλαι vgl. o. 8.132 (s. auch o. 4.214 Schlu ).554 Zu dieser .Erg nzung' der Reihe vgl. o. 8.132; zur Stellung des ersten Gliedes in

solchen Reihen s. o. 4.213 (ferner 4.214/215).

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790 8. Die Hyle als Seinsprinzip

funktionell immer gleich verh lt: Sie ist ,der M glichkeit nach' (δυ-νάμει) das, was die Form ,der Wirklichkeit nach' ist (ενεργεία). Wirk nnen (und m ssen) also diese Proportionen s mtlich auf eine Ur-Proportion gr nden:,. . . wie Ολη αυτή καθ* αυτήν (= reine M glich-keit) :εΐδο$ αυτό καθ* αυτό ( = reine Wirklichkeit)'565.

γ) Von den .vertikalen' Anwendungsweisen der Hyle (Ολη =,nachgeordnete Seinsstufe') lassen sich die Stufen des Elementar-Bereiches als .Reihe' verstehen, bei welcher die »sp teren' Glieder alsmaterielle Bauteile in die sie berformenden vorgeordneten Schichteneingehen656. Auch hier kann man wieder den Zwiebegriff δύναμις/ενέργεια anzuwenden versuchen, aber es handelt sich um eine andereM glichkeit als beim Verh ltnis der hochdifferenzierten Individual-Materie (vorletzte Stufe des Elementar-Bereiches) zur Wesensform(= Seele, letzte Stufe des Elementarbereichs). Denn w hrend diesezwei letzten Stufen inhaltlich sich ,entsprechen'567, so da man sieeinfach als M glichsein (δύναμις) und Wirklichsein (ενέργεια) der-selben Substanz einander gegen berstellen kann, ist das bei den nach-folgenden Schichten nicht mehr der Fall: Die jeweils untere Schichtist materieller Bauteil der n chsth heren, aber nicht deren ultimamateria (d. h. deren ,inhaltsgleicher' δύναμις-Aspekt), und die n chst-h here Schicht erscheint zwar als ,Form', aber diese ,Form' existiertnicht als Wirklich-Seiendes, sondern ist weiter in einen noch gr erenZusammenhang hineingebunden und stellt diesem gr eren Ganzengegen ber ein δυνάμει v dar. Wir erhalten somit eine Stufung vonδυνάμει όντα, deren ενέργεια erst mit der Schicht der Homoiomere(bei anorganischen Stoffen) oder mit derjenigen der Seele (bei belebtenSubstanzen) erreicht wird. Ja au er diesen beiden Schichten der an-organischen Homoiomere und der Seele vermag keine der Stufen je-mals als solche ,in Wirklichkeit' (ενεργεία) zu existieren658: Es han-delt sich also bei den Elementen, organischen Homoiomere und An-homoiomere um δυνάμει οντά, die niemals in ενεργεία οντά ber-

566 Alles N here zu dieser Funktions-Analogie, die, wenn sie philosophisch sinnvollsein soll, sich auf ein oberstes Paar gr nden mu (also in eine regelrechte .Reihe'einm ndet), s. o. j.iaab/c, 7.8230, 8.12 (vgl. auch 4.211, 8.11).

δδβ Vgi_ o_ 4.2410 i. Zur Vorstellung vom .Baustein' als einem Charakteristikum vonΟλη s. Scala naturae 231.

667 Vgl. die Stellen, an denen εσχάτη Ολη und είδος als εν καΐ τούτον bezeichnet, alsoin bestimmter Hinsicht miteinander identifiziert werden (s, o. 1.152), und daspreti se, aber instruktive Beispiel vom .Leichnam' als einer vom είδος verlassenen,aber noch kurzfristig konservierten εσχάτη Ολη (6.222C). Vgl. auch o. 1.178.

658 Die wenigen u erungen des Aristoteles, da auch die Elemente ούσίαι seien,k nnen wir bergehen, weil Aristoteles sehr wohl wu te, da die Elemente .chemischrein' nicht konkret vorkommen und die konkret begegnenden .Elemente' in Wahr-heit anorganische Homoiomere sind. Vgl. dazu o. 6.12, 6.132.

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8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 791

gehen, und um .Formen', denen wesenhaft keine ενέργεια zukommt669.Nat rlich sind nicht nur die εσχάτη ύλη, sondern auch die nachfolgen-den (.Bauteil'-) Stufen auf die ουσία angelegt (δυνάμει), in welcher siezur .Wirklichkeit' und damit zur Erf llung kommen, aber Materie undδύναμη werden desto unspezifischer660, je weiter man von der ultimamateria zur prima materia hin geht. Die Abstufung von Ολη/δύναμη,welche Aristoteles explizit untersucht hat661, kann man schematischetwa so darstellen662 :

Seele F6 εϊδο$/έν.Gesamtk rper M5 = F4 ύλη/δύν.Anhomoiomere M4 = F3 Ολη/δύν.organ. Homoiomere M _ Ολη/δύν.

~~

keineενέργεια. M _ .

anorgan. Homoiomere 3 ~~ 2 Ολη/δύν. είδος/εν.

Elemente M2 = F2 Ολη/δύν. Ολη/δύν. Ί keineprima mat. (Grundkr fte) Mj Ολη/δύν. ύλη/δύν. j ενέργεια

Schwieriger ist jedoch die »vertikale' Verwendung von Ολη beider Schichtung der Elemente und der thersph ren zu erkl ren: Dennhier werden die jeweils nachgeordneten Stufen nicht in die vorgeord-neten »eingebaut' und sie erhalten auch nicht ihre .Wirklichkeit'(ενέργεια) erst von daher, sondern sind selbst schon Wirklich-Seiende.Gewi besitzen infolge der Reihen-Natur der beiden Schichtungen (bes.derjenigen der thersph ren) die jeweils .fr heren' Glieder einen be-sonderen Vorrang (des Wertes, des Telos und dgl.) vor den .sp teren'Gliedern und das erste Glied vor der gesamten Reihe663, und die r um-MB Von daher wird erst so richtig deutlich, wie sehr das M glich-sein der materiellen

Bestandteile der .wirklichen' ουσία und das M glich-sein der im .wirklichen' Art-Eidos enthaltenen Genera einander hneln; vgl. das spiegelsymmetrische Schemao. 8.22.

M0 Der bergang vom Spezifischen zum Allgemeinen verl uft nicht kontinuierlich:Bei der hochspezialisierten Materie des organischen Bereiches ist die Wahl-M glich-keit (δύναμι;) sehr eingeschr nkt, bei den anorganischen Homoiomere und denElementen verbreitert sie sich stark (sie k nnen viele Verbindungen eingehen), da-gegen verengt sie sich wieder bei der prima materia, die nur eines von vier Elementenwerden kann (oder eines von drei, da sie ja stets schon in einem Element .verbaut'ist). Vgl. o. 8.232.

cti Ygi_ zur stufung der Materien met. H 4, 1044 a 15 ff mit den Kommentaren, bes.Seh wegler; zur Schichtung der δύναμις erneut o. 8.232.

882 Ob man im Schema zwischen anorganischen und organischen Homoiomere einMaterie-Form-Verh ltnis ansetzen soll, ist fraglich: Aristoteles mu so etwas an-genommen haben (vgl. seine Ansicht ber die Nicht- Konkretheit der Elemente unddie Konkretheit der anorganischen Homoiomere), aber er hat es nicht ausgesprochen.Wir wollen demgem , auch um keine Diskrepanz zwischen diesem Schema unddem auf S. 786 zu schaffen, die beiden Arten von Homoiomere in dieser Hinsichtzusammennehmen.

