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Ergänzende Notizen aus der Arbeit für das Hauptseminar „Kosmologie und Anthropologie bei Pascal“ (T.Jähnichen / Th.Bonhoeffer), WS 2004/2005 von Thomas Bonhoeffer I. Unsere Ausgangsfrage und Pascals Antwort 2 II. Historischer Hintergrund 2 1. „Pyrrhonisten“ 2 a) Die antike Skepsis 2 b) Michel de Montaigne (1533-1592) 4 c) Pierre Charron (1541-1603) 10 2. Renaissance 10 3. Frankreich 10 4. De iustitia et iure 11 5. Richelieu 12 6. Libertins 12 Literatur und Überblick 12 Calvinistische Opposition 12 Freidenker des XVII e Jahrhunderts 13 Freunde Pascals 16 7. Religiosi 16 François de Sales (1567-1622) 16 Pierre Bérulle (1575-1629) 16 Vincent de Paul (1580-1660) 17 Jean Ambroise Duvergier, Abbé von St. Cyran (1581-1643) 17 Port Royal 18 Marin Mersenne (1588-1648) 18 III. Zu Person und Werk Pascals 20 IV. Zu Pascals Theologie 22 V. Zu den Ausgaben der Pensées 23

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Ergänzende Notizen aus der Arbeit für das Hauptseminar

„Kosmologie und Anthropologie bei Pascal“ (T.Jähnichen / Th.Bonhoeffer), WS 2004/2005

von Thomas Bonhoeffer

I. Unsere Ausgangsfrage und Pascals Antwort 2

II. Historischer Hintergrund 2

1. „Pyrrhonisten“ 2

a) Die antike Skepsis 2

b) Michel de Montaigne (1533-1592) 4

c) Pierre Charron (1541-1603) 10

2. Renaissance 10

3. Frankreich 10

4. De iustitia et iure 11

5. Richelieu 12

6. Libertins 12

Literatur und Überblick 12

Calvinistische Opposition 12

Freidenker des XVIIe Jahrhunderts 13

Freunde Pascals 16

7. Religiosi 16

François de Sales (1567-1622) 16

Pierre Bérulle (1575-1629) 16

Vincent de Paul (1580-1660) 17

Jean Ambroise Duvergier, Abbé von St. Cyran (1581-1643) 17

Port Royal 18

Marin Mersenne (1588-1648) 18

III. Zu Person und Werk Pascals 20

IV. Zu Pascals Theologie 22

V. Zu den Ausgaben der Pensées 23

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I. Unsere Ausgangsfrage und Pascals Antwort

Es geht uns um Anthropologie (Sein) als Grundlage der Ethik (Sollen).

Pascal sieht den Menschen in einem Chaos von Symboliken irren.

Der Kosmos gibt keine Orientierung mehr.

Die Heilsgeschichte orientiert auf Jesus.

Durch Jesus spricht Gott mit uns.

Jesus gibt uns zu verstehen, was wir sollen – insbesondere: was wir zu unserm

Heil in dieser heillosen Welt tun sollen.

Beispiel: die drei Reden über den Stand der großen Herren.

II. Historischer Hintergrund

1. „Pyrrhonisten“

Wenn Pascal von Pyrrhonisten redet, bezieht er sich auf Charon und Montaigne.

a) Die antike Skepsis

Spätantike und Mittelalter haben nicht ohne Schaden nach Kräften an dieser Tradition

vorbeigelebt.

Als noch ergiebigste Quellen für den alten Pyrrhonismus sind uns erhalten die spätesten:

Sextus Empiricus und Diogenes Laertius. Viele Einzelfragen dieser Geschichte differenzierter

Reflexion können nur grob beantwortet werden.

Ich folge hier Ueberweg I, 12. Aufl. 1926 (K.PREACHTER).

In der „völlig neu bearbeiteten Ausgabe“, 1994, hat im entsprechenden Teil (Die Philosophie der Antike) in Bd.

4.2 W.GÖRLER die schwierige Quellenlage für die ältere Skepsis dargelegt. Für den späteren Pyrrhonismus ist

hier eine Darstellung von RICHARD BETT zu erwarten.

BETT hat 2000 bereits mit Pyrrho, His Antecedents and his Legacy, eine überzeugende Rekonstruktion der

philosophischen Profile von Pyrrho, Aenesidem und Sextus vorgelegt!

Σκεπηεζθαι = überlegen. Πςππυνειοι ist Selbstbezeichnung; sie heißen auch εθεκηικοι,

αποπηηικοι.

Mir scheint, ihr Hauptverdienst liegt in der Relativierung der Subjekt/Prädikat-Struktur (die

der klassischen, „dogmatischen“, Wissen und soziale Ordnung sichernwollenden Ontologie

zugrunde liegt) als nur kontextbezogen problemanalytisch relevant, also umsichtig zu

gebrauchen.

Es gibt nur vielfältig umständebedingte Ver-„bind“-lichkeit, symbolische Einge“bund“enheit

des Einzelnen, durchaus mit Symbolen von für sein Gewissen unbegrenzter, deshalb

identitätsstützender (αηαπαξια!) Tragweite.

(1) Die Anfänge

Pyrrhon von Elis (Zeit Alexanders des Großen) hat nur mündlich gelehrt. Er war

ursprünglich Maler. Von hier aus ist plausibel, daß der Pyrrhonismus die (beirrenden)

Erscheinungen ernster nimmt als klare Konzepte und Hypothesen. Aus diesem

Wahrnehmungsfeld stammen auch einige Beispiele! Bescheiden. Treuer Bruder.

Als seine Lehre wird überliefert, die Dinge seien unserer Erkenntnis unzugänglich oder

unerfaßbar (ακαηαληπηα). Man könne nicht urteilen. Jedes Urteil sei nur νομυ και εθει, nichts

sei ηη αληθεια, θςζει wahr. Man müsse sich des Urteils enthalten, επεσειν. Zwischen einem

Urteil und seinem kontradiktorischen Gegenteil bestehe das Gleichgewicht (αππετια) der

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Unwahrheit – dies betont Sextus Empiricus). Und das ist auch rekursiv selbstkritisch

anzuwenden!

Moralisch bedeutet dies, daß alles Äußere gleichgültig (αδιαθοπον), nur subjektiv gut oder

böse ist; Gleichmut, αηαπαξια , nihil appetendum.

Nicht dogmatisch, sondern „apodeiktisch“ reden! (Diogenes Laertius 77)

„Überredende Einwirkung der Dinge auf uns“ (DL 78)

Ursachen DL 97f.

Gegenstände des Wissens sind die Erscheinungen als solche, auch unser Denkakt.

Timon, anfangs Chortänzer, dann erst in Megara Stilpons und schließlich in Elis Pyrrhos

Schüler, höchst produktiver Dichter und Schriftsteller – unter anderm philosophische Σιλλοι

(Parodien) – , Philosophielehrer in Chalkedon, endlich Athen.

Er macht, gegen ein Übereinkommen von Sinnen und Verstand als Wahrheitskriterium,

geltend, daß beide, allein für sich, trügen können.

(2) Mittlere und neuere Akademie

In Platonischer Tradition lehrt die „zweite“ („Mittlere“) Akademie (Arkesilaos), gegen den

stoischen Dogmatismus der καηαληπηικη θανηαζια (mit voller Klarheit das Objekt

begreifende, und dadurch das Subjekt zur Zustimmung nötigende, Vorstellung) als

Wahrheitskriteriums, bezüglich der Erscheinungswelt das εςλογον (wohlbegründet) und die

Wahrscheinlichkeit (πιθανοηηρ). Von Arkesilaos stammt auch die Maxime der εποση, der

Zurückhaltung des Urteils.

In der „dritten“ („Neueren“) Akademie arbeitete Karneades die Theorie der

Wahrscheinlichkeit (εμθαζιρ =suggestive Erscheinung [von φαιν- !], δηλον) aus. Er

unterscheidet unter dem Vorzeichen der Unbegreiflichkeit, drei Stufen der Wahrscheinlichkeit

von Vorstellungen: einfache (πιθαναι), unbestrittene (απεπιζπαζηοι) und διεξυδεςμενοι,

πεπιυδεςμενοι (allseitig geprüfte) Wahrscheinlichkeit. Das ist nötig zum Handeln!

