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Theoretische Physik

Theoretische PhysikSprecher: F. Schrempp

DaswissenschaftlicheProgrammderDESYTheorie-Gruppe und des II. Instituts für Theoretische Physikhatte folgende Schwerpunkte:

– HERA-Physik und QCD,

– Gittereichtheorie,

– B-Physik,

– Collider-Physik,

– Neutrino-Physik und Kosmologie,

– Vereinheitlichte Theorien,

– Stringtheorie,

– Quantengravitation.

HERA Physik und QCD

Small-x Physik und Saturation

Aus theoretischer Sicht besteht eine der wichtigstenAufgaben von HERA und anderen Teilchenbeschleu-nigern darin, verschiedene Aspekte der starken Wech-selwirkung quantitativ zu erforschen. Ein bedeutenderZweig der Quantenchromodynamik (QCD) befasst sichmit dem Verständnis der Physik im kinematischen Be-reich sehr kleiner Bjorken-x, deren experimentelle Un-tersuchung bei HERA begonnenen und inzwischen ananderen Plätzen aufgenommen worden ist. Ein Über-blick über den gegenwärtigen Stand von Phänomeno-logie und Theorie der small-x Physik wurde von derSmall-x Collaboration in [DESY 03-220] präsentiert.Dies ist der zweite Übersichts-Artikel der internatio-nalen Small-x Collaboration, die sich in regelmäßigenAbständen trifft (bisher immer in Lund, Schweden)und dabei den jeweils aktuellen Stand der Kenntnisseaufarbeitet.

Eines der wichtigsten experimentellen Ergebnisse vonHERA ist der starke Anstieg der Gluondichte bei klei-nem x. Aufgrund der Unitarität erwartet man schließ-lich eine Dämpfung dieses Anstiegs und entsprechendeinen Sättigungszustand der Gluonen (,,Saturation“).In einem aussichtsreichen Zugang wird dieses Saturati-onsphänomen mit einem Vielteilchen-Quantenzustandhoher Besetzungszahl, dem ,,Farbglas-Kondensat“ as-soziiert, welches entsprechend als starkes klassichesFeld proportional zu 1/

√αs angesehen werden kann. In

diesem neuartigen Bereich hoher Gluonzahl bei hinrei-chend kleiner Eichkopplung αs hat man große Klassenvon störungstheoretischen Beiträgen aufzusummieren;bei sehr kleinen x- und Q2-Werten ist jedoch ein Zusam-menbrechen der üblichen Störungstheorie zu erwarten,der den Übergang zur starken Wechselwirkung einleitet.

Im Rahmen der Störungstheorie steht zur Zeit einenichtlineare Erweiterung der QCD-Evolutionsglei-chungen im Mittelpunkt des Interesses: die Balitsky-Kovchegov (BK) Gleichung. Diese Gleichung lieferteinen vielversprechenden theoretischen Rahmen fürdie Beschreibung des Saturationsphänomens. Bisher istdiese Gleichung nur in einer vereinfachten Form ana-lysiert worden; in [DESY 03-075] wurde erstmals einenumerische Untersuchung der vollen Gleichung durch-geführt, insbesondere der Abhängigkeit der Dipoldichtevom Impaktparameter b.

Phänomenologische Modelle, die auf genäherten Lö-sungen der BK-Gleichung basieren, wurden für ver-schiedene Streuprozesse formuliert und untersucht:J/ψ Produktion in Photo- und Elektroproduktion[DESY 03-011] und tiefunelastische Streuung an Ker-nen [DESY 03-050, 089, 116].

Eine wichtige Anwendung der small-x Physik und derSaturation ist die Wechselwirkung von hochenergeti-schen Neutrinos mit Protonen und Kernen in der Atmo-sphäre. Eine möglichst genaue Kenntnis dieser Wech-selwirkung ist für astrophysikalische Untersuchungen

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sehr wichtig. Der Wirkungsquerschnitt wird näherungs-weise durch den tiefunelastischen νp Wirkungsquer-schnitt bei sehr kleinen x beschrieben. In [DESY 03-171] werden die Vorhersagen verschiedener Parton-dichten in einem Saturationsmodell miteinander ver-glichen.

Für die Untersuchung der Saturation im Rahmen derQCD hat sich das Farb-Dipolbild als besonders ge-eignet erwiesen, das bisher nur für totale Wirkungs-querschnittte diskutiert worden ist. In [DESY 03-010]wurde dieses Bild auf Streuamplituden mit nicht-verschwindenden Impulsüberträgen verallgemeinert.Diese Erweiterung wird benötigt, um z. B. in der tiefun-elastischen Diffraktion die Abhängigkeit des Wirkungs-querschnittes vom Impaktparameter zu untersuchen.Es wird erwartet, dass Saturation in der Diffraktionbesonders empfindliche experimentelle Tests erlaubt.

Instantonen und Saturation

Ineinemkomplementären theoretischenZugangzur Sa-turation wurden nicht-perturbative, klassische Feldkon-figurationen der QCD untersucht. Als explizit bekannteFluktuationen des Gluon-Feldes proportional zu 1/

√αs

stellen ,,Instantonen“ einen besonders interessanten,konsistenten Zugang zum Saturationsphänomen darund wurden intensiv weiterverfolgt [hep-ph/0301177,DESY 03-217]. Wie aus Gittersimulationen bekannt ist,tritt indiesemRahmeneinecharakteristischeneueSkalaauf, die mittlere Instantongröße, 〈ρ〉 ≈ 0.5 fm, welchemit der Saturationsskala identifiziert werden konnte:Bei der Streuung eines qq-Farbdipols der Größe r amNukleon tritt für x → 0 Saturation ein, wenn der geome-trische Wirkungsquerschnitt πr2 (entsprechend der Di-polfläche) die Fläche π〈ρ〉2 des Hintergrund-Instantonsübersteigt [hep-ph/0301177].

Ein wichtiges Ergebnis [DESY 03-217] im Instanton-Zugang ist die Identifikation des Farbglas Kondensatsmit dem QCD-Sphaleron, einem wohlbekannten, kohä-renten Multi-Gluon Zustand auf dem Gipfel der Poten-zialbarriere, die benachbarte, topologisch nicht äqui-valente Vakua trennt. Diese Identifizierung gelingt imRahmen der ,,Valley“-Näherung mit Hilfe von Gitter-daten der UKQCD-Kollaboration. In Übereinstimmungmit neuen Simulationen zur elektroschwachen B+L -Verletzung wurde erstmals mittels QCD-Gitterdaten

die Gültigkeit der Valley-Näherung vom Tunnelbe-reich (E ≈ 0) bis zum Sphaleron (E ≈ msph ≈ 1/αs〈ρ〉)gezeigt [DESY 03-217].