BW Vgl. die Beschreibung dieser aristotelischen Reihen o. 4.213 (vgl. auch 4.214/215).

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792 8. Die Hyle als Seinsprinzip

liehe Anordnung der Stufen suggeriert — unter dem Einflu popul rerAnschauungen sowie platonischer Lehren — eine Materie-Form-Re-lation564, aber man kommt nicht um die Feststellung herum, da dasύλη-εϊδο$-Verh ltnis hier formaler und lockerer gefa t ist als bei derStufung des Elementar-Bereiches566. Diese Feststellung bildet einenpassenden bergang zu den Materie-Form-Relationen .au erhalb' deraristotelischen Seinsstufung, die uns das Problem der Relationalit tder Hyle noch deutlicher zeigen werden.

£.272 Andere νλη-εΐδος-Relationen566

Das Materie-Form-Verh ltnis tritt nicht nur in den eben genann-ten Zusammenh ngen, sondern auch in anderen auf. Wenn wir diesenunmehr beschreiben, soll nicht der Eindruck entstehen, als handelees sich um .sekund re' Erweiterungen oder bertragungen eines »ur-spr nglichen' Gebrauchs. Denn wie schon gesagt referieren wir jetztin £.272 ebenso wie vorher in 8.271 nur neutral den doxographischenBefund und kommen erst nachher 8.273 ff zu einem Urteil dar ber,ob bei der ύλη Erweiterungen und bertragungen stattgefunden habenoder nicht. Deshalb schlie en auch Einteilung und Reihenfolge des hierin 8.272 Gesagten kein Pr judiz ein und sind vertauschbar:

a) Im Bereich der Substanz erscheint die Hyle nicht nur alsIndividualmaterie (εσχάτη ύλη), sondern auch sonst in mannigfaltigerWeise: So ist, um mit der ersten Kategorie (ουσία) zu beginnen, Materiedes substantiellen Werdens beim Menschen und h heren Tieren dasMenstruationsblut (καταμήνια), bei den anderen Tieren das Ei usw.667,w hrend der m nnliche Same causa efficiens ist und zugleich auch die

6β4 Vgi 0 8.2yib; N heres 4.2140, c 4, 5.431. W hrend bei der therstufung mit eini-gen Einschr nkungen (z. B. ist die .Gegenbewegung' der Sonne unabdingbar not-wendig f r den sublunaren Kreislauf von Werden und Vergehen) doch eine Artvon teleologischem , Auf gehobensein' aller Sph ren in der ersten Sph re (sc. derFixsterne) nachzuweisen ist, geht dies bei den Elementen kaum an, weil deren Kreis-lauf — der eine R ckverwandlung der .h heren' in die .niederen' Elemente ein-schlie t — das Wesen des sublunaren Geschehens ausmacht und zugleich dieh chste Art von Vollkommenheit darstellt, welche dem Bereich unter dem Mondverg nnt ist.

6β5 Vgi auch o. 8.271 b.Me Der Titel ist absichtlich vage gehalten. Man h tte vielleicht auch von „Hyle

.au erhalb' der aristotelischen Seinsstufung" sprechen k nnen, aber das tr fe nurzum Teil zu.

567 Vgl. Bonitz 869 a 29ff (Ei). Bei den .larvenerzeugenden' Tieren (σκωληκοτόκα) istes die .Larve' (σκώληξ), die Aristoteles als ein unvollkommenes Ei betrachtet. Beiden Pflanzen war die Erde, die dem Samen Nahrung gibt, causa materialis, dennvom Befruchtungsvorgang bei Pflanzen wu te die Antike (trotz beachtlicher An-s tze bei Aristoteles und besonders bei Theophrast) nichts Sicheres; vgl. Λ 6, 1071 b29—31. gen. an. 733b 23ff. 738b 34—36. 762 b gff (mehr bei Bonitz 84oa 40—b 53).

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8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 793

causa formalis vertritt568; damit h ngt es zusammen, da Aristotelesberhaupt das weibliche Tier als Ολη bezeichnet669.

Aristoteles wendet die Materie-Form-Relation nicht nur auf dieSubstanz-Kategorie an (γένεσι$ — φθορά), sondern auch auf diejenigenAkzidens-Kategorien, bei denen .Ver nderung' (κίνησις, μεταβολή)stattfindet, n mlich auf ποιόν, ττοσόν, πού570. Es gibt also eine ,Ma-terie der Qualit tsver nderung571, eine ,Materie der Quantit ts-ver nderung'572 und eine ,Materie der Ortsver nderung' (Ολη τοττι-κή)573. Wir haben bereits gezeigt, wie sich diese drei akzidentellenμεταβολαί und die substantielle γένεσι$ und die vier entsprechendenύλαι zueinander verhalten und da sie eine reihenhafte Ordnungbilden674. Jetzt wollen wir noch zus tzlich darauf hinweisen, daBindeglied zwischen den drei (bzw. vier) Materien der .Substrat'-Begriff ist, also das triadische Werde-Schema des Aristoteles575:Substrat der γένεσις ist die entsprechende Ολη γεννητή (die καταμήνιαund dgl., s. o.), Substrat der akzidentellen Ver nderungen eine voll-bestimmte Substanz, die dann in bestimmter Hinsicht (z. B. κατ' αύξησιν)eine Ver nderung erf hrt. Nat rlich k nnen sich alle drei akzidentellenμεταβολαί an derselben Substanz ereignen (am selben Material-Objekt), sie meinen aber jeweils einen anderen Aspekt an der Substanz(d. h. ein anderes Formai-Objekt). Anders gewendet: Die (materiell)668 Belege bei Lesky 132—141. 150—159, Bartels 107—121. Vgl. auch die Bemerkungen

o. 8.2463. u. .649 Vgl. dazu o. 6, ferner die Bemerkung unten.670 cael. Δ 4, 312 a 12—15 φαμέν δε το μεν περιέχον του είδους είναι, το δε περιεχόμενον

της Ολης. εστί δ' εν ττσσι τοις γένεσιν αύτη ή διάστασις. κσΐ γαρ εν τω ποια) καΐεν τφ ττοσφ εστί το μεν ως είδος μάλλον, το δ* ως Ολη. gen. corr. Α ι, 3 r4D 26—28ή καΐ φανερόν ότι μίαν αεί τοις Ιναντίοις ύττοθετέον ύλην, αν τε μεταβάλλη κατάτόπον, αν τε κατ' αοξησιν καΐ φθίσιν, αν τε κατ' άλλοίωσιν. Α 4. 320a 2—5 ε°~πδε ή Ολη μάλιστα μεν κυρίως το ΰττοκείμενον γενέσεως καΐ φθοράς δεκτικόν, τρόιτονδε τίνα καΐ το ταϊς άλλαις μεταβολαϊς, ότι πάντα δεκτικά τα υποκείμενα έναντιώσεώντίνων (dazu Joachim no), met. H i, iO42a32—b8 (sehr wichtige Stelle berύλη als Substrat von φορά, αΰξησις und άλλοίωσις), wozu die Kommentare(Sehwegler, Bonitz, Ross).