Entkräftet die Beweise, die der Stoiker Chrysipp für seine widersprüchliche Lehre vom

persönlichen Gott führt.

Antiochus von Askalon hebt als Wesentlich die Gemeinsamkeiten von Platonismus,

Aristotelismus und Stoa hervor.

Zur Neueren Akademie bekannte sich auch Cicero, der das Wiederaufleben des Pyrrhonismus

in Aenesidem nicht mehr wahrgenommen hat. (Auf Cicero fußt AUGUSTIN, der in Contra

Academicos pyrrhonistisch argumentiert. Auf dieser Basis hielten dann unsre Kirchen die

Skepsis für erledigt.)

Philon von Larisa begründet die „vierte“ Akademie. Es gibt Wahrheiten, die nicht

wissenschaftlich erfaßt und begründet werden können, aber für unsere Seele greifbar und

augenscheinlich sind.

(3) Der spätere Skeptizismus

Aenesidém (jüngerer Zeitgenosse Ciceros) setzt sich von der Akademie ab und knüpft wieder

an den alten Pyrrhonismus an.

Eine kurze polemische Inhaltsangabe von seinem Hauptwerk ist aus der Feder des orthodox-

dogmatischen Patriarchen PHOTIUS erhalten (der bei der ost-westlichen Kirchenspaltung die

Hauptrolle spielte).

Man kann Aenesidem als Relativisten verstehen; das „Gleichgewicht der Unwahrheiten“ wird

wohl erst von Sextus in den Vordergrund gestellt.

Die Katalogisierung von zehn „Tropen“ = Argumentationsfiguren des Infragestellens alles

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Wahrnehmens und Urteilens (DL 79-88), ηποποι (auch ηοποι oder λογοι) ηηρ εποσηρ, stammt

wohl von Aenesidem.

Agrippa (2.Jh.) fügt den zehn konkreteren noch 5 formellere Tropen hinzu (DL 88f.)

Jeder Syllogismus ist ein Zirkelschluß; denn jede Propositio maior wäre nur durch

vollständige Induktion, also auch schon die Conclusio, zu begründen.

Sextus Empiricus ist nur bei Diogenes Laertius Σεξηορ ο εμπειπικορ genannt.

Aus der antiken Skepsis sind nur von ihm sind vollständige Schriften erhalten; sie sind unsre

Hauptquelle für die antike Skepsis überhaupt. Er schrieb – etwa in der Zeit der christlichen

Apologeten – :

Πσρρωνιοι Υποτσπωσεις (Grundriß des Pyrrhonismus),

ferner: zwei Sammlungen von kritischer Besprechung bestimmter Zielgruppen (in

chronologisch umgekehrter Reihenfolge zusammengefaßt, als Adversus Mathematicos):

1. „Υπομνημαηα“ gegen die Dogmatiker (I und II [Math VII und VIII] gegen die Logiker, III

und IV [Math IX und X] gegen die Physiker, V [Math XI] gegen die Ethiker),

2. Gegen die Lehrer der freien Künste (Grammatiker[Math I], Rhetoriker[Math II],

Geometer[Math III], Arithmetiker[Math IV], Astrologen[Math V] und Musikologen[Math VI]).

In LOEB’s Classics vol. I: Outlines of Pyrronism,

vol. II-IV Adversus Mathematicos Ππορ Μαθεμαηικοςρ

– vol. II Against the Logicians Ππορ Λογικοςρ, (aM VII,VIII)

– vol. III Against the Physicists Ππορ Φςζικοςρ (aM IX, X) Against the Ethicists Ππορ Ηθικοςρ (aM

XI),

– vol. IV Against the Professors, Ππορ Γπαμμαηικοςρ … (aM I-VI).

Sextus stellt (PH I, 1) die Skeptiker als diejenigen, die suchen, zwischen die Dogmatiker (die

meinen, gefunden zu haben) und die Akademiker (die Finden für unmöglich erklären).

Den (von Galen oft genannten) skeptischen Arzt Menodot Μενοδοηορ ο εμπειπικορ nennt der

(von Diogenes Laertius „Empiriker“ genannte) Sextus nur als Plato-Interpreten einmal

nebenbei!

Die Schule der empirischen Ärzte anerkennt nur Feststellung der Wirkung von Heilmitteln

(als Ursachen), aber nicht von Krankheits-Ursachen.

Pyrr.Hyp III 1: Man redet von Material- und Wirk-Ursachen (δπαζηικαι απσαι). Als die

effizienteste Ursache gilt Gott. Sextus versichert gleich eingangs, ηυ βιυ ακολοςθοςνηερ

αδοξαζηυρ θαμεν ειναι θεοςρ και ζεβομεν θεοςρ και ππονοειν αςηοςρ θαμεν. Aber wir sind

die einzigen, die zugeben, keine εννοια von Gott zu haben.

(4) Kritik

Die skeptische (in der Tat: die landläufige) Religion ist konservativ. Sie wird ihrerseits

mörderisch (Montaigne!), wenn Desintegration des lebenssichernden Kollektivs durch einen

Unglauben droht.

Der Begriff „Agnostizismus“ ist als polemischer Gegenbegriff zu „Gnostizismus“ von

THOMAS HUXLEY ( † 1895) gebildet worden. Er setzt also ein Einverständnis darüber voraus,

was Erkenntnis und Gnosis heißen sollte.

b) Michel de Montaigne (1533-1592)

Wesentlich er bringt in unsrem Kulturkreis die antike skeptische Tradition wieder zur

Geltung. Er kennt sie zwar auch theoretisch durch Cicero und Sextus Empiricus. Aber für die

theoretische Feinarbeit hat er nichts übrig. Wichtig ist ihm die Lebenserfahrung, wie

Plutarch, ein von der mittleren, skeptisch gewordenen Akademie geprägter (Sympathie für

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das „επεσειν“ Mor. 955C) Praktiker, sie ihm repräsentiert. (Schon Diogenes Laertius ist ihm

zu theoretisch.) Ungeachtet aller Skepsis, schätzt er den praxisnahen Stoiker Seneca ebenso

hoch wie den Plutarch.

Die skeptische Devise επεσυ hat er sich wohl aus SEXTUS EMP., Pyrrh. I 196, angeeignet.

(1) Literatur

PIERRE VILLEY, Les Sources et l’Evolution des Essais de Montaigne, 21933, Neudruck

Osnabrück 1976 (in UB Bochum)

DERS., Les Essais de Michel de Montaigne, 3 vol., Alcan, 1922 ; PUF 21930 ; 1965 1 vol. (in

UB Bochum)

SOPHIE JAMA, L’histoire juive de Montaigne, Paris 2001.

(2) Marannen

1384: Die Pest in Barcelona „von den Juden!“. 1391 ausgehend von Sevilla (dort 4 000

Opfer), landesweite Pogrome (70 000 Opfer, 10 000 Zwangstaufen), trotz königlicher

Versuche, die Juden zu schützen.

Ludwig XI. von Frankreich (1461-83) hieß Marannen zur Bevölkerung der Guyenne

willkommen.

Ende der Reconquista 1492 mit der Eroberung Granadas; wenige Monate später

Judenverfolgung. „Reines Blut“ gegen Mohammedaner und Juden. 1412 Zwangskleidung für

Juden. Der mit seinem Trupp im Land herumreisende Generalinquisitor Thomas von

Torquemada OP, Beichtvater von Ferdinand und Isabella von Kastilien, ist selbst ein Maranne

(†1498).

Maimonides rät, man solle lieber konvertieren als das Leben zu lassen. Durch Beitritt in einen

Orden kann man weiter die Heiligen Schriften studieren.

150 000 Juden emigrieren.