Leading-log Summation

Tiefunelastische Streuung bei kleinen x wird weit-gehend von Gluonen dominiert; der Austausch vonFermion-AntifermionPaarenstellt jedocheinewichtigeKorrektur zum Gluonaustausch dar, die im kinemati-schen Bereich nicht zu kleiner x keinesfalls vernach-lässigt werden kann. Der Streuprozess zweier virtuellerPhotonen stellt einen attraktiven Rahmen dar, in demdie Vorhersagen der QCD für den Hochenergielimes zu-verlässig getestet werden können. Für diesen Prozesswurde in [DESY 03-105] der Einfluss von Fermion-Antifermion Austausch untersucht: bei LEP Energiensind diese Beiträge noch sehr wichtig, während sie beieinem zukünftigen Linear Collider (TESLA) eine gerin-gere Rolle spielen werden. Das Hochenergieverhaltender doppelten Energie-Logarithmen, wie sie für Fer-mionaustausch in der QCD charakteristisch sind, istdarüber hinaus auch von allgemeinerem theoretischenInteresse.

Im Rahmen der BFKL-Näherung der QCD wird dieExistenz eines Odderon vorhergesagt, eines aus drei,,reggeisierten“ Gluonen bestehenden Zustandes imAustauschkanal. Die diffraktive Produktion des ηc Teil-chens in der tiefunelastischen Streuung stellt einenvielversprechenden Kandidaten zum Nachweis diesesOdderons in der störungstheoretischen QCD dar. In[DESY 03-048] wird der Wirkungsquerschnitt diesesStreuprozesses abgeschätzt.

Zu den fundamentalen Eigenschaften der BFKL-Amplituden in der QCD gehören die ,,Bootstrap Re-lationen“. Dies sind nichtlineare Beziehungen zwi-schen verschiedenen elastischen Streuamplituden undVielteilchen-Produktionsamplituden, deren Gültigkeitfür die s-Kanal Unitarität notwendig ist. Die Tatsache,dass die in der BFKL-Näherung berechneten Streuam-plituden diese Relationen erfüllen, kann auch als Nach-weis ihrer inneren Konsistenz angesehen werden. In derführenden Ordnung sind diese Relationen seit langembekannt und bewiesen. Ihre Verifikation in der nächst-führenden Ordnung (NLO Näherung) hingegen ist erstvor einigen Jahren unternommen worden, und ihre Aus-

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dehnung auf inelastische Produktionsprozesse war bis-her nicht bekannt. In [DESY 03-083] sind Bootstrap-Bedingungen für NLO Produktionsamplituden formu-liert worden, und es wurden Konsistenzbedingungenfür Produktionsvertizes hergeleitet.

Next-to-Leading-Order Rechnungen

Die Berechnung des Photon Impaktfaktors in der NLONäherung ist aus mehreren Gründen von hohem Inter-esse. Zum einen gibt es starke Hinweise darauf, dassim bei HERA untersuchten kinematischen Bereich klei-ner x an Stelle der kollinearen Faktorisierung die kT-Faktorisierung in der QCD verwendet werden muss. Indiesem Zusammenhang wird die NLO Näherung desPhoton Impaktfaktors benötigt. Sie ist außerdem not-wendig für den experimentellen Nachweis des BFKLPomerons im γ∗γ∗ Streuprozess oder in der Produktionvon so genannten Forward-Jets in der tiefunelastischenep-Streuung.AndieseranspruchsvollenRechnungwirdseit mehreren Jahren gearbeitet. Die jüngste Veröffent-lichung im Rahmen dieses Programmes ist die Doktor-arbeit [DESY-THESIS 2003-036], in der erstmals nu-merische Resultate der reellen Korrekturen berechnetwerden.

Ebenfalls von grundlegender Wichtigkeit für die GluonStrukturfunktion bei kleinen x ist die Kenntnis derBFKL Green Funktion in der NLO Näherung. In [DESY03-060] wird eine verbesserte Version der bisherigenGreen Funktion vorgeschlagen, die in voller Überein-stimmung mit der Renormierungsgruppe ist und dienumerische Genauigkeit erheblich verbessert.

In [DESY 03-027] wurden Momente der differentiellenEnergie- undWinkelverteilung für inklusiveProduktionvon B-Mesonen, e+e− → BBX, in Ordnung α2

s berech-net. Es wurde gezeigt, dass sich in geeigneten Verhält-nissen solcher Momente nicht-perturbative Korrekturensowie große Logarithmen der Form ln(ECM/mb) kür-zen. Die theoretischen Vorhersagen stimmen sehr gutmit neueren Daten des SLD Experiments überein underlauben eine Bestimmung von αs.

Nichtrelativistische QCD

Die Faktorisierungshypothese der nichtrelativistischenQCD (NRQCD) sagt die Existenz so genannter

Farboktett-Prozesse in der Natur voraus, d. h. schwe-re Quarkonia können auch aus Quark-Antiquark-Paaren entstehen, wenn deren Farbladungen nichtneutralisiert sind. Im Rahmen dieser Theorie wur-den Vorhersagen bereitgestellt für die inklusiveErzeugung prompter J/ψ-Mesonen in tiefunelasti-scher Neutrino-Nukleonstreuung über den geladenenStrom [DESY 03-107], sowie in polarisierten Hadron-Hadron-, Photon-Hadron- bzw. Photon-Photon-Stößen[DESY 03-168], die mit Messungen von CHORUS,bei RHIC-Spin, im SLAC-Experiment E161 bzw. beiTESLA verglichen werden können. Eine neue Mes-sung der unpolarisierten Hadroproduktion bei RHICstimmt mit der NRQCD deutlich besser überein alsmit dem Farbsingulettmodell. Es wurde gezeigt, dassdie Winkelverteilungen der χc1- und χc2-Mesonen amTevatron wichtige Informationen über Farboktettpro-zesse enthalten und wie diese erschlossen werden kön-nen [DESY 03-96]. Für die assoziierte Erzeugung einesΥ-Mesons mit einem h0- bzw. A0-Higgs Boson des mi-nimalen supersymmetrischen Standardmodells wurdenin gewissen, experimentell erlaubten Parameterberei-chen Signalraten vorhergesagt, die am LHC sichtbarsein sollten [DESY 04-023].