571 Aristoteles hat keinen Terminus daf r, aber es spricht nichts dagegen, sie einfachύλη αλλοιώσεως zu nennen.

672 Aristoteles sagt einmal gen. corr. 321 a 7 μεγέθους ύλη (die ύλη του μεγέθους in derMathematik ist etwas anderes, o. 7.451 c), gebraucht aber m. W. nirgends einespezifischere Bezeichnung wie Ολη αυξήσεως oder dgl. ber ,Ολη αυξήσεως καΐτροφής* alles N here bei Joachim zu gen. corr. A 5. Hierher geh ren auch dieStellen, wo Aristoteles das Blut als .Materie' bzw. .Nahrung' des K rpers be-zeichnet (gen. an. 751 b i usw.; Bonitz i6b 6—14).

678 Die Benennungen dieser Art von Hyle sind o. 5.325 zusammengestellt.B?* Vgl. o. 8.132 (auch 8.2710). N heres zu den drei Arten von .Ver nderung' bei

Joachim no. 118—120 (dort weitere Verweise, wozu jeweils die Kommentare ein-zusehen sind).

S75 Das zeigt deutlich die oben angef hrte Stelle aus H i. bes. 1042a 33 το ύποκείμενον.Vgl. die Kommentare z. St., vor allem Bonitz.

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794 8. Die Hyle als Seinsprinzip

gleiche Substanz kann in verschiedenen Hinsichten Substrat f r Ver-nderungen κατά το ττού, ποιόν oder ττοσόν sein. Das Substrat ist nat r-

lich im Hinblick auf die neue Bestimmung, die es erhalten soll, einδυνάμει όν.

Die transkategoriale Geltung des Materie-Form-Verh ltnisses(bzw. der δύναμις-ένέργεια-ΚβΜΐοη)576 wird durch die schon fr herbesprochenen Stellen Λ 4/5 und Θ 6577 nochmals so deutlich best tigt,da man nicht mehr daran zweifeln kann. Um so verwunderlicher istes dann, da Aristoteles an einer Stelle (H 4, 1044 b8—20) auf akzi-dentelle Ver nderungen der Qualit t den Terminus Ολη anzuwendenablehnt und nur von ύττοκείμενον sprechen will. Offenbar denkt erhier — im Gegensatz zu seinen anderen u erungen — einseitig nuran die ,konkrete' Materie substantiellen Werdens und Vergehens078;d. h. er hat die auch aus der gen. corr.-Stelle (A 4) ersichtliche Tendenz,die Materie des substantiellen Werdens als die Materie ,im eigentlichenSinne' anzusehen, verabsolutiert.

b) Der Bereich der mathematischen/geometrischen Gegenst ndegeh rt in der Akademie zum .normalen' Seinsaufbau dazu. Aristotelesbernimmt dieses Lehrst ck von der Akademie und bel t den Mathe-

matika einen Platz in seiner Dreistufung des Seins, nimmt ihnen aberden ουσία-Rang und ersetzt sie damit de facto durch die substantiel-len thergestirne579. Die geometrischen Figuren versteht nun Aristo-teles als Synola von ,Form' und reiner Extensio, welch letztere er Οληνοητή nennt. Diese Hyle ist etwas r umlich Ausgedehntes, das vonder ,Form' begrenzt wird; Substrat-Gedanke und besonders derδuvαμι5-Begriff treten stark zur ck680.

Noch weniger mit der Seinsstufung hat eine zweite Art von Οληνοητή zu tun581: Aristoteles denkt sich das zum Art-Eidos geh rendegenus proximum (und wohl genauso auch die h heren genera) als einenim Eidos ,der M glichkeit nach' (δυνάμει) enthaltenen Bestandteil.

576 Zur Frage, ob ύλη und δύναμις umkehrbar identisch sind, vgl. die BemerkungS. 713 A. 161, alles Nachstehende und Sach-Index s. v. M glichkeit 2 a.

577 S. o. 8.12.678 Das Problem wird von den modernen Kommentatoren zu H 4 nicht scharf genug ge-

sehen: Nat rlich unterscheidet Aristoteles im Z (Ross zu 1029a 2. 1038b 5) undsonst a) das Substrat des substantiellen Werdens (= ύλη) und b) das Substratakzidenteller Ver nderung (= vollbestimmte ουσία), aber er setzt dann eben doch,wie die oben angef hrten Stellen zeigen, ύλη mit Substrat schlechthin gleich.

579 Ygj_ <jazu Kosmologie und Metaphysik 170—173.580 Mit diesem knappen Hinweis mu es hier sein Bewenden haben: Ausf hrlich ist

die ύλη νοητή der Mathematik behandelt o. 7.4; dort auch ber die δύναμις dermathematischen Gegenst nde.

581 Zur ύλη νοητή der Begriffe o. 7.71; zu den vergeblichen Versuchen, beide Arten vonύλη νοητή miteinander zu verkn pfen, s. o. 7.72.

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8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 795

Neben δύναμις spielt auch der Substrat-Begriff dabei noch eine Rolle682.Hier sei die Verwendung des Zwiebegriffs von Materie und Form

in der aristotelischen Seelenlehre angef gt. Zwar spricht Aristoteles,wie wir sahen, bei der Stufung der Seelenteile nicht von Ολη undείδος, wohl aber sagt er an. Γ 5 vom obersten Seelenteil, dem νους:Wie es in allen Gegenstandsbereichen ύλη = δυνάμει δν (~ πάσχειν,γίγνεσθαι) gebe, das durch die (Form- bzw.) Wirk-Ursache ( ̂ ττοιεΐν)zu einem ενεργεία δν gemacht werde583, so m sse es auch in der Geist-Seele einen ύλη-artigen und einen form-artigen νους geben584. Hierspielt der Substrat-Begriff gar keine Rolle, und alles ist auf denGegensatz von δυνάμει δ ν (πάσχει v) — ενεργεία δ ν (ποιεί ν) abgestellt.

c) Die brigen Verwendungsweisen von Ολη f gen wir in zwang-loser Folge an:

a) Die Aussage in an. 412 b2O, das Auge sei Materie der Sehkraft(ο δ* οφθαλμός ύλη όψεως), erkl rt sich aus dem Zusammenhang:Aristoteles vergleicht das Verh ltnis der Seele (= εντελέχεια) zu ihremK rper mit dem einer bestimmten Seelenfunktion (εντελέχεια; ζ. B.δρασις) zu ihrem betreffenden Organ (z. B. Auge). Wenn die Funktionausf llt, verliert auch das Organ sein Wesen und seine Existenz585.Welche Vorstellungen hier den Terminus Ολη hervorgerufen haben,ergibt sich aus dem Vergleich mit dem Verh ltnis , Gesamtk rper:Seele' von selbst; am wichtigsten davon d rfte der δύναμις-Begriffsein.

) In gen. an. E 7 spricht Aristoteles von der Stimme bzw. demLaut (φωνή) der Tiere und erw hnt dabei auch den Menschen, der alseinziges Lebewesen »Sprache' (λόγος) besitzt; „die Stimme (Laut)aber ist Materie der Sprache"586. Die Stimm u erung als solche, wiesie bei den Tieren vorkommt, entbehrt meist der Artikulation undgibt zwar etwas kund (δηλοϋν), hat aber keine .Bedeutung' (σημαίνειν,σημαντικόν)587. Insofern ist sie noch nicht .Sprache': Denn zur Sprache

682 Vgl. erneut o. 7.71. Die Vorstellungen von .Substrat' (das n her eingegrenzt wird)und vom .Teil' (der enthalten ist) schlie en nur scheinbar einander aus: Man denkean das k rperliche Substrat einer ουσία, das dann Teil eben dieser ουσία wird.