Moses Paçagon (Pazagon, Patagon), reicher Stoffhändler in Calatayud, (Großvater des

Großvaters) läßt sich taufen, ein Aristokrat steht Pate. Er nennt sich Garcia Lopez, zieht aus

dem Judenviertel in die Neustadt (Villanueva), später nach Saragossa, wird 1486 verurteilt,

kann aber in die Provence fliehen. Sohn Abraham → Gabriel; dessen Sohn Micer 1491

verbrannt. Dessen Nachkomme (in Toulouse) ist Vater (mit einer Ehefrau aus einer alten

französischen Familie) von Antoinette Lopez de Villanueva, der Mutter von Montaigne.

(Unklar, nach SOPHIE JAMA.)

1581 verbot Gregor XIII den Christen, jüdische Ärzte zu konsultieren.

Beim Karneval in Rom sieht Montaigne, wie Kinder, Juden oder nackte Greise um einen Preis

um die Wette laufen.

In Bordeaux gibt es 1734, nach aller Verfolgung auch in Südfrankreich, noch 350 jüdische

Familien, die sieben Synagogen gründen!

(3) Biographie

Väterlicherseits ist Urgroßvater Ramon Eyquem, vermöglicher Großkaufmann; Julius Caesar

Scaliger kennt ihn. Er kauft kurz vor seinem Tod 1477 den Adelssitz Montaigne nahe

Bordeaux.

Großvater Grimon Eyquem, ebenfalls erfolgreicher Kaufmann, bekommt in Bordeaux ein

politisches Amt (jurat).

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Vater Pierre macht militärische Karriere als Weg in den (niedrigsten) Adel (ecuyer, 1519); er

steigt durch mehrere Stufen zum Bürgermeister von Bordeaux auf. Er zieht sich aus dem

Seehandel zurück und gründet ein bureau des petites annonces. Er macht aus dem Landhaus

ein Schloß. Er neigt eher zum Aberglauben als zur Freigeisterei.

Die Familie hat starke jüdische Verbindungen.

In den Essais kein Wort von der Mutter, (∞ 1528). Sie stirbt über 90jährig, erst neun Jahre

nach Michels Tode, 1601.

(Auch von der iberischen Judenverfolgung findet sich in den Essais nur ein Referat aus der

Darstellung des Bischofs Osorio von der Behandlung der spanischen Flüchtlinge in Portugal,

die Montaigne immerhin als inhumanité qualifiziert.)

Michel wurde 1533 nach fünfjähriger Ehe geboren als ältester Sohn und Erbe. Bei seiner

Taufe stehen, nach dem Willen des Vaters, Bauern Pate.

Noblesse de robe.

Nach Latein als Muttersprache zuhaus (deutscher Hauslehrer hatte ihn continuellement entre

les bras), mit 6 Jahren aufs Collège in Guyenne (von einem Marannen geleitet mit mehreren

iberischen „nouveaux chrétiens“ als Lehrern) geschickt. Sowohl habe er hier nichts gelernt

wie auch auf der Universität man nicht Brauchbares lernt. (Hat er je studiert?)

Erlebt mit 15 Jahren die calvinistische Revolte in Bordeaux 1548 und deren brutale

Niederschlagung, – von der sein Vater (später angesehener Bürgermeister) als hoher Notabler

mitbetroffen ist.

Sein Bruder und wahrscheinlich seine Mutter neigten zum reformierten Christentum.

Er schätzte den Jesuitenstil, der die Herzen anspricht.

21jährig wird er „Parlamentarier“ (Kollegialrichter). Er schätzt an seinem Amt besonders die

Dienstreisen nach Paris. Er wirkt auf Fremde vertrauenswürdig.

25jährig, 1558, Freundschaft mit seinem Kollegen im Parlament von Bordeaux, Etienne de la

Boëtie (†1563, Montaigne ist 30). Er hatte ihn kennen gelernt durch dessen Schrift La

Servitude volontaire redigée en l’honneur de la liverté contre les tyrans. Hier erscheint die

Freundschaft das einzig mögliche Mittel gegen die Tyrannei. Er schrieb auch Contre le culte

des images et les mœurs des prêtres; auch er aber war konservativ und gegen Neuerungen die

zur Verwüstung des Landes führen.

Nach des Freundes Tod ersetzen die schriftlich-dialogischen, weitgehend autoanalytischen

„Versuche“ ihm sein alter Ego. Sophie Jama sieht darin auch Variationen zu Montaignes

jüdisch-christlicher Doppelidentität.

Durch Bildersturm ausgelöste, schwere konfessionelle Auseinandersetzungen mit den 7000

Hugenotten in der Stadt.

32-jährig, 1565, Heirat. (Fünf Töchter sterben.) Dem 35jährigen stirbt 1568 der Vater.

1671 zieht er sich, 38jährig, aus dem öffentlichen Dienst, in seine Bibliothek (mit

entsprechender Inschrift, 1000 Bände) zurück. Aber er denkt, lieber als im Sitzen, im Stehen,

spazieren gehend oder zu Pferde.

Ein halbes Jahr später wird er von Karl IX in die chambre du roi berufen und neu in die

Politik involviert.

1572 Batholomäus-Nacht. Bürgerkrieg bis 1574.

Lektüre der (soeben übersetzten) Moralischen Schriften von Plutarch; Beginn der Arbeit an

den Essais. Politische, historische, militärische Lektüre. Sextus Empiricus, Pyrronische

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Hypotyposen. 42jährig Wahlspruch: Επέσυ! Senecas Moralische Briefe und Plutarchs Viten

und Moralia sind seine Breviere.

39j, 1577 erste Nierensteine (wie schon sein Vater). Dazu kommen dann Gicht und

Rheumatismus.

Nach Abschluß seiner Essais (Bücher I und II) 1580 eine große Badereise durch Frankreich,

Schweiz und Italien.

Anschließend, 1581 in Abwesenheit auf Reisen gewählt, zwei vierjährige Amtsperioden lang

Bürgermeister von Bordeaux.

(4) Thema: „ Raimund von Sabunde“

(a) Raimundus Sibiuda

aus Katalonien (bei Montaigne : Sebon). Doktor der Medizin und Professor der Theologie an

der Universität Toulouse; dort sieben Jahre Rektor.

Liber Creaturarum 1436, in seinem Todesjahr, fertiggestellt. Erstdruck fünfzig Jahre später,

1484!

Zweitdruck 1485: „Theologia naturalis sive L.C...“

Im Geiste von Ramon Llull (1233-1315).

Von Paul IV 1559 indiziert; fünf Jahre später, 1564, wurde das Verbot auf den Prolog

beschränkt.

Weitere fünf Jahre später von Montaigne übersetzt und (mit umgearbeitetem Prolog) auf

Wunsch des Vaters 1569 gedruckt.

Ohne Prolog, hg. von J.E.Seidel, Sulzbach 1852,

photomechanischer Neudruck hiervon (aber wieder mit Prolog) hg. und eingeleitet von

Friedrich (!) Stegmüller 1966.

Der Prolog verspricht, daß dieses Buch jeden, ohne Vorbildung, alles in 14 Tagen lehrt, was

man wissen und glauben muß (bis hin zu den sieben Sakramenten), aufgrund der

Stufenordnung der Schöpfung – vom unbelebten Seienden hinauf zum vernünftigen, freien

Geschöpf – aus dem Buch der Natur, genauer: in der Selbsterfahrung der menschlichen Natur,

als sicheres Wissen ohne Bibel, – die ja doch nur wiederholt, was, für christlich erleuchetete

Augen, schon die Natur lehrt.

Dieses Buch war in frommen Laienkreisen im Spätmittelalter weit verbreitet und geschätzt.

(b) Übersetzung

MM erzählt in der Apologie (also gut dreißig Jahre später), Raimunds Liber Creaturarum sei

von dem damals hochgeschätzen Humanisten Pierre Bunel (†1546) seinem Vater geschenkt

und als nützlich gegen ein zu befürchtendes atheistisch-amoralisch vulgarisiertes Luthertum

empfohlen worden. [Luther war über den Mißbrauch der evangelischen Freiheit selbst verzweifelt.