Die nichtrelativistische Schwellendynamik des Bot-tom-Antibottom-Systems kann weitgehend störungs-theoretisch beschrieben werden. Dies geschiehtzweckmäßigerweise mit Hilfe der Potenzial-NRQCD,einer effektiven Feldtheorie, welche aus der NR-QCD durch Ausintegration der weichen Moden undPotenzial-Gluonen hervorgeht. Die Vorhersagen die-ser Theorie können mit Hilfe eines Systems nichtrela-tivistischer Renormierungsgruppengleichungen we-sentlich verbessert werden. Unter Verwendung dieserMethode wurden die nächstführenden logarithmischenKorrekturen zur Hyperfeinaufspaltung von schweremQuarkonium aufsummiert. So konnte eine zuverlässigeVorhersage gewonnen werden für die Masse des ηb-Mesons [DESY 03-172], für das kürzlich ein Signaler-eignis bei CLEO gesehen wurde.

Produktion von Charm-Mesonen

Theoretische Untersuchungen zur D∗ Erzeugung in γγ

und γp Reaktionen im so genannten massiven variablenFlavourzahl-Schema (massive VFNS) wurden im Jahre

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2003 fortgesetzt. In diesem Schema wird die von Nullverschiedene Charmquark-Masse voll berücksichtigt,und zwar in der Form, dass für große pT die Theorie mitmasselosem Charm reproduziert wird. Dieses Vorgehenerlaubt es einerseits, Terme proportional zu ln(p2

T/m2c)

in Form von D∗ Fragmentationsfunktionen, die univer-sell sind, aufzusummieren und andererseits, Beiträgeproportional m2

c/p2T voll zu berücksichtigen. Dieser An-

satz wurde zum ersten Mal für den direkten Anteildes Prozesses γγ → D∗X im Jahre 2001 ausgearbeitet[DESY 01-134]. In [DESY 03-014] wird der einfachaufgelöste Anteil für diese Reaktion behandelt und einVergleich mit LEP2 Daten durchgeführt. Hierbei wur-den der direkte, einfach aufgelöste und der zweifachaufgelöste Anteil, der noch durch die mc = 0 Theorieapproximiert wird, addiert. In [hep-ph/0311062] wurdedas massive VFNS Schema auf die Photoproduktionvon D∗ Mesonen bei HERA angewandt und mit neues-ten ZEUS-Daten verglichen. Es ergab sich weitgehendgute Übereinstimmung zwischen Theorie und Daten.Fernerwurdendamit ältereRechnungenmitmasselosenCharmquarks bestätigt.

Verallgemeinerte Partondichten

Ein Großteil unserer Kenntnisse über die Quark-GluonSubstruktur des Protons stammt aus der Messung vonPartondichten, z. B. in der tiefunelastischen Streuung.Wichtige Aspekte der Struktur sind jedoch auf dieseWeise nicht zugänglich. Insbesondere geben Parton-dichten Aufschluss über den Impuls von Quarks oderGluonen entlang der Bewegungsrichtung eines schnellbewegten Protons, nicht jedoch über die Struktur senk-recht zu dieser Richtung. Solche Information kann je-doch in geeigneten exklusiven Streuprozessen mit ei-nem Proton im Endzustand erhalten werden und wirddurch so genannte ,,verallgemeinerte Partondichten“beschrieben. Durch geeignete Observablen kann ins-besondere die räumliche Verteilung von Quarks undGluonen in der Transversalebene untersucht werden,sowie der Beitrag des Bahndrehimpulses von Quarksund Gluonen zum Gesamtspin des Nukleons. Man er-wartet, dass solche Information wertvolle Hinweise aufdie QCD-Dynamik im Bereich starker Kopplung liefernwird. Die relevanten Prozesse wie exklusive Produk-tion von Mesonen oder Photonen werden insbeson-dere in den Experimenten HERMES, H1 und ZEUSgemessen. In einem Übersichtsartikel [DESY-THESIS

2003-018] wurde vesucht, das bestehende Wissen indiesem seit etwa 1996 sehr aktiven Feld zusammen-zutragen und dabei wesentliche physikalische Fragenund offene Probleme herauszuarbeiten.

In gleicher Weise können auch Übergangsprozesse vomProton zu einem anderen Hadron beschrieben werden.Dies bietet die Möglichkeit, die Struktur von Resonan-zen zu studieren, die aufgrund ihrer kurzen Lebensdauernicht als Strahl oder Target in Streuexperimenten inFrage kommen. In [DESY 03-200] wurde vorgeschla-gen, auf diese Weise die Struktur des erst kürzlich ent-decktenPentaquark-BaryonsΘ+ beikleinenAbständenzu untersuchen. Die dafür nötigen Messungen könntenbereits bei HERMES möglich sein.

Gittereichtheorie

Die Aktivitäten im Bereich Gittereichtheorie kon-zentrierten sich auf die Bestimmung von effektivenKopplungskonstanten (,,Gasser-Leutwyler-Konstan-ten“) der chiralen Störungstheorie aus Simulationsda-ten. Langfristig erhofft man sich dadurch Aufschlussüber phänomenologische Fragen wie die Möglich-keit eines masselosen up-Quarks oder der Erklärungder ∆I = 1/2-Regel. Weitere Aktivitäten im BereichGittereichtheorie umfassen die Bestimmung und glo-bale Analyse von Zerfallskonstanten von D- und B-Mesonen, die von zentraler Bedeutung für die Flavour-Physik sind.

Simulationen mit leichten Quarks

Eine wichtige Bedingung bei der Bestimmung derGasser-Leutwyler-Konstanten ist, dass die dynami-schen Quarkmassen klein genug sein müssen, um denGültigkeitsbereich der bekannten Formeln der chiralenStörungstheorie zu erreichen. Die Simulationen müs-sen unter Berücksichtigung der dynamischen Effekteder Quark-Felder (das heißt ,,unquenched“) durchge-führt werden. Dies stellt hohe Anforderungen an dieRechenleistung und die Effektivität der Algorithmen.Für die Rechnungen wurden die Rechneranlagen desNIC in Zeuthen und Jülich und das PC-Cluster beiDESY Hamburg eingesetzt.

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Die qq+q-Kollaboration hat in den letzten Jahren einengeeigneten Algorithmus für kleine Quarkmassen entwi-ckelt. Die ersten Resultate, die mit diesem so genann-ten TSMB-Algorithmus erreicht wurden, zeigen dastypische qualitative Verhalten, das in der chiralen Stö-rungstheorie erwartet wird [DESY 03-003, 019, 072,148]. Die Abschätzungen für die Gasser-Leutwyler-Konstanten, die das Verhalten der Pion-Masse und derPion-Zerfallskonstante als Funktion der kleinen Quark-Massen beschreiben, sind im phänomenologisch erwar-teten Bereich. Die Extrapolation zum Kontinuumslimeskonnte bis jetzt noch nicht durchgeführt werden, wirdaber in der nahen Zukunft mit den bereits bekanntenMethoden erreichbar sein.