683 Aristoteles denkt offenbar an den sublunaren Bereich des Werdens und Vergehens,in welchem berall ύλη und είδος feststellbar sind (Hicks zu 430 a 10).

884 an. Γ 5, 43oa 10—17.585 Vgl. an. 412 b 10—413 a 3 mit den Kommentatoren, bes. Hicks 315—319, Theiler 108.688 786b 20—22 λόγω χρήσθαι μόνους των ζώων (sc. τους ανθρώπους), του δε λόγου

ΰλην είναι την φωνήν. Es empfiehlt sich, hier λόγος im weiteren Sinne mit .Spra-che' wiederzugeben, nicht wie in interpr. i6b 26ff mit .Satz'. — Die Stelle Z 12,!O38a5—8 (dazu Schwegler 4 , i i 2 f ) ist anders gemeint und geh rt nicht inunseren Zusammenhang.

887 interpr. i6a 28f δηλοϋσί γέ τι καΐ οί αγράμματοι ψόφοι, οίον θηρίων, ων ουδένεστίν όνομα (vgl. den Kontext, s. n chst. Anm.). ber den Unterschied zwischenTierlaut und menschlicher Sprache handeln auch hist. an. Δ g, 535 a 27—536b 23,bes. 536a32ff (vgl. 488a 31—b i), ferner part. an. 616/17, 659b 27—660b 5

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796 8. Die Hyle als Seinsprinzip

werden die Laut u erungen erst durch die Artikulation und vor allemdadurch, da sie etwas .bedeuten', d. h. Zeichen f r Bewu tseinsinhalte(των εν τη ψυχή παθημάτων σύμβολα) sind (welche wiederum die^inge', πράγματα, abbilden)588. Dieser Verweis auf die Bewu tseins-inhalte stellt die geistige, .ideelle' Seite an der Sprache dar, die Lautedagegen sind die Materie (ύλη) der Sprache589. Wenn auch der Ter-minus είδος hier nicht explizit genannt wird, kann man doch sagen,da bereits Aristoteles die Materie-Form-Relation auf die Spracheanwandte, was in Linguistik und Sprachphilosophie bis heute nach-wirkt590. Der Grund, warum Aristoteles hier den Terminus ϋληverwendet, liegt auf der Hand: Die Laute als Material werden vomEidos zu einem .sinnvollen' Gebilde strukturiert wie das Materialeines technischen Fertigungsprozesses oder einer nat rlichen γένεσις691.

γ) ΕΝ 1137 b wird die Diskrepanz zwischen der Allgemeinheiteines Gesetzes und der individuellen Natur jedes unter es fallendenEinzelfalles besprochen; diese Diskrepanz liegt in der Natur derSache, (big) ευθύς γαρ τοιαύτη ή των ιτρακτών ύλη εστίν. Gemeintsind mit ύλη offenbar die konkreten Gegebenheiten und Situationen,mit denen jeder Handelnde zu rechnen hat und mit denen auch derRichter zu rechnen hat, der vom allgemeinen Gesetz her die einzelne

und polit. A 2, 1253 a 9—18 {sachlich genau dasselbe, wenn auch die W rterσημαίνειν und δηλοϋν anders verwendet sind als in interpr.). Siehe au erdemProblem. X 38. 39. 40 (~ XI 55). XI 57, jeweils mit Flashars Komm,

es« Vgl. den gesamten Abschnitt interpr. i6a 3—I7a7, bes. l a a f f . a igff. a a6ff.i6b26ff. 33ff.

589 Man k nnte einwenden, hier in einer .biologischen' Schrift weise Aristoteles gewinicht auf die geistige Seite der Sprache (ihr σημαίνειν) hin; vielmehr meine er mitφωνή (= Sprach-.Materie') die unartikulierte Laut u erung, mit Xoyos die arti-kulierte. Das είδος best nde dann also nicht in etwas Geistigem, sondern in derphonetischen Artikulation. Gegen eine solche Deutung erheben sich aber schwereBedenken: a) Auch die Tiere k nnen schon Laute artikulieren, sofern sie physio-logisch dazu in der Lage sind (Lunge, freie Zunge, Lippen usw.). Trotzdem sind dievon ihnen erzeugten Laute und Lautkomplexe keine .W rter' (ονόματα; s. nochmalsinterpr. loaaSf), weil sie keine Bewu tseins-inhalte .bezeichnen' (σημαίνειν).Der Wesensunterschied zwischen Tier-,Sprache' und Menschen-,Sprache' liegt alsoallein in diesem σημαίνειν, nicht in der Artikuliertheit (der st rkere Grad vonArtikuliertheit beim Menschen kommt h chstens noch als zus tzliches Argumenthinzu), b) Ein kurzer Hinweis auf etwas .Geistiges' berrascht in den biologischenSchriften keineswegs (vgl. nur Scala naturae 238f mit A. 72. 79. 80) und schon garnicht in der sehr spekulativen Untersuchung gen. an. (wo sich u. a. ja die ber hmtenStellen ber den vo s und den Anteil der Natur am G ttlichen finden).

590 Man spricht auch heute noch von .Form' (form usw.), nennt aber den Gegenbegriffstatt .Materie' fter .Substanz' (substance usw.) — mit bezeichnender Umdeutungdes klassischen Wesens- und Substanzbegriffes.

691 ber die Unterschiede der Bereiche und die Berechtigung, sie durch ein .wie' analogzusammenzusehen, s. u. 8.273.

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8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 797

Handlung pr fen m chte; also: „denn so vielgestaltig ist eben das Ge-biet des sittlichen Handelns"692.

Wir schlie en hier an polit. H 4, 1325 b4o — 1326 a5: „Wie auchden anderen Handwerkern, z. B. dem Weber oder Schiffbauer, das f rdie Herstellung des Objekts geeignete Material zur Hand sein mu(und je besser das Material vorbereitet ist, desto hervorragender istdas Ergebnis des Fertigungsprozesses), so mu auch dem Staatsmannund Gesetzgeber das spezifische, passende Material zur Verf gungstehen"593. Es geht um die Planung eines Ideal-Staates, und der Planerbraucht das richtige Material (Bev lkerung, Territorium, Verkehrs-m glichkeiten usw.), um daraus den idealen Staat bauen zu k nnen;wie ύλη gemeint ist, ergibt sich aus dem Techne- Vergleich. Es bestehtalso eine hnlichkeit mit der Stelle aus den EN, weil beide Male ein,Stoff (= Untersuchungsgegenstand) einer Geiststruktur (~ είδος)gegen bersteht und durch sie gepr gt werden soll. Der Unterschiedliegt darin, da dort nicht unter idealen Bedingungen ein Gesetz zuformulieren ist, sondern ein , allgemeines' Gesetz auf die Mannigfaltig-keit des Konkreten angewendet werden soll.