In Deutschland macht Melanchthons Gesetzlichkeit das „Luthertum“ möglich!].

Dieser rationalistische Versuch will die Atheisten mit ihren eigenen Waffen schlagen.

Das Buch ist besonders bei Damen beliebt.

1559 –1564 steht das ganze Werk, seit 1564 noch der Prolog auf dem päpstlischen Index der

verbotenen Bücher. Im Hause Montaigne bleibt das Buch bis kurz vor dem Tode (†1568) des

Vaters liegen.

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Michel übersetzt es dann aber für den Vater (ein Jahr später, 1569, gedruckt; korrigiert

15812), auf dessen Wunsch. (Wiederabdruck in Migne, Démonstrations Evangéliques, II,

1843; im Hochschulbibliothekssystem von NRW).

(c) Apologie

Er beginnt 1576, acht Jahre nach seiner Übersetzung, auf Wunsch einer adligen Dame

(Marguerite de Valois?), die sehr breit geratene Apologie dieses Buchs (Aufgenommen in

Buch II der Essais). Er distanziert sich hier, sehr indirekt, von dem naiven, positivistischen

Rationalismus Raimunds.

Hauptargument: Die Argumente gegen Raimund sind ebenso schwach wie Raimunds

Argumente.

Nach VILLEY gerät die deklarierte Verteidigungsabsicht dieses Textes (Essais Buch II,

Kap.XII), hinter dem Hauptargument, der breiten prinzipiellen Begründung dieser

(zugegebenermaßen ebenfalls schwachen, skeptischen) Verteidigung, bei Autor und Leser

schnell in Vergessenheit.

Während Raimund vom Menschen als Spezies ausgeht, geht Montaigne vom wechselhaften

Individuum aus. Jeder hat seinen Charakter, der sich gegen seine augenblicklichen

Leidenschaften und gegen die Gesellschaft durchhält.

Unser aller Glauben ist kein richtiger Glaube, wie unsere Sprache ihn biblisch beschreibt.

Montaignes Urteil über den herrschenden geheuchelten Glauben ist ähnlich radikal wie bei

Pascal, – aber nicht beunruhigt, weil die Falschheit in solchen Dingen in der Natur des

Menschen begründet ist, wie schon die heidnische Skepsis diese gesehen hat. Wir sollen

unsere Unfähigkeit, richtig über die letzten Ursachen zu denken, demütig anerkennen und uns

vor noch so überzeugend begründeten Neuerungen hüten, die immer gefährlich und unsicher

sind.

Ausdrücklich verabscheut er diejenigen Kritiker, die unter dem Deckmantel einer Demontage

von Raimunds Argumentation, eigentlich die kirchliche Lehre angereifen.

Man wendet gegen Raimund erstens ein, man solle den Glauben nicht auf menschliche

Vernunft gründen. Das sei richtig; aber man soll den „Glauben“ (den ohnehin kaum jemand

so glaubt, wie es die Bibel meint) ruhig mit der Vernunft unterstützen, so gut und schlecht

man eben kann.

Zweitens wird gesagt, Raimunds Argumente seien schwach. Das ist richtig; aber all unsre

menschliche Argumentation in diesem Bereich ist schwach.

Im Unterschied zu Raimunds scala, fällt Montaignes Vergleich mit den Tieren für den

Menschen nicht schmeichelhaft aus.

Auch Intelligenz und Charakter des Menschen ist jämmerlich. Der Mensch leidet an

Selbstüberschätzung, Neugier. In den letzten Fragen verirrt sich der Mensch. Recht, Gesetz

und namentlich Religionsgesetze sind willkürlich. Wir können uns auch nicht auf unsere

Sinne verlassen.

Plutarchs und Senecas Klagen bestätigen: Der Mensch ist elend und bleibt auf Gottes Gnade

angewiesen.

In den Essais findet sich nur hier Montaignes Devise ἐπέσυ.

(5) Essais

Titel: „Versuche“, denn alles ist in Wahrheit noch kompizierter.

Montaignes gebrochene Identität wird exemplarisch gebrochen artikuliert.

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Der vermutliche mörderische Haß des (wie SOPHIE JAMA vermutet) Marannen bleibt

unbewußt; in Kritik an ungefährlichen Objekten, in Ironie und in ständiger psycho-

analytischer Arbeit sublimiert.

Zur Form des Essai haben ihn die Moralia von Plutarch angeregt. Zuerst Buch II.

1579/80: Buch I, 26 und 31 und II 10 (teilweise), 17 und 37. Intimere Kapitel.

Montaigne erarbeitet hier eine Religionsphilosophie, in der seine jüdische Herkunft sowie das

katholische Bekenntnis Platz haben. (Soweit ist SOPHIE JANA zuzustimmen, die Montaigne

aber für einen marannischen Simulanten hält.)

Das öffentlichen Selbstgespräch vor Gott bzw. Gespräch mit Gott (Mark Aurel, Augustin,

Montaigne, Pascal) ist Selbst-Stabilisierung durch Arbeit an der Sprache.

Abschluß der Bücher I und II, 1580.

1581 werden ihm in Rom, auf Antrag der französischen Inquisition, Korrekturen an seinen

Essais auferlegt (Geschmacklosigkeiten zu eliminieren und den Kaiser Julian Apostata nicht

so positiv darzustellen), und er verspricht, sie vorzunehmen (ohne das dann zu tun).

Nach der Badereise 1582 zweite (um italienische Dichterzitate und Rom-Erinnerungen

erweiterte) Auflage der Essais.

1588 fünfte Auflage, mit Buch III. Die Angabe des neuen Erscheinungsdatums in dieser

Ausgabe letzter Hand wird wieder durch das symbolträchtige (Purimfest!) erste ersetzt. (Ohne

die handschriftlichen Zusätze: Vorlage der Ausgabe von Motheau und Jouaust 1873-75)

1589-92: Krank zuhaus in seinem Schloß: intensive Weiterarbeit; viele Zusätze (immer

persönlicher, bekenntnishafter, ein weiteres Drittel!).

Dieses sog. Exemplaire de Bordeaux wird 1595 erstmalig durch Marie de Gournay (mit Pierre

de Brach) überarbeitet und zum Druck befördert.

Auf diesem Druck fußt die Ausgabe von Courbet und Royer 1872-1900

ebenso wie die Edition municipale (Bordeaux 1906-33), auf welche die jetzt übliche

chronologische Grobzuteilung der Abschnitte durch A (für 1580), B (für 1588), C (für 1595)

zurückgeht.

Das Exemplaire de Bordeaux wurde 1912 noch photomechanisch publiziert.

Pierre Villey éd. 3 Bde., 1922 ; PUF 19302; 1965 in einem Band.

Pléiade-Ausgabe von A. Thibaudet 1950.

(6) Lehre

Gegen SOPHIE JANA, ist I 56 (éd. Villey p.320 C) zu entnehmen, daß er das lebenslange

Simulieren der Marannen verurteilt!

Die einfache natürliche Theologie spielt, von Raimund her, dabei eine zentrale Rolle, jedoch

– im Gegensatz zu dessen naiv kirchenpositivistischen Ausfüllungen – deistisch humanitär

ausgedünnt!

Spezifisch christliche Glaubensartikel fehlen in seiner Selbstdarstellung und in seinen

soziokulturellen Reflexionen. Eine natürliche Schöpfungstheologie, menschenfreundliche

Ethik und als Gotteslehre am ehesten eine theologia negativa, artikulieren seine Religion. Das

Vaterunser ist im emphatischen Sinne sein Gebet.

Das Judentum ist ein Rechtsreligion. Jede Rechtskultur hat einen Gott, die mosaïsche hat den

wahren (De la gloire).

Das Gewissen ist teils physisch elterliches Erbe, teils sozial bedingt. Die Konfession ist

primär nicht individuelle Entscheidung, sondern Erbe wie Volkszugehörigkeit. (So sahen es

auch die Spanier, die den nouveaux chrétiens nicht trauten.)