Gitter-QCD im ε-Regime

Eine weitere Methode zur Bestimmung der effekti-ven Kopplungskonstanten der chiralen Störungstheo-rie ist die Untersuchung des so genannten ε-Regimesder QCD. Hierbei wird die Theorie in einem endlichenVolumen für beliebig kleine Quarkmassen formuliert.Wie von Leutwyler und Smilga gezeigt, spielt in dieserSituation die Topologie der Eichfelder eine besondereRolle. Die numerische Berechnung von Korrelations-funktionen im ε-Regime in verschiedenen topologi-schen Sektoren ermöglicht die Bestimmung der effekti-ven Kopplungskonstanten durch den Vergleich mit denanalytischen Ausdrücken. Die Verwendung von Gitter-Fermionen mit exakter chiraler Symmetrie ist hier-bei von besonderem Vorteil, da die analytischen Aus-drücke ohne Einschränkung in der Gitterregularisierunggelten.

Im chiralen Limes divergiert die Korrelationsfunk-tion der pseudoskalaren Dichte. Ihr Residuum ist je-doch durch die Nullmoden des Dirac-Operators voll-ständig bestimmt und kann in chiraler Störungstheo-rie berechnet werden. Die entsprechenden Ausdrückewerden durch die Pion-Zerfallskonstante parametri-siert. Die durch Nullmoden gesättigte Korrelations-funktion konnte erstmals durch numerische Simula-tion für verschiedene Gitterabstände und Volumina inder ,,quenched“ Näherung der QCD bestimmt werden[DESY 03-195]. Trotz mehrerer, bislang noch nichtkontrollierter systematischer Effekte, ist das Resultatfür die Pion-Zerfallskonstante im chiralen Limes mitdem phänomenologisch erwarteten Wert verträglich.

QCD und Random Matrix Theory

In einem weiteren Projekt unter Verwendung vonGinsparg-Wilson-Fermionen wurde die Verteilung derEigenwerte des Dirac-Operators untersucht. Dies istvon besonderem Interesse für das Verständnis derspontanen chiralen Symmetriebrechung. Die Bildungeines chiralen Kondensats wird hierbei über die sogenannte Banks-Casher-Beziehung durch die Akku-mulation kleiner Eigenwerte des Dirac-Operators er-klärt. Quantitative Voraussagen für die Verteilung derEigenwerte werden insbesondere durch die RandomMatrix Theory gemacht. Mit bisher nicht gekannterPräzision konnte die Verteilung der Eigenwerte nunaus Simulationen der ,,quenched“ QCD für eine Reihevon Gitterkonstanten und Volumina berechnet werden[DESY 03-135]. Hierbei ergab sich, dass Random Ma-trix Theory eine gute Beschreibung der Eigenwert-verteilung liefert, sofern das physikalische Raumzeit-Volumen größer als 5 fm4 ist.

Ferner lässt sich aus den Gitterdaten ein Wert für daschirale Kondensat bestimmen, der im erwarteten phäno-menologischen Bereich liegt. Die verblüffend genauequantitative Übereinstimmung der Eigenwertverteilun-gen der QCD mit denen der Random Matrix Theoryist in Abbildung 55 gezeigt.

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Abbildung 55: Verhältnisse der Erwartungswerte derEigenwerte des Dirac-Operators in verschiedenen to-pologischen Sektoren. Die Voraussagen der RandomMatrix Theory sind als horizontale Striche gekennzeich-net.

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Gitterresultate in der B-Physik

Die Werte der B-Meson-Zerfallskonstanten sowie desB-Parameters der B0-B0-Mischung werden für die Ana-lyse der Cabibbo-Kobayashi-Maskawa (CKM) Matrixund die Bestimmung ihrer CP-verletzenden Phase be-nötigt. Gittersimulationen der QCD sind seit einigerZeit die wichtigste Quelle dieser Information. Aufgrundder immer noch großen systematischen Fehler dieserGrößen stellt sich die Frage einer unifizierenden Ana-lyse von Gitter-Resultaten verschiedener Kollaboratio-nen im Stile der Particle Data Group. Der Versuch einergemeinsamen Analyse wurde bei der EPS03-Konferenzin Aachen vorgestellt [DESY 03-174].

Gitterdaten sind auch von großer Bedeutung für semi-leptonische Zerfälle im charm-Sektor. Wie in einemSummary Talk beim CKM-Workshop in Durham aus-geführt wurde [DESY 03-173], ist eine Berechnungder entsprechenden Formfaktoren für künftige Expe-rimente an ,,High-Luminosity Charm Factories“ wieCESR-c von großem Interesse.

PC-Cluster bei DESY

Im Rahmen des LatFor-Proposals wurden verschie-dene Rechnerplattformen verglichen und ihre Eignungfür künftige Großprojekte der Gittereichtheorie bewer-tet [DESY 03-145]. Hierbei gelten mittlerweile auchPC-Cluster als geeignete und flexible Systeme, diekomplementär zu Eigenentwicklungen wie apeNEXTfür Simulationen eingesetzt werden können. Beispiels-weise wurde das oben beschriebene Projekt zur Bestim-mung der Eigenwertverteilungen des Dirac-Operatorsauf dem relativ kleinen Cluster mit 64 Prozessoren beiDESY Hamburg durchgeführt. Die Erfahrungen mitPC-Clustern bei DESY wurden in einem Konferenz-beitag vorgestellt [DESY 03-073].

B-Physik

PräzisionsphysikvonÜbergängenmit schwerenQuarksist ein wesentlicher Bestandteil der seit einigen Jahrenlaufenden und auch im Jahr 2003 fortgesetzten Un-tersuchungen in der Theorie-Gruppe und am II. Ins-titut für theoretische Physik der Universität Ham-

burg. Vor allem die Experimente BABAR und BELLEhaben dafür neue und genauere Messungen der Materie-Antimaterie Asymmetrie in B Zerfällen und den sel-tenen B-Mesonen Zerfällen geliefert. Die ZerfälleB → Xs(γ, +−) und B → Xd(γ, +−) sind wich-tige Quellen für die Untersuchung der Physik in denso genannten elektroschwachen Pinguin-Amplituden[DESY 03-046]. Es besteht ein großes Interesse ander Berechnung der QCD-Strahlungskorrekturen fürdie Zerfallsrate Γ(B → Xsγ) zur Ordnung des next-to-next-to-leading logarithm (NNLL). Ein Anfang in dieseRichtung wurde durch die Berechnung der Beiträgevon fermionischen Loops gemacht [DESY 03-013].Auch wesentliche Teile der NNLL Matrixelemente fürdie Operatoren des Übergangs B → Xsγ wurden ge-rechnet. Die nichtleptonischen Zerfälle der B-Mesonensowie der gebundenen bb Zustände, besonders desΥ(1S), spielen eine wichtige Rolle, um die QCDDynamik in Systemen mit schweren Quarks zu ent-schlüsseln. In diesem Zusammenhang hat die theore-tische Untersuchung der inklusiven Zerfälle B → η′Xund Υ(1S) → η′X eine quantitative Abschätzung derQCD-Pinguin-Amplituden im Standardmodell ermög-licht [hep-ph/0304278, hep-ph/0307092].