δ) Zum Schlu die Belege f r Ολη = .Gegenstand einer Wissen-schaft, Thema einer Untersuchung': EN 1094 buf594. 1098 a28596.1104 a359e. met. K 4, 1061 b22597. Auch hier kommt man mit derblichen Vorstellung vom , Stoff aus, der durch einen Akt der Form-

592 Vgi u g dieStellen f r ύλη = .Gegenstand einer Untersuchung' und dgl. Vielleicht hatDirlmeier etwas hnliches gemeint, wenn er bersetzt: „denn so ist nun einmal dieF lle dessen, was das Leben bringt". — Der entsprechende Gegenbegriff zu ή τωνττρακτών ύλη d rfte το των ττρακτών τέλος (ζ. Β. ΕΝ Α ι, 1094 a 1 8. mot. an. 6,yoob 25. 27) sein.

693 ώσπερ yap καΐ τοις άλλοις δημιουργοΐς, οίον υφαντή καΐ ναυπηγφ, δεί την Οληνύττάρχειν έπντηδείαν οοσαν προς την έργασίαν (όσω yap αν αυτή τυγ·χάνη τταρ-εσκευασμένη βέλτιον, ανάγκη καΐ το γιγνόμενον υπό της τέχνης είναι κάλλιον),ούτω καΐ τω πολιτικφ καΐ τω νομοθέτη δει την οίκείαν ύλην ύττάρχειν ίττιτη-δείως έχουσα ν.

594 λέγοιτο δ' αν Ικανώς, εΐ κατά την υποκείμενη ν ΰλην διασαφηθείη. „Die Darlegungwird dann befriedigen, wenn sie jenen Klarheitsgrad erreicht, den der gegebeneStoff gestattet" (Dirlmeier).

595 την άκρίβειαν μη ομοίως iv άττασιν έπιζητεΐν (χρή), αλλ' εν έκάστοις κατά τηνύττοκειμένην ύλην καΐ επί τοσούτον εφ* όσον οίκεΐον τη μεθόδω. „Doch wollen wir. . . Genauigkeit nicht in gleicher Weise bei allen Gegenst nden erstreben, sondernin jedem Fall nur so, wie der gegebene Stoff es gestattet und bis an die Grenzehin, die dem Gang der wissenschaftlichen Untersuchung gem ist" (Dirlmeier) .

599 ττας δ περί των πρακτών λόγος τύπω καΐ ουκ ακριβώς οφείλει λέγεσθαι, ώσπερ καΐκατ' αρχάς είπομεν ότι κατά την ΰλην οΐ λόγοι άτταιτητέοι. „Von einer Unter-suchung ber ethische Fragen darf nur umri hafte Gedankenf hrung, nicht aberwissenschaftliche Strenge gefordert werden. Wir haben ja schon eingangs aus-gesprochen, da die Form der Untersuchung, die wir verlangen d rfen, demErkenntnisgegenstand entsprechen mu " (Dirlmeier).

597 io6ib 2i f ή μαθηματική δ* άπολαβοϋσα περί τι μέρος της οίκείας ύλης ποιείταιτην θεωρίαν.

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798 8. Die Hyle als Seinsprinzip

gebung (= wissenschaftlichen Untersuchung) geistig durchdrungenwird (vgl. wiederum die Techne-Beispiele). Die Frage liegt nahe, obnicht — wie bei der Mathematik — schon der Stoff der betreffendenWissenschaft ein Abstrakt-Gegen.sta.nd (also ein νοητόν) ist, aber dar-auf geht Aristoteles in der EN und in met. K 4 nicht ein.

Damit beenden wir unseren berblick ber das Material598.

8.273 ϋλη als Relationsbegriff und Seinsprinzip

Was wir aus den Beispielen der vorhergehenden beiden Abschnitteschlie en k nnen, sagt Aristoteles mehrfach ausdr cklich: Hyle istnichts inhaltlich Fixiertes, sondern Glied einer Relation699, die — f genwir hinzu — anscheinend beliebig oft .wiederholt' und , bertragen' wer-den kann. Diesem Befund gegen ber sind verschiedene Deutungenm glich:

a) Man kann auf Grund der Wiederholbarkeit und bertragbar-keit die Relation formalisieren und Materie somit als Variable einerFunktion verstehen, etwa so: ,Materie' verh lt sich zu ,Form' wie das,Woraus' (εξ o ) zum ,Wozu' (είζ o) oder dgl. Wie man sieht, kannman die Formalisierung in aristotelischen Termini (εξ oft) vollziehen,und an sich ist gegen ein solches Vorgehen noch nicht viel einzuwen-den. Bedenklich wird es aber, wenn man den Hyle-Begriff ganz zueinem Leer-Schema (bzw. einer Leer-Steile) verblassen l t, und voll-ends falsch, wenn man ihm dann jeden »objektiven' Seinsbezug be-streitet und ihn als rein subjektiven Hilfsbegriff der Forschung deutet(W. Wieland). Diese Deutung der aristotelischen άρχαί krankt u. a.daran600, da sie von der unrichtigen Alternative ,Ding' — »subjekti-ver Begriff ausgeht und dann folglich, da sie — zu Recht — eine,dinghafte' Interpretation der aristotelischen άρχαί ablehnt, sie alssubjektive Topoi der Forschung erkl ren mu . Die aristotelischenάρχαί sind aber keines von beidem, sondern S eins-Prinzipien, dienicht den Seinsmodus von Dingen besitzen und doch objektive Seins-

t98 ber die Frage, ob Aristoteles im Syllogismus die Pr missen als ύλη der Conclusioaufgefa t hat, vgl. Mansion 290 A. 35. Ross zu An. post. B n, Metaphysics I I26f,Physics 5iif. Die Stellen β 3, iQ5a i8f (εξ o ) und Δ 2, ioi3b 2of (|ξ o ) kommendem so nahe, da man die Frage bejahen sollte. Bindeglied zwischen dieser und denanderen Anwendungen des Begriffes ύλη w re dann die stark verallgemeinerte For-mel vom το εξ o (.Ausgangspunkt, Basis' usw.); auch den δύναμις-Begriff k nnteman hilfsweise heranziehen.

699 Ich wiederhole die wichtigsten Belege: phys. β 2, 194b 9 των προς τι ή ύλη·άλλω γαρ είδει άλλη Ολη (dazu Wagner, Komm. 45?f)· met· H 2· 1043 a 12f ήενέργεια άλλη άλλης ύλης καΐ 6 λόγος. Dazu die o. 8.272 a, b Ende genanntenStellen aus an. Γ 5 und met. Λ 4/5 usw.

800 Wir m ssen uns hier auf Stichworte beschr nken: N heres o. 1.18, 3.13; vgl. auchdie dort zitierten Einw nde Tugendhats und Wagners.

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Page 16: Hyle (Studien zum aristotelischen Materie-Begriff) || 8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips und seiner Manifestationen. 8.27 ὕλη als ,Relationsbegriff‘

8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 799

Strukturen darstellen, also dem erkennenden Subjekt vorgegebensind.