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Montaigne glaubt (nur noch subjektiv verpflichtet) an einige klare und distinkte Ideen und

deren umsichtige Anwendung. Er gibt sie immerhin „versuchs“-weise auch anderen, als

vielleicht auch sie subjektiv verpflichtend, zu bedenken.

Montaigne verteidigt – ausdrücklich nicht aus richtigem biblischem Glauben heraus („Wer hat

ihn schon!!“), sondern aus anthropologischer Resignation – entschieden den Katholizismus

als eine mögliche Symbolik, die es aber denn auch ernst zu nehmen gilt.

Angesichts der religiös begründeten Landfriedensbrüche vertritt er (wie Luther „wider die

räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“) härtestes Durchgreifen gegen alle

Ketzereien.

Man muß um des lieben Friedens willen nicht nur guttun, sondern auch die créance

„glauben“, die, nach Sitte und Herkommen, „man“ glaubt.

Zur jeweiligen Form von Frömmigkeit hinzu gehört die unergründlich fremde, ganze uralte

Kultur ihrer Herkunft. Gebete und Heilige Texte in der Alltagssprache sind jedem frechen

Mißbrauch ausgesetzt.

Er mißbilligt die Xenophobie der Franzosen.

Die Erziehung sollte Urteilsfähigkeit und Tugend hervorbringen.

Die Jungen sollten Länder und Kulturen kennen und dafür lebende Sprachen lernen, lieber in

der Taverne als in der Schule.

c) Pierre Charron (1541-1603)

Kleriker. Les trois vérités 1593, noch orthodox. De la sagesse, 1601, provoziert dann durch

seine Skepsis den Widerstand der Kirche und Polemik von F. Garasse SJ.

2. Renaissance

Erst in Italien mit dem Geld aus dem morgenländischen Handel, dann auf der iberischen

Halbinsel mit dem Geld aus Südamerika werden die moralischen Rahmenvorstellungen des

Mittelalters zu eng. Die Neuzeit bricht an. Neubesinnung auf außerchristliche antike Quellen:

Erst bunte Vielfalt im selbstverständlichen katholischen Rahmen in Italien, dann Renaissance

in scholastischer Form in Spanien (Salamanca).

Bruch des katholisch-kirchlichen Rahmens in germanischen Ländern (Luther, Zwingli,

Täufer, Schweden, Heinrich VIII.).

Reformkatholizismus: neue Orden, modern: Jesuiten (theologisch: Luis Molina), reaktionärer

Augustinismus, Richelieu.

3. Frankreich

Konkordat von 1516 zwischen Frankreich und dem Papst (Bestätigung der Pragmatischen

Sanktion von Bourges 1438). Besetzung hoher kirchlicher Ämter als Pfründen,

„Komménden“ an Laien. Entsprechend zerrütteter Zustand der Kirche. Dominikaner hatten

mit Arkebusen für die Liga gekämpft. Teure Perücken und Krieger-Kleidung für den hohen

Klerus.

Wirtschaftliches Elend.

Priester waren schlecht bezahlt, aber hatten le plus facile métier. Manche konnten überhaupt

nicht lesen und schreiben. Sie hörten Beichte ohne die Absolutionsformel korrekt sprechen zu

können.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts desintegrierte das Land durch acht konfessionelle

Bürgerkriege mit ausländischer Unterstützung beider Seiten. Die Hugenotten wurde nur

schrittweise allmählich entmachtet.

11

Unter Heinrich IV. (seit 1589) begann die Erholung. Sein Sohn Ludwig XIII. kam 1610

neunjährig auf den Thron, anfangs unter Vormundschaft seiner Mutter, Maria von Medici.

1624 wurde Richelieu Premierminister; er brach absolutistisch (gottgewolltes Königtum) den

Widerstand des Hochadels (der „den königlichen Schatz plünderte“); 1626 wurden die Burgen

geschleift. Während des 30jährigen Krieges in Deutschland wurden die Hugenotten als Staat

im Staate besiegt, 1635 in Deutschland eingegriffen, und danach die Fronde

(„Steinschleuder“) des Adels besiegt, der, auf Kosten der Bevölkerung, nur für die

persönlichen Interessen kämpfte. Als Eminence Grise war, bis 1638, der Kapuziner Pater

Joseph, alter Freund Richelieus, geschickter Leiter der Diplomatie. Mazarin, Richelieus

Vertrauter, wird 1642 dessen Nachfolger.

Für Frankreich wurde das XVII. ein Jahrhundert des aufsteigenden städtischen Bürgertums,

der Machtkonzentration mit kulturpolitisch postkirchlich gelenkter (wichtig gewordener)

öffentlicher Meinung (kommerzielle, sodann politische Zeitungen, Literaturförderung,

Kulturpolitik, Académie Française), der Kriege, der ruinierten Staaatsfinanzen und

Bauernaufstände. Richelieu schröpft und verachtet die ruinierten Rentiers (wie den Vater von

Blaise Pascal).

1610 erkennt der syndic Richer in der Kirche eine Oligarchie von Bischöfen, aber keine

Monarchie. Das Parlament stimmt zu, die Sorbonne nie dagegen.

Die Dekrete des Konzils von Trient bekamen in Frankreich keine Rechtskraft! Die Bischöfe

selbst profierten von den Mißständen.

Schwache Identifikation mit der Kirche, die sich in den konfessionellen Bürgerkriegen als

unmenschlich hitzig erwiesenen hatte.

Dogmatische und kultische Intransigenz sowie Erfüllung der gesellschaftlichen Erfordernisse

war alles, was von einem guten Katholiken erwartet wird.

4. De iustitia et iure

FRANCISCO DE VITORIA OP (†1546) war der klassische Moraltheologe der „Schule von

Salamanca“ (Renaissance-Wissenschaft in scholastischer Form) gewesen.

Molina zitiert viel von Vitoria, der sehr aktualitätsbezogen lehrte, aber seine Relecciones

(Summarien seiner Vorlesungen über Thomas Aquinas) nicht selbständig systematisierte.

MOLINAs De iustitia et iure (1593-1609) ist hervorragendes Beispiel der so titulierten ganzen

Literaturgattung.

In der Wirtschaftsethik gibt es schon lang Risikoberechnungen.

Molina thematisiert soziologisch die Regularitäten, die sich aus dem natürlichen

Konkurrenzverhalten der Individuen ergeben. Aus der Natur des Zusammenwirkens ergibt

sich Naturrecht. Werte ergeben sich flexibel aus Angebot und Nachfrage. Wirtschaftliches

Wirken wird nicht mehr nur subjekt-zentiert moralisch normiert, sondern auch Muster des

Zusammenwirkens werden analysiert.

Molinas liberale Rechts- und Wirtschaftslehre hatte starken Einfluß.

Literatur zur Ökonomie: BERHARD DEMPSY, 1943, JOSEPH SCHUMPETER, engl. 1554, JOHN

NOOAN, 1957, JOSEPH HÖFFNER, 1941.

Zur politischen Philosophie Molinas F.B.COSTELLO SJ, 1974.

Bei CALDERON († 1681) sind die sozialen Rollen noch vom Schöpfer verliehen.

PASCAL erscheinen sie, wegen des Sündenfalls, nur noch vom sinnlosen Zufall vorgegeben,

aber, in aller Sinnlosigkeit, doch einzuhalten.

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5. Richelieu

Jean Armand du Plessis (1585-1642), seit 1608 Bischof, 1629 leitender Minister Ludwigs

XIII. Er wünschte Glaubenseinheit in Frankreich in Geiste humanistisch-rationaler Theologie

und der neu-stoischen Theorie (J. Lipsius, †1606) der vita activa.

Er schreibt 1618 einen Katechismus für seine Diözese Luçon (in der Vendée), und die

Instruction du Chréstien, die den tridentinischen Attritionismus lehrt.

6. Libertins

Literatur und Überblick

R.PINTARD, Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIème siècle, Paris 1943

ANTOINE ADAM, Les libertins au XVIIe siècle, Paris 1964.

GERHARD SCHNEIDER, Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16.

und 17. Jahrhundert, 1970. (Versteht den Libertinismus als Kampf des Bürgertums gegen den

Feudalismus.)