Die gemessene CP Asymmetrie in den ZerfällenB0/B0 → J/ψKS, B0/B0 → J/ψKL liefert eine genaueMessung des inneren Winkels β im Unitaritätsdreieck:sin 2β = 0.736 ± 0.049. Die Experimente BABAR undBELLE haben im Jahr 2003 die ersten Messungender zeitabhängigen CP Asymmetrie in den ZerfällenB0 → π+π− und B0 → π+π− veröffentlicht. Die ak-tuellen Messungen liefern wichtige Hinweise auf denWinkel α des Unitaritätsdreiecks. Sie wurden zusam-men mit anderen Messungen der CP Asymmetrien undder CKM Matrix phänomenologisch untersucht. DieseAnalyse liefert einen Mittelwert von α = 105◦ ±12◦[hep-ph/0312303]. Die Messungen der Winkel α undβ sind mit deren indirekten Abschätzungen innerhalbdes Standardmodells in sehr guter Übereinstimmung.Das führt zum Schluss, dass die CP Asymmetrie inQuarkübergängen durch die Phase in der CKM Matrixdominiert ist.

Collider-Physik

Um die offene Frage der elektroschwachen Symme-triebrechung im Standardmodell schlüssig zu beant-

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worten, sind Experimente bei sehr hohen Energien er-forderlich. Selbiges gilt auch für die Lösung von Pro-blemen, die von der Einbettung des Standardmodells ineine übergeordnete Theorie ausgehen, in der die Gra-vitationswechselwirkung in die Teilchenphysik einge-baut wird. Eine Vielzahl theoretischer Untersuchungenzur Higgs-Physik und möglichen Alternativen sowiezur Supersymmetrie ist durchgeführt worden, in denendas Potenzial des im Bau befindlichen Protonencolli-ders LHC sowie der im Design-Stadium befindlichene+e−-Linearcollider fürdieseKomplexestudiertwurde.

Higgs-Physik

Das Standardmodell der elektroschwachen Wechsel-wirkung erklärt die intrinsischen Massen der Quarks,Leptonen und Eichbosonen durch ihre Wechselwirkungmit demHiggs-Feld,demimeinfachstenFall dasHiggs-Boson als neues skalares Teilchen zugeordnet wird. Fürdie Untersuchung der Higgs-Produktionsprozesse amLHC ist eine genaue Kenntnis der Untergrundprozessewichtig. Hier stellt die Implementierung der nächst-führenden Korrekturen zu W+2Jet-Endzuständen inMonte Carlo-Programmen [DESY 03-036] einen we-sentlichen Fortschritt dar.

In vielen Modellen ist die Struktur des Higgs-Sektorswesentlich komplizierter als im minimalen Standard-modell, im Extremfall ist selbst ein Kontinuum vonHiggs-Zuständen denkbar. Die Frage, ob überhauptHiggs-Zustände existieren, lässt sich am LHC jedochunabhängig von der Struktur unzweifelhaft entscheiden[DESY 03-102].

Für eine detaillierte Analyse des Higgs-Potenzials, dasim Standardmodell die elektroschwache Symmetrie-brechung beschreibt, ist die Bestimmung der Higgs-Selbstkopplung von wesentlicher Bedeutung. DieseMessung ist am LHC nur für große Higgsmassen mög-lich. Falls hingegen die Masse des Higgs Bosons imdurch die LEP-Daten bevorzugten Bereich liegt, istdiese Observable an einem e+e−-Collider zugänglich.Die Präzision dieser Messung ist auch durch einen Ha-droncollider wesentlich höherer Energie (VLHC) nichtzu übertreffen [DESY 03-035, 103].

Ohne eine Erweiterung des Teilchenspektrums überdas minimale Standardmodell hinaus ist das Higgs-Potenzial nicht stabil gegenüber Quantenkorrekturen.

Man erwartet daher Abweichungen in den Higgs-Wechselwirkungen, die durch die Existenz zusätzlicherFreiheitsgrade im TeV-Bereich hervorgerufen werden.In einem modellunabhängigen Zugang lassen sich diesedurch einen festen Satz neuer Parameter beschreiben,die in Higgs-Prozessen an einem e+e−-Collider gemes-sen werden [hep-ph/0301097]. Die erwartete Genauig-keit für die verschiedenen Parameter liegt im Bereichvon 1–10 %.

Little-Higgs-Modelle

Eine mögliche Alternative zur Supersymmetrie stel-len die ,,Little-Higgs“-Modelle dar, die die Skala derelektroschwachen Symmetriebrechung durch Partner-teilchen gleicher Statistik stabilisieren. Ein minimalesModell dieser Art enthält beispielsweise schwere Ko-pien der elektroschwachen Eichbosonen (W±

H, ZH undBH), schwere Skalarfelder als Partner des Higgs Bosonsund schwere Fermionen, die dem Top-Quark zugeord-net sind. In [DESY 03-167] wurde die Frage detail-liert untersucht, wieweit sich diese Teilchen an Lepton-Collidern in Präzisionsmessungen indirekt bemerkbarmachen.

Abbildung 56: Erlaubte (S, T)-Parameterbereiche desminimalen Little-Higgs-Modells (schraffiert) im Ver-gleich mit LEP-Daten (Ellipsen), dargestellt für ver-schiedene Higgs-Massen MH.

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Theoretische Physik

DieexistierendenDaten lassenbereitsRückschlüsseaufden erlaubten Parameterbereich zu. Abbildung 56 zeigtden Einfluss der schweren Eichbosonen und Skalare aufdie Parameter S und T, die bei LEP1 gemessen wur-den. Im minimalen Little-Higgs-Modell ist demnacheine Überschneidung des erlaubten Parameterbereichsmit den Daten nur zu erreichen, wenn die charakteris-tische Skala F des Modells oberhalb von 4 TeV ange-siedelt ist. Varianten des Modells erlauben allerdingseine wesentlich niedrigere Massenskala.