Damit mu man zugleich auch die modernen Vorstellungen von.inhaltlich' und »formal' revidieren, bevor man sie auf Aristotelesanwendet: Nat rlich ist ,υλη' .formaler' als ein St ck Holz, das derδημιουργός bearbeitet, und ,έξ ου' ist ,formaler' als ,Ολη'; und es ist,wie bereits gesagt, nicht unrichtig, angesichts der Ολη/είδος (δύναμι$/ενέργεια)-Relationen von ,Funktion', ,Funktionalbegriff' usw. zusprechen und Darstellungsweisen .formaler' Natur anzuwenden601.Nur darf man nicht »formal' mit ,rein subjektiv' oder ,seinsentleert'gleichsetzen. Zwar kann man das Hyle-Prinzip je nach dem Problem-zusammenhang .individueller' oder .allgemeiner' fassen, man bewegtsich dabei aber innerhalb des .objektiv gegebenen' Seins, d. h. erkenntstets Seins-Strukturen. Anders ausgedr ckt: F r Aristoteles ist dieErkenntnis auch des formalsten Prinzips eine .Abstraktion' im antikenSinne, d. h. eine Intuition (νόησι$) von etwas Bewu tseinsunabh ngi-gm602. Das unserer Erkenntnis so vorgegebene Seinsprinzip ,Hyle'tritt bald mehr, bald weniger .abstrakt' auf, aber durch die h hereAbstraktheit wird es nicht rmer an Sein, nicht zu einem leeren Be-griff. Vielmehr zeigt sich — in der gesamten antiken Philosophie —bei jeder Reduktion auf ein Seinsprinzip (d. h. die reine Form oderdie reine Hyle) das eigent mliche Paradoxon, da mit fortschreitenderAnalyse die αρχή f r das begrifflich-diskursive Denken immer bestim-mungs- und inhalts rmer wird und doch ontologisch die gesamte F lledes Seins in sich schlie t: Das .Abstrakteste' ist also zugleich auchdas »Konkreteste'603.

Die eben angedeutete Reduktion auf die reine Hyle besagt fol-gendes: Die Hyle-Form-Relationen stehen nicht gleichwertig neben-einander, sondern bilden im gro en und ganzen eine Rangfolge. Sieverweisen also auch nicht zu ihrer Begr ndung stets auf eine andereHyle-Form-Relation und so fort ins Unendliche (infiniter Regre ),sondern gr nden letztlich alle in einer Ur-Relation ,Hyle an sich (reineHyle)': ,reine Form'. Das Kriterium, das uns die Berechtigung gibt,diese Relationen miteinander zu verbinden, liegt im Funktions-Begriff:Alles, was dieselbe Funktion hat (δυνάμει δ v, Substrat, .Material';im Gegensatz dazu ενεργεία v usw.), wird zusammengesehen undgem dem Grad der δύναμις usw., den es besitzt, in einer (reihen-haften) Rangstufung angeordnet. Das hierbei beteiligte Erkenntnis-

401 Auf die aristotelischen Funktionalbegriffe und ihre sprachliche Form (Ιξ οΟ, εν φ,εΐξ δ usw.) sollte man noch einmal eingehen. Dabei w re auch das wichtige KapitelAn. post. B ii (Ross z. St.; Ross, Metaphysics I I26f, Physics 51 i f ) zu analysieren,das in vorliegender Untersuchung nicht herangezogen wird.

602 Zum Wesen der aristotelischen Abstraktion s. o. 7.11, 7.42/43, 7.5, 7.61 u. .•°3 Vgl. dazu o. 7.823de.

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800 8. Die Hyle als Seinsprinzip

verfahren ist der Aufstieg κατ' άφαίρεσιν = per subtractionem, diesog. .Abstraktion' des Aristoteles604. Aus dem Gesagten erhellt, dadieser Aufstieg nicht zu einem leeren Grenzbegriff f hrt, mit dem derinfinite Regre nur rein formal abgeschnitten w rde606, sondern — esl t sich wiederum nicht anders ausdr cken — zu einem Seinsprinzip,das Seinsf lle in sich birgt606.

Trotz allem scheint eine starke Diskrepanz zu bestehen zwischender »formalen' Allgemeinheit und Unbestimmtheit des Prinzips selberund manchen von den inhaltlich-konkreten Einzelwirkungen, die manihm zuschreibt. Dies veranla t manche Interpreten, den aristotelischenHyle-Begriff als nur scheinbare Einheit zweier ganz heterogener Teilezu sehen, zwischen denen eine un berbr ckbare Kluft bestehe: .ab-straktes' Hyle-Prinzip — ,konkrete' Materie607. Sie mindern dabeidie ontologische Relevanz des Hyle-Prinzips so stark herab, da eshinter den .konkreten' Einzel-Materien beinahe verschwindet608.

Das Problem und die daran gekn pften L sungsversuche erschei-nen in einem ganz anderen Licht, wenn man das Verh ltnis zwischenSeins-Prinzip und den zugeh rigen Prinzipiaten n her bedenkt609.

604 Ausf hrlich zu all diesen Fragen an den Sach-Index s. v. Analogie 2, Hyle ^b.Weg zum Prinzip 3 c, 7 genannten Stellen.

eo6 Der infinite Regre wird f r alle vier Ursachen abgelehnt α 2, 994 a i—n, speziellf r die Hyle 994a 3—5. Vgl. ferner 994a 19—b 9 mit Ross' Komm.; gute Inhalts-analyse des Kapitels bei Ross und bei Schwegler 3, io6f. Wichtig hierzu auch Λ ίο,io75b 24—27 (Ross z. St. verweist weiter auf B 999b 5 und K io6oa 26; vgl. auchSchwegler 4, 293 und Ross, Physics 527). Zum infiniten Regre als aristotelischerArgumentationsform s. die Bemerkungen von Oehler, Gnomon 40 (1968) 651 A. i(der die ύλη — anders als die reine Form — doch wohl nicht als .formalen Grenz-begriff' versteht; falls doch, gelten die obigen Bemerkungen ber die aristotelischenάρχαί auch f r ihn) und die Monographie von Herbert Stekla, Diss. Frankfurt 1966(= Beih. 22 zur Zeitschr. philos. Forsch., Meisenheim 1970). Im selben Kapitel fin-det sich auch noch die — nicht zwingend aus dem Zusammenhang herauswachsende— wichtige Bemerkung 994 b 27, da der Begriff vom Unendlichen selbst nicht un-endlich sei (ουκ άπειρον γ* εστί το άπείρφ είναι), d.h. eine begrenzte Anzahl vonMerkmalen hat. Auf die Hyle angewendet: Man kann auch das an sich Unbestimm-te und deshalb Unerkennbare begrifflich bestimmen und erfassen.

βοβ rjas gilt auf jeden Fall f r das Hyle-Prinzip (vgl. auch das Folgende), wie auchimmer man ber das oberste Formprinzip denkt. Jedoch hat mich Oehlers Versuch,den aristotelischen Beweger-Nus als abstrakten „Grenzbegriff, formal, ohne inhalt-liche Bestimmung "zu deuten (zuletzt Gnomon 40, 1968, 641—653, bes. 650—652)nicht berzeugt; dagegen einleuchtend Kr mer, Theologie.

607 So z. B. Hertling und Baeumker, ferner manche Neuscholastiker unseres Jahr-hunderts, Vgl. Ο. Ι.ΙΙ/Ι2, I.I .

βοβ Vgi z. B (jig Auffassung K. H. Winners, o. S. 46 A. 202. — Gegen ber diesenDeutungen kommt Wieland dem Richtigen insofern n her, als er die aristotelischeMaterie als etwas Einheitliches und Geistiges versteht; leider begr ndet er sie dannaber vom (empirischen) Subjekt her und macht sie dadurch ontologisch irrelevant.