Den egriff der im Lateinischen den Freigelassenen bezeichnet, wählt als Selbstbezeichnung

eine Täufersekte (Quintinisten) in den burgundisch-habsburgischen Niederlanden (♀Beginen-

und ♂Begarden-Tradition. In Rouen wird ein Franziskaner verhaftet, der einen Bouclier de

défense geschrieben hatte).

Margarete von Navarra (1492-1549), Schwester Franz’ I. (König 1515), 1525 Frau von

Heinrich II. von Navarra, protegierte Humanisten und Reformer. An ihrem Hofe verkehrten

die bekanntesten Häupter der von Calvin als „Libertiner“ bezeichneten Sekte. (Der eine hieß

Quintin; nach ihm hießen sie die Quintinisten.)

Im 17.Jh. bekommt, in den durch den Absolutismus bedrohten Adelskreisen sowie in

den (von Molière 1659 an den Pranger gestellten) Kreisen der Prezösen, „libertin“ als

Distinktion eine positive Bedeutung.

Maria von Medici (Frau Heinrichs IV., 1610-17 Regentin für Ludwigs XIII., von

Richelieu, den sie erst geholt hatte, dann ausgeschaltet und zur Emigration gezwungen)

protegiert die Libertinisten, und ihr (zweiter) Sohn, Gaston d’Orléans (Mordkomplott

gegen Richelieu, schließlich nach Blois verbannt), protegiert auch die blasphemischen

(Baron de Blot, Des Barreaux). Hier finden sich politische Intrigue, Libertinage und

freies Denken so bei einander, wie es bei Garasse und Mersenne als normal erscheint.

PIERRE BAYLE (reformierter Pfarrerssohn) blamiert in seinem Dictionnaire historique

et critique (1697) systematisch, durch eine erdrückende Materialfülle, alle Orthodoxie.

Er macht unausweichlich aufmerksam auf moralische Ungläubige und auf den

Unterschied zwischen Unmoral und Unglauben.

Calvinistische Opposition

Ein alter Studienfreund berichtet 1542 Calvin von einer Gruppe gebildeter Pariser

euhemeristischer „Achristen“, nach denen Gott, das Prinzip des Guten, den Menschen nicht

geschaffen habe, um ihn in die ewige Verdammnis zu stoßen; platonisierend entschuldigen sie

den Papismus. Sie erklären die Religion (nach PIETRO POMPONAZZI – „Der Lohn der Tugend

ist die Tugend!“ –, Padua 1516, also zwei Jahre nach MACCHIAVELLIs Principe) aus

politischer Zweckmäßigkeit: Domestizierung des niederen Volkes. (1531 erklärt auch

Macchiavell ausdrücklich die Religion als Mittel der Politik)

CALVIN schreibt, um theologische Hilfe gebeten, 1544: Contre la secte phantastique et

furieuse des Libertins qui se nomment spirituelz, entweder Neugierige (sie allegorisieren,

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verachten das weltliche Denken) oder Wüstlinge (anarchisch, pantheistisch). 1552

kommentiert er die Synagoga Libertinorum von Act 69 : „Christum oppugnant“.

Sein Freund GUILLAUME FAREL doppelt (über 500 Seiten!) nach. Sie wollen savoir hors de la

parole de Dieu! Das Wort Libertin wird so vom Sektennamen zu einer Bezeichnung der

Gottlosen.

Freidenker des XVIIe Jahrhunderts

Die Darstellung von Garasse

Nach FRANÇOIS GARASSE SJ Doctrine curieuse (über 1000 Seiten): Der Libertin ist nicht

Deist, sondern Atheist. Er glaubt an eine grausame Vorherbestimmung (destin); die Natur gibt

die Gesetze für Gut und Schlecht. Geistige Wesen gibt es nicht, die Unsterblichkeit der Seele

ist unsicher. Vor der dummen öffentlichen Volksmeinung muß man heucheln.

Charon ist die Quelle des Libertinismus.

Lucilio Vanini (1619 in Toulouse wegen Pantheismus verbrannt) hat la vraie créance an

Teufel und Hölle ruiniert.

Pierre Beurrier, Mémoires

Ein Pariser Pfarrer berichtet über drei Begegnungen (zwischen 1653 und 1675) mit Libertins

in seiner Gemeinde – als Spitzen eines Eisbergs.

Théophile de Viau und seine Freunde

Dichter, neigt der italienischen Naturreligion zu. 1590-1626, leader of a freethinking bohemia

of young noblemen (bei Hofe) and men of letters, practicing and preaching social and

intellectual unorthodoxy. Von Garasse erfolgreich angeprangert. His persecution,

imprisonment (1623 , Flucht, Todesurteil in absentia, neu verhaftet, 1625 freigelassen und

verbannt) and early death ended all this. Libertinage went underground, and repressive

orthodoxy was entrenched for a century or more.

CHARLES SOREL schreibt einen lehrhaften Roman, L’histoire comique de Francion. Man soll

vivre comme des dieux. Der Held gründet eine Bande junger Leute, die Geißel der Spießer, les

généreux; er zieht sich dann aber von den Menschen zurück, besinnt sich und lebt

vernünftiger nach seinem Ideal.

CLAUDE DE CHOUVIGNY, Baron de Blot, war geistreich aber schreibt auch Schund und

Schmutz. Bei Gaston von Orléans.

J.V. DES BARREAUX, nächster Freund von Théophile, beklagt die misère und ténèbres des

Menschen. Um dich zu trösten, jette-toi dans le sein des plaisirs. (Auf ihn geht das geflügelte

Wort Tant de bruit pour une omelette zurück, s. Anekdote bei BÜCHMANN.)

Libertinage érudit

Im salon der Brüder Dupuy, die eine bedeutende Bibliothek geerbt hatten, fand sich

zusammen die académie putéanne (von lat. puteus = frz. puits), zu deren Kern gehörten:

Pierre Gassendi (1592-1655), frommer Mathematik-Professor in Paris: Die Welt läßt sich

mechanisch beschreiben, aber nicht erklären. Bringt Epikur zu Ehren, lehrt in dessen Sinne

Atomistik und (gegen Descartes) leeren Raum,

François La Mothe Le Vayer († 1672), posthum herausgebrachte skeptische Dialoge unter

dem Pseudonym «Orosius Tubero», – La Croix de Jésus n’est pas seulement vaine, mais

désastreuse : occasion de scandale, instrument de perdition. » – Ansätze zu kritischer

Religionswissenschaft,

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und Gabriel Naudé, Bibliothekar, 1600-1653, sieht Religionen als politisches

Machtinstrument.

Von Guy Patin ist ein schöner, nüchtern kritisch christlicher Brief an seinen Sohn erhalten.

In den 70er Jahren spielt der Kreis um Henri Justel eine ähnliche Rolle wie die Académie

putéane im beginnenden Jahrhundert.

Im Gefolge von MALEBRANCHEs Recherche de la vérité (1674/75), schreibt FONTENELLE

1692: De l’origine des fables aus drei Prinzipien : Erklärung des Unbekannten durch

Bekanntes, Verallgemeinerung und Tradition.

Atheisten

Wohl einer der ersten Atheisten war S. CYRANO DE BERGERAC (1619-1655), Histoire comique

des Empires de la Lune et du Soleil. Er konzipiert die Grundidee der PASCAL’schen „Wette“:

Er stellt (gegen Ende der Mondfahrt) sowohl die Nutzen-Frage nach Vor-und Nachteil des

Glaubens an die Existenz Gottes (éd. Lachèvre, p.95), wie auch nach ihrer

Wahrscheinlichkeit; Gott könne uns Unglauben nur übel nehmen, wen er dumm oder bösartig

wäre; denn pour pécher il faut ou le savoir ou le vouloir (p.96). Hiernach ist es vernünftig,

gegen die Existenz Gottes zu wetten!

Louis II de Bourbon, prince de Condé, »Le Grand Condé », areligiöser Renaissance-Typ,

1621-86.