An einem zukünftigen e+e−-Linearcollider wird ein er-weiterter Satz von Observablen der Messung zugäng-lich, so dass die Analyse prinzipiell eine Rekonstruktionaller Sektoren des Modells zulässt. Die zu erwartendenEffekte sind im Prozentbereich und erfordern deshalbfür eine ausreichende Statistik eine hohe Luminosität,wie sie für das TESLA-Design avisiert ist.

Dynamische Symmetriebrechung

Modelle mit dynamischer Brechung der elektroschwa-chen Symmetrie kommen ohne ein physikalischesHiggs Boson aus und sagen Vektorboson-Streuamplitu-den vorher, die im TeV-Bereich die Unitaritätsschrankesaturieren und womöglich ein ausgeprägtes Resonanz-verhalten aufweisen.

Derartige Szenarien wurden exemplarisch in [DESY03-002] studiert. Weil das Top-Quark mit seiner großenMasse in diesen Modellen eine wichtige Rolle spielt,sind insbesondere Resonanzen in den StreuprozessenWW/ZZ → tt oberhalb von 1 TeV von Interesse. Aller-dings zeigt die numerische Analyse, dass am LHC einehinreichende Reduktion des Untergrunds, der durchQCD-Abstrahlung in Top-Paarproduktion dominiertist, auch durch kinematische Schnitte nicht möglichwird, so dass eine Beobachtung derartiger Signale anHadron-Collidern ausgeschlossen ist. Allein mit einemLepton-Collider ausreichend hoher Schwerpunktsener-gie wären die Effekte nachzuweisen.

Supersymmetrie

Im Rahmen von supersymmetrischen Theorien spieltdie hohe Präzision eine herausragende Rolle, mit derExperimente an einem e+e−-Linear Collider dieses

Abbildung 57: Erwartete Präzision der vergleichendenMessung von zwei Yukawa-Kopplungen (g, g′)mit ihrenkorrespondierenden Eichkopplungen (g, g′).

neue physikalische Terrain kartographieren können.Besonders wichtig ist dabei die Untersuchung der ska-laren Leptonen, also der supersymmetrischen Partnervon Elektronen, Myonen und Tauonen und ihrer Neutri-nos. Die theoretische Basis wurde bereitgestellt, umihreEigenschaften, Massen und Kopplungen, sehr präzisebestimmen zu können.

Abbildung 57 zeigt einen Vergleich von Eichkopplun-gen und Yukawa-Kopplungen dieser Teilchen, die vonder Supersymmetrie als identisch vorausgesagt werden[DESY 03-111] – ein fundamentaler Test der zugrundeliegenden Symmetrie, die Fermionen mit Bosonen ver-einheitlicht. Die Messung von Polarisationsphänome-nen an einer solchen Maschine erlaubt es, auch an-dere Basisparameter wie den Mischungswinkel tg β imHiggs-System zu bestimmen [DESY 03-030]. DieseSchritte sind notwendig, um ein so klares Bild der super-symmetrischen Welt zu erstellen, dass sichere Extrapo-lationen zur Planck-Skala ausgeführt werden können,an der die Gravitation mit den drei Standardwechselwir-kungen der Teilchenphysik ultimativ vereinigt werdenkann.

Fast alle Untersuchungen zur Supersymmetrie basierenin ihren Details auf der minimalen Formulierung der su-

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persymmetrischen Theorie. Superstringtheorien auf deranderen Seite legen die Existenz umfassenderer Kom-plexe nahe. Einen ersten Schritt in diese Richtung weistdie Erweiterung des minimalen Modells mittels iso-skalarer Higgs Bosonen. Solche Freiheitsgrade lassenzwar die physikalischen Grundzüge des Higgs-Sektorsunberührt, führen jedoch zu faszinierenden Effektenim Spektrum der Higgs Teilchen, ihren Zerfalls- undProduktions-Eigenschaften [DESY 03-066].

Gluinopaare lassen sich an Linearbeschleunigern nurin Photon-Photon-Kollisionen erzeugen, da sich in derElektron-Positron-Vernichtung die Quark- und Squark-Schleifenbeiträge weitgehend aufheben. Durch Ener-gieabtastung der Produktionsschwelle kann die Gluino-Masse bei Photon-Collidern bis auf wenige GeV genaubestimmt werden [hep-ph/0303032].

Es sei schließlich angemerkt, dass die Supersymme-trie auch Einfluss auf Reaktionsamplituden von Teil-chen des Standardmodells sui generis nimmt. Virtuellesupersymmetrische Teilchen verändern Reaktionsratenund Polarisationszustände [DESY 03-004] gegenüberdem Standardmodell.

Neutrinophysik und Kosmologie

Wechselwirkungen schwerer Majorana-Neutrinos inder thermischen Phase des frühen Universums kön-nen die Ursache für die heute beobachtete Materieim Universum sein. Dieser Mechanismus der ,,Lep-togenese“ führt zu Vorhersagen für die Massen derleichten Neutrinos sowie ihrer schweren ,,Seesaw“-Partner. Im einfachsten Fall der Leptogenese, in demdie Wechselwirkungen des leichtesten Seesaw-Partnersdominieren, erhält man die obere Schranke an alleNeutrinomassen mνi < 0.1 eV – eine Vorhersage, die inden kommenden Jahren durch Laborexperimente undkosmologische Beobachtungen überprüft werden wird[DESY 03-001].

Die Analyse der solaren und atmosphärischen Neutri-nos weist auf Neutrino-Massen hin, die sehr viel kleinersindalsdieMassenandererLeptonenundQuarks.Diesekleinen Neutrino-Massen sind in vielen Modellen durchPhysik bei hohen Energieskalen bestimmt. Die Vorher-sagen dieser Modelle werden durch Quantenkorrektu-ren modifiziert. Letztere wurden in [DESY 03-065] fürden Fall des Seesaw-Neutrino-Massenoperators syste-

matisch analysiert. Interessanterweise liegt die Größeder Korrekturen häufig im Bereich der Sensitivitätenzukünftiger Experimente. Die genaue Kenntnis der Kor-rekturen liefert somit wesentliche Aufschlüsse über diePhysik bei hohen Energieskalen.

In höherdimensionalen supersymmetrischen Theorienwerden Eichkopplungen in der Regel dynamisch durchskalare Felder bestimmt. Damit verändern sich dieKopplungen unter extremen Bedingungen, insbeson-dere bei hohen Temperaturen im frühen Universum.Dieser Effekt beeinflusst entscheidend die Häufig-keit von Gravitinos. Sollten sie die leichtesten Super-teilchen sein, so kann ihre Existenz die beobachtetedunkle Materie erklären für Gluinomassen im Bereich0.5−2.0 TeV [DESY 03-078].