609 Die folgenden Andeutungen beanspruchen nat rlich keineswegs, diese schwierigeFrage philosophisch zureichend zu erfassen und zu durchdringen. Sie sollen nur auf

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8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 801

Dieses Verh ltnis bewegt sich zwischen zwei Extremen:a) Das Prinzip ist der Inbegriff dessen, was seine Prinzipiate sind,

und droht st ndig in seinen Prinzipiaten aufzugehen bzw. mit ihnenzusammenzufallen: So alle Prinzipien, die den gleichen Namen tragenwie ihre Prinzipiate, z. B. die platonischen Ideen610, das aristotelischeEidos usw.611. ) Damit die Vermischung von Grund und Begr ndetemvermieden wird, r ckt man das Prinzip ber seine Prinzipiate hinaus:So besonders deutlich Platons εν, Speusipps εν und πλήθος. Speusippgeht dabei von der berzeugung aus, da „das Prinzip noch nicht vonder Art (τοιαύτη) ist wie jene Dinge, deren Prinzip es ist"612. Platonund Speusipp wollen damit bestimmt nicht die Verbindung zwischenPrinzip und Prinzipiat gef hrden, sondern sicherstellen, da das Prin-zip mehr ist als ein etwas berh htes Prinzipiat, und Seins berlegenheitsowie eine gewisse Indifferenz gegen ber seinen Wirkungen zeigt613.

F r die Beurteilung des aristotelischen Hyle-Prinzips empfiehltes sich, beide Gesichtspunkte zu vereinigen: Einerseits m ssen nat r-lich die Wirkungen im Wesen des betreffenden Prinzips angelegt sein,sonst w re es philosophisch sinnlos, bestimmte konkrete Erscheinungenals Wirkungen eines bestimmten Prinzips verstehen zu wollen: Sogeht es z. B. nicht an, Aktivit t der Hyle in concreto und Passivit tdes Hyle-Prinzips selbst, scharf zu trennen und gegeneinander auszu-spielen, indem man etwa meint, Aristoteles sei bei der konkreten An-

Gesichtspunkte hinweisen, die f r die Beurteilung der aristotelischen Seinsprinzipienm. E. unentbehrlich sind, in der philologischen Literatur aber bisher wenig odergar nicht beachtet wurden. Instruktiv dar ber auch die knappen BemerkungenKr mers, UGM 360, auf die ich erst nachtr glich aufmerksam wurde.

610 Am meisten gilt das nat rlich f r die Ideen von Ding-Klassen. Auf die genannteVerwechslungsm glichkeit gr ndet sich ein gro er Teil der aristotelischen Ideen-Kritik. Nicht unschuldig an dieser Problematik ist die Gepflogenheit der griechischenPhilosophie-Sprache, die Prinzipien durch substantivierte Adjektive (το καλόν =.Prinzip des Sch nen', το αγαθόν = .Prinzip des Guten' usw.) zu benennen: So wirdder Eindruck erweckt, als handele es sich um ,Einzeldinge', die denselben Sems-modus bes en wie ihre nachgeordneten Prinzipiate; vgl. dazu die Andeutungeno. 6.132.

611 Instruktiv hierzu α ι, 993b 23—31: Das Prinzip der W rme ist selbst am w rmsten,das von allem Wahren selbst am wahrsten (b 25 f llt der Ausdruck ΟΛ^νώνυμον).Die Kommentare dazu gehen leider der Frage nicht nach.

612 Speus. ap. Iambi, c. m. sc. IV p. 15, gf Festa. Vgl. ib. p. 18, i—3. Alles N hereo. 2.3 (bes. 2.33). ,noch nicht' im oben wiedergegebenen Speusipp-Zitat bedeutet:In der .deduktiven' Richtung von .oben' nach .unten' weist das Prinzip .noch nicht'manche Eigenschaften auf, die dann auf den nachgeordneten (.sp teren') Stufenerscheinen.

e13 Platon spricht ja sogar davon, da die vorgeordnete Schicht (d. h. das Prinzip) ohnedie von ihr abh ngigen Schichten (d. h. die Prinzipiate) .sein k nne' (Argument desσνναναιρεϊσθαι); dar ber o. 2.2443. Wie weit Speusipp diese Lehre bernommenhat, ist unsicher, vgl. 2.32 Ende; auf jeden Fall werden bei ihm, wie gesagt, diePrinzipien ber ihre Prinzipiate hinausger ckt.5l Happ, Hyle

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802 8. Die Hyle als Seinsprinzip

Wendung seines (passiven) Hyle-Prinzips durch den Zwang der Einzel-probleme veranla t worden, die Hyle immer mehr mit Aktivit t aus-zustatten614. Eine genauere Pr fung des aristotelischen Befundes undein ideengeschichtlicher Umblick zeigt jedoch, da die aristotelischeHyle ihrem Wesen nach aktiv ist, da somit also kein Bruch zwischenPrinzip und Prinzipiat besteht. Es fragt sich nur, wie das angemessenzu beschreiben ist: Soll man sagen ,Das Hyle-Prinzip ist aktiv' oder,Das Hyle-Prinzip ist Prinzip von Aktivit t' ?

Damit sind wir schon beim zweiten Gesichtspunkt angelangt:Wenn man nicht das Prinzip in seiner Prinzipien-Natur gef hrdenwill, darf man nicht ohne methodische Absicherung dem Prinzipschlechthin und undifferenziert diejenigen Eigenschaften zuerkennen,die seine Prinzipiate besitzen615. Demgem wird man sich fragen,ob die Hyle, wenn sie dysteleologisch wirkt, selbst ein κακόν ist616,oder ob sie selber bewegt sein mu , um Bewegung verursachen zuk nnen617, und dgl. mehr. Jede dieser Fragen mu man — unterBer cksichtigung der beiden genannten Gesichtspunkte — gesondertbeantworten, und man wird in manchen F llen die Eigenschaften desBegr ndeten direkt bis zum Grund »verl ngern'618, in anderen dieseEigenschaften dem Prinzip gleichsam .indirekt' und ,aussparend' zu-schreiben619. Diese scheinbare Inkonsequenz rechtfertigt sich daraus,da das ungemein komplexe Verh ltnis zwischen Prinzip und Prin-zipiat sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen l t, ohne dadie Sachlage sogleich verzerrt wird620.

Wir haben vorhin auf Platon und Speusipp verwiesen, und es istkein Zufall, wenn bei Erw gungen ber Seinsstufung, Prinzip, Prin-zipienwirkung und dgl. die Lehren der Akademie sich zum Vergleichanbieten. Denn dort wurde gerade diese Problematik zum ersten Malesystematisch aufgegriffen, durchdacht und in verschiedenen Seins-entw rfen einer L sung n herzubringen versucht621. Auch zu deneingangs behandelten Fragen gibt die akademische Tradition wichtige

614 So z. B. Hertling und Baeumker. Vgl. o. 8.25.816 Dazu Sach-Index s. v. Prinzip ic.«1β Vgl. o. 8.252.«" S. o. A. 614.618 So ist die Hyle als Prinzip aller δυνάμει όντα (und alles Bestimmbaren) auch selbst

reine δΰναμις (reine Bestimmbarkeit; vgl. o. 8.23), sie wirkt erkenntnishinderndund ist selber αγνώστου (7.12, 7.823).