Henri de Bessé, Sieur de la Chapelle, Discours 1665.

Deisten

Der Reformator von Lausanne, PIERRE VIRET, denunziert 1564 die secte des déistes in Lyon.

Das Abstractum „deismus“ wird im 17. Jh. gebildet.

E. HERBERT VON CHERBURYs († 1648) Tractatus de veritate (1624) ist eine philosophisch

handgestrickte Grundlegung des Deismus und der Vernunftreligion.

Im gleichen Jahr zirkulieren in Frankreich Les Quatrains du Déiste. Gott, das Estre éternel

(1), ist ineffable (51). Trotzdem wird er als verheißungsvolle (75) bonté mesme (1) gelehrt.

Das ist präambivalent. (Augustins Gott ist ambivalent.)

Dieser deistische Gott ist ein deterministischer Albtraum. Der Deismus ist ein menschliches

Wort nur als Antithese zum Augustinischen Determinismus (der bei Augustin sakramental

relativiert ist).

Das Böse in der Welt ist nur Anschein; unsere Vernunft ist zu schwach, die Vorsehung zu

verstehen. Das ist eine unbescheidene Behauptung eines demütig-ambivalenten Monismus.

Gabriel de Foigny ist ehemaliger Franziskaner; reformiert, geht nach Genf, dort schreibt er

eine utopische Reise: La terre australe connue, 1676, wird verurteilt und begnadigt, bekommt

ein uneheliches Kind, schwört dem Protestantismus ab und flieht ins Seminar des Bischofs

von Genf.

In seinem Utopia lebt man ohne Ehrgeiz, Habgier und Luxus. Man glaubt man an Haab, das

Unverstehbare; aber man darf nicht von Gott reden, weil der menschliche Verstand dafür so

viel zu beschränkt ist, daß daraus nur unfromme Streiterein entstehen.

Der Deismus war der Versuch eines selbstverantworteten Gebrauchs des Namens Gottes

inmitten des Zusammenbruchs einer höchstentwickelten kollektiven Existenzsymbolik: eine –

Kreativität freisetzende – Regression zu jugendlichem Idealismus im Dienste des Ich.

Epikureer

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Vauquelin des Yveteaux ist ein vornehm epikureischer Deist, pflegt die indolence.

Jean François Sarasin ist Gassendi-Schüler, predigt inneren Frieden, seelisches Gleichgewicht

und Freiheit der Seele, eine streng vergeistigte volupté.

Saint-Evremond mit Voltaire’schem Spott, verehrt (mit Tacitus) Petronius wegen dessen

völlig unsensationellem (von Nero befohlenem) Selbstmord. Betont plaisir des hônnete

homme. Aber er ist im Grunde traurig. Er empfand, ähnlich wie des Barreaux, daß der

Mensch seinen Blick von den funesten Aspekten des Lebens abwenden und sich zerstreuen

muß (divertisssement!, Brief an den Graf d’Olonne 1657). Die christliche religöse Tradition

der Liebe und des Glaubens an den väterlichen Gott ist die beste.

Chapelle, ebenfalls Gassendi-Schüler, dogmatisiert epikureisch. Als jugendlicher vornehmer

Tunichtgut in eine streng-asketische Erziehungsanstalt gegeben.

Madame Deshoulières hat bei Gassendi Philosophie studiert. Sie plädiert in ihren Gedichten

(zB über Blumen und Vögel) für ein passivité heureuse. Die raison, d.h. die pensée réfléchie,

ist eine fatale Auszeichnung des Menschen.

Jean Dehénault, Freund von Molière, Chapelle und Madame Deshoulières. Ruhmsucht,

Ehrgeiz und Habgier sind Abhängigkeiten von der öffentlichen Meinung in ihrem Irrsinn. Er

sieht les dieux mal adorés. Er soll in Holland Spinoza besucht haben. Er hat zwei Chorlieder

aus Tragödien Senecas übersetzt. On n’a qu’à ne rien craindre et ne désirer rien.

Chaulieu versteckte tapfer eine große Melancholie. Auch er war ein deistischer Epikureer;

Freundschaft und Tugend war für die volupté wichtig.

Denis Veiras hatte ein bewegtes Leben. Von ihm erschien 1675 in London eine Reise zu den

Sevariten, ein politisch utopischer Roman, wie damals mehrere geschrieben wurden. Dort

herrscht die reine Vernunft; der Staat erzieht die Kinder. Ein Jesus-ähnlicher Betrüger,

Omigas, wird beschrieben. Die Vorsehung wird in der Sonne als ihrem Repräsentanten

verehrt. Glaubenszwang führt zur Heuchelei. Altgriechische, arabische und indische Weisheit

wird hochgehalten. Der Autor ist entsetzt, daß einige seiner Mitreisenden sich, unter dem

Eindruck der Lehre ihres Informanten, sich zu dessen Religion bekehren und vom

Christentum abwenden.

Honnêtes gens

Nach dem Zusammenbruch der kirchlichen sucht man neue Ideale.

Gens du monde : Antoine Gombaud, chevalier de Méré (1623-55) schriftstellert seicht; malt

sein oberschichtiges Ideal des honnête homme aus.

Damien Mit(t)on und der Chevalier Antoine G. de Méré, träumen (ohne Glauben, aber auf der

Suche nach einem Gesetz) davon, das Leben der Gesellschaft wie die Spiele zu kodifizieren.

Mitton entwirft den gebildeten, de Méré den vornehmen Menschen.

Summarium

Es bleibt offen, ob nicht der Freidenker mehr Gottvertrauen hat als der höllenängstliche

Katholik!

Der Freidenker hat in der Tat auf die Nichtexistenz des katholischen Gottes (und der

entsprechenden ewigen Seligkeit und Verdammnis) gewettet. Für ihn sind diese ewigen Werte

mit p=0 (bzw. mit infinitesimalem p) zu multiplizieren.

Der Freidenker entwickelt sich eigene „vertrauenbildende Maßnahmen“, nicht monotheistisch

bipersonal, sondern polymorph organisiert. Diese aber sind nicht so krisenfest wie die

christlichen.

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Auch der Freidenker braucht Gemeinde. Diese Symbolgemeinschaften sind Freundeskreise.

Freunde Pascals

Antoine G. de Méré (1607-84) ist 16 Jahre, Damien Mitton (1618-96) fünf Jahre älter als

Blaise Pascal (*1623), dieser ist vier Jahre älter als Artus duc de Roannez (*1627-96).

De Méré ist höchste Autorität bezüglich honnête homme. Mittons bester Freund ist der

Fabeldichter Jean de Lafontaine.Roannez war nie libertin, sondern von Jugend an konservativ

katholisch. Aber er lebte die längste Zeit standesgemäß weltlich und erst seit 1655, schnell

dem Vorbild Pascals folgend, zurückgezogen.

7. Religiosi

Es gibt viele neue geistliche Bewegungen.

François de Sales (1567-1622)

Geboren in Savoyen. War Schüler am Pariser Jesuitenkolleg, studierte in Padua Jura und

arbeitete zuerst als Jurist, ließ sich dann aber 1593 ordinieren. Als Seelenführer der Johanna

Franziska von Chantal wurde er Enkelschüler der Hl. Therese. Er gewann die Calvinisten am

Südufer des Genfer Sees wesentlich durch positive Lehre für die Katholiken – und damit

durch Vorbild für die Protestanten – zum Katholizismus zurück. 1602 Bischof von Genf.

1608: Philothéa. Introduction à la vie dévote, ein Buch von tiefer und breiter Wirkung, das

aber auch als „Laxismus“ verurteilt wird.

1616 : Traité de l’Amour de Dieu. Sein ursprünglich sowohl beschaulich wie tätig

konzipierter Frauen-Orden „von Mariae Heimsuchung“ geriet dann doch rein kontemplativ.

Er wird auch von den Humanisten angefeindet, weil die Elite der Frömmigkeit von seiner

Betrachtung der Herrlichkeit Gottes stärker angezogen ist.