Die Existenz komplexer Skalarfelder ist eine unver-meidliche Eigenschaft supersymmetrischer Theorien.Im frühen Universum führen diese Felder häufig zuEntropiefluktuationen, die durch die präzisen Messun-gen der kosmischen Hintergrundstrahlung stark einge-schränkt sind. In [DESY 03-097] wurde das ,,Curvaton-Scenario“ für Moduli-Felder, Affleck-Dine-Felder unddie Skalarfelder rechtshändiger Neutrinos untersuchtund der erlaubte Parameterbereich für die jeweiligenModelle ausgearbeitet.

Kosmische Neutrinos mit Energien oberhalb von108 GeV könnten Informationen über die Teilchen-physik bei Skalen jenseits der Reichweite von LHCoder eines linearen e+e− Beschleunigers liefern. Eineuntere Schranke an den bei diesen Energien zu er-wartenden Neutrinofluss konnte in [DESY 03-114]gewonnen werden. Demnach sollte es mit in Auf-bau befindlichen Neutrinoteleskopen, wie z. B. Ice-Cube, möglich sein, zum ersten Mal die kosmo-genen Neutrinos, die bei unelastischen Stößen vonkosmischen Protonen mit Photonen der kosmischenMikrowellenhintergrundstrahlung entstehen, zu beob-achten. Diese Neutrinos könnten auch eine wich-tige Rolle in Luftschauerexperimenten spielen: fallsnämlich die Neutrino-Nukleonstreuung oberhalb von1010 GeV stark wird – etwa durch elektroschwacheInstantoneffekte innerhalb [DESY 03-008, 076] oderdurch TeV-Gravitationseffekte außerhalb des Standard-modells – dann könnten die rätselhaften beobachtetenkosmischen Strahlen der höchsten Energien oberhalbvon 1011 GeV in der Tat Neutrinos statt Protonen sein[DESY 03-022, 163].

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Vereinheitlichte Theorien

Theorien, die elektroschwache und starke Wechselwir-kung aus einer vereinheitlichten Eichtheorie ableiten,gehören zu den am besten motivierten Erweiterungendes Standardmodells. Im Zusammenhang mit der Evi-denz für Neutrinomassen und -mischungen ist spezielldie Eichgruppe SO(10) von aktuellem Interesse. DieBrechung dieser Symmetrie auf die Standardmodell-Gruppekann,ausgehendvoneiner supersymmetrischenTheorie in sechs Raum-Zeit-Dimensionen, auf einfacheWeise mit Hilfe einer ,,Orbifold-Kompaktifizierung“realisiert werden. In Weiterentwicklung früherer Ar-beiten wurde in [DESY 03-045] ein realistischessechsdimensionales SO(10)-Modell konstruiert, das diedetaillierte Struktur der Quark- und Lepton-Massen-matrizen aus der Mischung von Bulk- und Brane-Feldern erklärt. In Modellen, die auf noch größerenSymmetriegruppen, wie E7 oder E8, beruhen, bestehtsogar die Möglichkeit, den Teilchengehalt des Stan-dardmodells und das Auftreten von drei Fermion-Generationen aus der höherdimensionalen supersym-metrischen Eichtheorie zu erklären [DESY 03-069](Abb. 58). Des Weiteren kann die für Orbifold-Modellecharakteristische Symmetriebrechung an Singularitä-ten in bestimmten Fällen auf die Topologie sehr ein-facher ,,glatter“ Räume zurückgeführt werden [DESY03-158].

Interessante phänomenologische Implikationen habenfünfdimensionale Theorien, in denen die vierdimensio-nale Metrik von der fünften Dimension abhängt.

Insbesondere kann die Lokalisierung der Fermionen inder fünften Dimension zu neuartigen Vorhersagen fürdie Verletzung der Flavour-Quantenzahlen [DESY 03-037]undfürdieRealisierungdesSeesaw-Mechanismuszur Erzeugung von Neutrino-Massen [DESY 03-110]führen.

Die meisten vereinheitlichten Theorien sind supersym-metrisch und haben somit das für die Supersymmetriecharakteristische Problem, die Größe des so genann-ten µ-Terms im Higgs-Potenzial zu erklären. In [DESY03-018] wurde ein Lösungsvorschlag vorgestellt, derauf nichtanomalen diskreten R-Symmetrien basiert undim Rahmen von vereinigten SU(5)-Modellen imple-mentiert werden kann. Neben der korrekten Größe desµ-Terms wird dabei ein leichtes Gravitino vorhergesagt.

Abbildung 58: Eine mögliche Orbifold-Geometrie zurBrechung der Eichgruppe E8 durch Wilson-Linien an3 konischen Singularitäten.

Eine vieldiskutierte Alternative zur Vereinigung derEichkopplungen bei einer hohen Energieskala stellenstringtheoretische D-Brane-Konstruktionen mit nied-riger String-Skala dar. In [DESY 03-203] wurde un-tersucht, wie es in solchen Modellen zu realistischenFlavour-Strukturen kommen kann und welche untereSchranken an die String-Skala sich in diesem Zusam-menhang ergeben.

Da das Standardmodell Fermionen und Bosonen ent-hält, sind vereinigte Theorien auf der fundamentalstenEbene anscheinend immer auf eine mit der Poincare-Gruppe verträgliche Symmetrie zwischen Fermionenund Bosonen, also auf die Supersymmetrie, angewie-sen. Eine radikale Alternative wäre dadurch vorstellbar,dass die Welt bei höchsten Energieskalen rein fermio-nisch ist und Bosonen durch Kondensate beschriebenwerden. Ein möglicher Schritt in diese Richtung wurdein [DESY 03-090] mit der rein fermionischen Formu-lierung einer höherdimensionalen Gravitationstheoriegegangen.

Es gibt starke theoretische Argumente, die für die Exis-tenz von sehr leichten und sehr schwach wechselwir-kenden skalaren oder pseudoskalaren Teilchen jenseits

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des Standardmodells sprechen. Ein prominentes Bei-spiel ist das Axion, welches im Rahmen einer natür-lichen Lösung des starken CP-Problems als Pseudo-Nambu-Goldstone-Boson einer spontan gebrochenenSymmetrie auftritt, die sich in vereinheitlichte Theo-rien einbetten lässt. In [DESY 03-057] wurde auf-gezeigt, dass sich nach der Außerbetriebnahme vonHERA eine einzigartige Chance für die Suche nachsolchen Teilchen eröffnet: man könnte die supraleiten-den HERA-Dipolmagnete in Laserexperimenten wie-derverwenden, welche nach Photonregeneration oderPolarisationseffekten in starken Magnetfeldern suchen.Dabei könnte eine Sensitivität erreicht werden, welcheandere reine Laborexperimente um mehr als drei Grö-ßenordnungen übertrifft und selbst astrophysikalischeGrenzen in den Schatten stellt.