619 So bei Dysteleologie (bzw. κακία), Bewegtheit. S. die obigen Anm. 616/617.620 \Vie schon oben gesagt, bed rfen diese Bemerkungen noch weiterer Vertiefung.ezi Vgl., auch zum Folgenden, aus dem Akademie-Abschnitt bes. 2.242—244, 2.3, 2.43,

2.51.

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8.2 Die Seinsweise des Hyle-Prinzips 803

Hinweise622: Man sieht, wie das gesamte Sein .horizontal' und wohlauch ,vertikaT von einer Relation ,Form' — .Formbares' bestimmtist, die sich — abgewandelt — ständig wiederholt und in einer ,Ur-Relation' (den beiden obersten Prinzipien) verankert ist. Die Relatader Relation und noch mehr die letzten Prinzipien (z. B. —

$) haben viel »formaleren* Charakter als die aristotelischen Prin-zipien und stehen auch in einem viel formaleren Zusammenhang(mathematisierende Elementen-Metaphysik) als jene und sind dochkeine subjektiven Konstruktionen (Topoi), sondern .objektive' Seins-prinzipien.

Die Lehren der Akademie werden auch beim nächsten Punkt sichals hilfreich erweisen:

b) Wir weisen noch auf eine weitere Interpretationsmöglichkeithin, welche die bisher vorgeführte Deutung ergänzt oder selbständigneben sie tritt: Man nimmt nämlich nicht selten an, Aristoteles habeim Bereich der sinnlichen Körpersubstanzen das Hyle-Eidos-Verhält-nis als phänomenalen Tatbestand erkannt, zum Schema verabsolutiertund vom ursprünglichen Beobachtungsbereich, wo es sachlich einenSinn hatte, dann — mehr oder minder unberechtigt — auf alle mög-lichen anderen Bereiche .sekundär übertragen'6Z3. Die umfassende Wirk-samkeit der Hyle würde also kein ursprünglich organisches Ganzesdarstellen, sondern wäre in Wirklichkeit ein durch additive Erweite-rungen erst allmählich zustandegekommenes Konglomerat.

Diese Vorstellung läßt sich aber nicht halten: Gewiß hat Aristo-teles bei der Umschichtung des .gemein-akademischen' Seinsaufbauszu seiner eigenen Stufung in einem zeitlich-historischen Vorgang be-stimmte Materie-Arten der Akademie aufgegeben und durch eigeneMaterie-Arten ersetzt, dazu noch ganz neue Arten eingeführt62*, was

22 Die Vernachlässigung dieser ideengeschichtlichen Bezüge und grundsätzlichen An-regungen hat bei der Deutung der aristotelischen Prinzipien Schwierigkeiten ent-stehen lassen, die sich durch einen Blick auf die Akademie von selbst erledigt hätten.Das gilt zum Teil auch für den Streit um das Objekt der aristotelischen Metaphysik(o. 4).

423 Diese Ubertragungs- und Erweiterungstheorie findet sich bei Interpreten ganz ver-schiedener Richtung, welche die aristotelische Hyle de facto auf .sinnliche Materie'beschränken (u. a. Hertling, Baeumker, Lange, Krämer, Winner). Dabei sehen siegelegentlich im Techne-Bereich (z. B. Hertling, Baeumker, Lange) oder im Bio-logischen (vgl. Le Blond) einen wichtigen Ausgangspunkt der aristotelischen Hyle-Spekulation, schreiben also Aristoteles ein .techno-morphes' oder ,bio-morphes'Denkmodell zu. Vgl. zur Frage der Denkmodelle o. 1.35, wo vor allem hinsichtlichder Techne-Physis-Beziehung gesagt wird, daß Aristoteles da nichts .überträgt*(weder in der einen noch in der anderen Richtung), sondern von vorneherein in beidenBereichen dieselben Geist-Strukturen annimmt und dies im Anschluß an Platon(und die Akademie), für den Natur und Techne gleichermaßen von der Idee (bzw.den Prinzipien) her bestimmt sind, also letztlich eins sind.

624 Näheres über diese Umschichtung o. 2.52.5l*

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804 8· Die Hyle als Seinsprinzip

man grob vereinfachend als .Verengung' und .Erweiterung' und dgl.bezeichnen k nnte. Das bedeutet jedoch nicht, da er die akademischeGanzheit erst verlor und sie dann durch .sekund re bertragungen'vergeblich wiederzugewinnen suchte, sondern: Er entwickelte seinKonzept innerhalb eines Akademischen' Rahmens, den er — bei allenkleinen und gro en Ver nderungen — im wesentlichen unangetastet lie .Das umfassende Hyle-Prinzip, in dem alle einzelnen Materie-Artengr nden und das zusammen mit der reinen Form den End- und Be-zugspunkt aller Materie-Form-Relationen bildet, steht also am Anfangdes aristotelischen Hyle-Denkens, nicht am Ende, und es ist eine Kon-zeption des Aristoteles auf dem Boden und aus dem Geiste der platonisch-akademischen Metaphysik, nicht eine Erfindung systematisierenderInterpreten.

Wenn man das bedenkt, wird man die Ολη αισθητή des Werdensund Vergehens nicht berbewerten oder gar verabsolutieren625, son-dern sie an die ihr zukommende Stelle im Rahmen des gesamten Hyle-Prinzips r cken. Diese aristotelische Hyle ist — wie das akademischezweite Prinzip — sowohl in den .abstraktesten' wie in den .konkrete-sten' Arten, im ganzen wie im einzelnen ausnahmslos nichts Stoff-liches, sondern ein geistiges Prinzip, ein νοητόν626. Dieses Faktum wirdim folgenden Abschnitt noch einmal zusammenfassend gew rdigtwerden.

8.28 Schlu : Hyle als Seinsprinzip

Es ist bereits in der Einleitung prinzipiell er rtert627 und in denEinzeluntersuchungen der voraufgegangenen Abschnitte immer wiederherausgestellt worden, was unter der aristotelischen Hyle zu verstehenist: ein ,Seins-Prinzip' (αρχή) diesseits (oder Jenseits') von — einemextremen, d. h. unplatonischen — .Idealismus' und ebenso von ,Rea-

626 o. S. 702 A. 116, S. 793 A. 570 wird die Stelle aus gen. corr. A 4 zitiert, wo Aristotelesdiese Hyle des substantiellen Werdens und Vergehens als die .eigentliche' Materiebezeichnet. Er meint dort die Kategorie der Substanz im Gegensatz zu den Akziden-tien, aber man k nnte ohne weiteres im Sinne einer bestimmten Denktendenz desAristoteles die Ολη αίσθητή als .eigentliche' Materie im Gegensatz zur ύλη τοτπκή,Ολη νοητή usw. bezeichnen; wichtig die Bemerkung o. S. 794.

β2β Ygj dazu o. 7-I2 und 7.35, wo besonders betont wird, da auch die cclo-θητή Οληnicht .sinnlich wahrnehmbare Materie' hei t und ist, sondern ύλη των αίσβητώνbedeutet (ebenso bezeichnen die Adjektive γεννητή und wohl auch νοητή denBereich, in welchem die betreffende Hyle-Art gilt) und —wie alle anderen Hyle-Arten — als solche nicht sinnlich wahrgenommen, sondern nur durch Abstraktion =Wesensschau (νόησι$) erkannt werden kann. Vgl. zu den dort genannten Stellenauch noch H i, io42a iaf mit Schweglers Bemerkung (4, 136).

e27 o. i.i2, 1.13 Ende, 1.2, 1.3 passim.

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