Stringtheorie

Seit dem 1.1.2003 arbeitet eine neu installierte Grup-pe mit Arbeitsgebiet ,,Stringtheorie und supersym-metrische Quantenfeldtheorien“ am II. TheoretischenInstitut der Universität Hamburg. Dabei standen im Be-richtszeitraum teilchenphysikalische Aspekte im Vor-dergrund. Die Berechnung der effektiven Wirkung alsNiederenergie-Limesder Stringtheorie ist indiesemZu-sammenhang von besonderem Interesse. Diese effek-tive Wirkung beinhaltet Skalarfelder mit flachem Poten-zial (Moduli), und physikalische Größen wie Massen,Eichkopplungen und Yukawa-Kopplungen hängen vonden Vakuumerwartungswerten dieser Skalarfelder ab.Generisch ist diese effektive Wirkung singlär, wennzusätzliche Felder leicht (oder masselos) werden. Eskonnte gezeigt werden, dass durch geeignete Hinzu-nahme der leichten Felder immer eine nicht-singuläreWirkung konstruiert werden kann.

Die Berechnung der effektiven Wirkung stand auch imMittelpunkt der Arbeit [hep-th/0312232]. Hier wurdeeine Klasse von Stringmodellen untersucht, in denen dieMateriefelder (also das Standardmodell) auf einer D3-Brane lokalisiert sind. Die zehndimensionale Raum-zeit der Stringtheorie wurde auf einer sechsdimensio-nalen Calabi-Yau Mannigfaltigkeit kompaktifiziert unddie Kopplungen der Materiefelder an die Moduli derCalabi-Yau Mannigfaltigkeit berechnet. Durch das An-schalten von Hintergrundflüssen kann Supersymmetrie

spontan gebrochen werden. Dadurch war es möglich,die weichen Brechungsterme der Supersymmetrie zuberechnen. Diese Brechungsterme sind von teilchen-physikalischem Interesse, da sie z. B. die Massen dergesuchten supersymmetrischen Teilchen bestimmen.

Supersymmetrische Feldtheorien werden auch unab-hängig von der Stringtheorie als mögliche Erweite-rungen des Standardmodells betrachtet. Sie beinhal-ten generisch ein stabiles, schwach wechselwirkendesTeilchen, das als aussichtsreicher Kandidat für dunkleMaterie diskutiert wird. Je nach Beschaffenheit dieserWIMPs sind bereits geplante Experimente für derenNachweis sensitiv [DESY 03-024].

Stark gekoppelte supersymmetrische Feldtheorienwerden auch als einfache QCD-artige Modelle unter-sucht. Wegen der vereinfachten Quanteneigenschaf-ten supersymmetrischer Theorien lassen sich nicht-störungstheoretische Aspekte besser kontrollieren.Motiviert durch stringtheoretische Überlegungen hates auf diesem Gebiet wesentliche Fortschritte gegeben.Es wurde ein Vergleich dieser analytischen Vorhersa-gen mit den bestehenden numerischen Simulationenauf dem Gitter durchgeführt. Überraschenderweise er-gaben sich deutliche Diskrepanzen im Spektrum derGluebälle, die nicht komplett ausgeräumt werden konn-ten. Hier sind weitere Untersuchungen notwendig undwichtig.

Einen Zusammenhang zwischen (supersymmetrischer)QCD und Stringtheorie wird auch im Rahmen derAdS/CFT-Korrespondenz vermutet. Dabei wird nahe-gelegt, dass im Limes starker Kopplung Quantenfeld-theorien durch Supergravitationstheorien in fünf Raum-zeit Dimensionen beschrieben werden. Auf diesemaktiven Arbeitsgebiet hat es im vergangenen Jahr inter-essante Entwicklungen gegeben, und eine kontrollierteStörungstheorie für eine bestimmte Klasse von Opera-toren konnte vorgeschlagen werden. Aspekte der dualenSupergravitationstheorien wurden in [DESY 03-186]erarbeitet.

Quantengravitation

Die allgemein kovariante lokale Formulierung derQuantenfeldtheorie, die in den letzten Jahren in un-serer Arbeitsgruppe entwickelt worden ist [DESY 02-

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063], wurde auf das äußere Feld-Problem in der Quan-tenelektrodynamik [DESY-THESIS 04-002] und aufdie thermodynamischen Eigenschaften von Zuständenin Robertson-Walker-Raumzeiten angewandt. Erstmalsgestattet die neue Methode eine lokale Festlegung derRenormierungsbedingungen und ermöglicht dadurchdenVergleichphysikalischerEigenschaften inverschie-denen Raumzeiten. Im Prinzip erlaubt sie auch eine hin-tergrundunabhängige Quantisierung der Gravitation,wobei allerdings das Problem der Nichtrenormierbar-keit nicht gelöst wird.

Neben diesen Untersuchungen, bei denen eine kon-tinuierliche Raumzeit vorausgesetzt wird, wurden dieArbeiten an einer Ausdehnung der Konzepte der Quan-tenfeldtheorie auf eine nichtkommutative Raumzeitfortgesetzt. Diese Arbeiten sind motiviert durch dieVermutung, dass die Nichtkommutativität der Raum-zeitkoordinaten eine approximative Beschreibung von

Quanteneffekten der Gravitation gestattet. Die Arbei-ten konzentrierten sich auf die Fragen des geeignetenLokalitätsbegriffs, der Eichinvarianz, der Renormier-barkeit und der Unitarität [DESY-THESIS-04-004].Ausgehend von der Überlegung, dass in einer nicht-kommutativen Raumzeit Punkte nicht zusammenfallenkönnen, wurde eine ultraviolett-endliche Version einerQuantenfeldtheorie vorgestellt [DESY 03-006].

Ein anderer Ansatz beruht auf der Möglichkeit, auf dis-kretisierten Raumzeiten nichtkommutative Differenti-alkalküle einzuführen. Es konnte gezeigt werden, dassGravitation als eine verallgemeinerte Eichtheorie in ei-nem solchen Rahmen behandelt werden kann, wobeiman die Palatini-Wirkung zugrunde legt. Dieser An-satz, in dem die Forderung der Unitarität der Paral-leltransporter aufgegeben wird, wirft ein interessan-tes neues Licht auf das Auftreten der Higgsfelder[hep-ph/0305331, hep-lat/0305026].

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