Pierre Bérulle (1575-1629)

Das Haupt der Gegenreformation in Frankreich. Entdeckt zwischen 1604 und 1608 die

zentrale Bedeutung des Gottmenschen Jesus. Ihn gilt es zu meditieren, bis in alle äußeren

Umstände seines Erdenlebens.

Er hebt an Thomas von Aquin die Mystik hervor und ist selbst ein spekulativer Geist. Papst

Urban VIII nennt ihn den Apostel des fleischgewordenen Wortes.

(Berulles Nachfolger, le Père Condren redet von sich als einem Nichts vor der allmächtigen

Gnade.)

Die heilige Therese von Avila macht in Frankreich großen Eindruck. Bérulle gründet 1604 ein

Karmeliterinnen-Kloster auf einem Grundstock von sieben Spanierinnen.

Die Würde des Priestertums als höchsten Ordens geht auf das munus sacerdotale Jesu zurück.

Sie ist „Erbe des Stammes Levi“. (Carlo Borromeo, Jurist und Bischof von Mailand, hatte die

Priestergenossenschaft „Oblaten des Hl.Ambrosius“ gegründet.)

Oratorianer (Gemeinschaftshäuser von Priestern und Laien, zuerst von Philippo Neri, 1611

durch Bérulle auch in Frankreich) leben als „Weltgeistliche“ nach den evangelischen Räten,

haben aber keine Mönchsgelübde (Armut, Keuschheit, Gehorsam).

Adrien de Bourdoise gründet Kongregation und Priesterseminar nach Berulles Ideen. Er wird

angefeindet, eingekerkert und bedroht.

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Vincent de Paul (1580-1660)

Wählt Berulle als seinen geistlichen Vater. Tut mit der Gründung der Missionskongregation

für die niedersten Priester, was Bérulle für den hohen Klerus getan hatte. Gründet sodann die

Barmherzigen Schwestern.

Jean Ambroise Duvergier, Abbé von St. Cyran (1581-1643)

Aus vermöglicher Kaufmannsfamilie in Bayonne. Die Stadt hielt sich aus Geschäftsinteresse

lavierend zwischen den konfessionellen Fronten.

Bekam mit 10 Jahren die Tonsur, die er für die kirchlichen Pfründen brauchte, wurde mit 15

zum Priestertum bestimmt. Nach dem Tode des Vaters kümmerte sich der Bischof Bertrand

d’Eschaux um den gescheiten Jungen und schickte ihn erst auf das Jesuitenkolleg nach Agens,

dann zum Studium zu den (in Frankreich gerade verbotenen) Jesuiten nach Löwen. Aber nicht

dort, sondern erst später in Paris, lernte er C.Jansen kennen.

Studierte in Löwen nicht an der Universtiät, sondern am Jesuitenkolleg. Dort herrschte im

Bemühen des Ausgleichs zwischen dem (allgemein anerkannten) Hl. Thomas und dem (seit

der Concordia von 1588 vielbekämpften) Luis Molina, dem Neuerer in den eigenen Reihen,

ängstlich-harmonistische Scholastik. Unter dem Namen des Thomas wurden viel modernere

Theorien gelehrt. Der große (von Lipsius geförderte) Molinist Lessius hatte sich 1586 durch

eine Schrift gegen den Augustinismus an der Universtität hervorgetan, wurde aus der

Öffentlichkeit zurückgezogen, blieb aber préfet des études.

Lipsius schätzte das „Feuer“ von Duvergier und förderte ihn; er verwies ihn an die antiken

Kirchenväter.

An der Sorbonne konnte er nicht promovieren, weil er bei den Jesuiten studiert hatte!

1611-1616 studierte er auf seinem Landsitz zusammen mit Jansen. Gemeinsam ist ihnen die

Wendung von der harmonisierenden Scholastik zur Einfachheit der Kirchenväter,

hauptsächlich Augustin.

Er schätze Thomas höher als die gegenwärtige Scholastik und Augustin höher als Thomas;

aber die Prädestinationslehre spielte bei ihm keine zentrale Rolle.

Duvergier hielt lebenslang lebendigen Kontakt nach Bayonne.

Wegen Schwierigkeiten bezüglich seiner kirchlichen Pfründen begehrte er die Ordination

(1618 erste Messe). Diese Aussicht brachte ihn in eine Krise. Er trennte sich im Lauf der

nächsten zwei Jahre von allen unnötigen weltlichen Besitz. Sein Wandel ging langsam weiter.

1620 bekam er die Abtei von St.Cyran.

1620 lernte er auch Bérulle kennen. Es wurde eine enge Freundschaft. Die Jesuiten hatten

gegen Bérulle’s Grandeurs de Jésus polemisiert. Ohne vorher nennenswerte Konflikte mit

den Jesuiten gehabt zu haben, verteidigte St.Cyran ihn durch einen präventiven Angriff auf

Garasse (Somme des Fautes ...). Es folgte ein schmutziger Krieg unter Beteiligung von

Drucker, Justiz und Sorbonne, in welchem St.Cyran schließlich obsiegte.

Der Beichtvater richtet an Gottes Stelle. Er fokussiert die Erwartung des Büßers darauf, daß

Gott ihm erscheint und zu ihm spricht und sein Herz zu wahrer Buße bewegt.

Der Christ lebt in demütiger Heils-Unsicherheit. J. ORCIBAL, Les Origines du

Jansenisme V : La spiritualité de Saint-Cyran, avec ses Ecrits inédits, 1962. p. 95sq. : §

« La bienheureuse incertitude» (nach Pascal: Cœur bienheureux und raison incertaine),

gegen schwärmerische Heilsgewißheit, zB Pascals « certitude, joie » (=orgueil ??).

Er wurde L’Oracle du cloître de Notre Dame genannt. Er hatte nie mehr als 30 Seelen betreut.

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Er lehrt Gehorsam gegen die Bewegungen, die Gott in uns legt.

Antoine Arnauld war Schüler von St.Cyran. Ihm diktierte dieser 1642 eine Weltscheu, die er

selbst nicht praktizierte. Er blieb vielmehr geschätztes Orakel vieler Vertreter der gesamten

Oberschicht.

Richelieu (selbst Bischof) wollte sich, als Patriarche des Gaules, von Rom unabhängig

machen. (Nach Vorbild Heinrichs VIII von England!) Er hatte schon viele seiner Widersacher

gefangen gesetzt. Duvergier hatte unter dem Pseudonym Petrus Aurelius gegen die Jesuiten

polemisiert und Richelieu angegriffen. Dieser kerkerte ihn, nach langem Zögern und

Versuchen, ihn gefügig zu machen,1638 ein – als vielleicht unschuldig, aber politisch

gefährlich (Richelieu erkannte die Macht der öffentlichen Meinung und pflegte die Presse). Er

blieb vier Jahre im Kerker – bis zum Tode Richelieus 1642. Hier verabschiedete er seinen

Ehrgeiz und starb im folgenden Jahr.

Port Royal

Das alte, bedenklich heruntergekommene Zisterzienserinnen-Kloster kam unter dem

Patronat Antoine Arnaulds d.Ä und dessen Schwiegervaters sowie mit Arnaulds Tochter

als Superiorin (seit 1602) zu Bedeutung. Ihr Bruder Antoine Arnauld (1612-1694), „le

grand“, wurde Theologieprofessor an der Sorbonne (bis 1655) und als Verteidiger des

Jansenismus der berühmteste Vertreter der Familie. Pascal sprang ihm mit seinen

(anonymen) Lettres à un Provincial (bereits 1657 indiziert) bei. Seit 1661 wurde Port

Royal drangsaliert. Arnauld sah sich zur Emigration in die Niederlande (1669) genötigt,

Port Royal wurde 1710 zerstört.

HANNO HELBLING hat 2004 unter dem Titel Port Royal, Zeugnisse einer Tragödie,

hierzu Quellentexte herausgegeben und mit einer gehaltvollen Einleitung versehen.

Marin Mersenne (1588-1648)

23jährig, 1611 OFM.

L’impiété des déistes, athées et libertins de ce temps [namentlich Cardano (†1576), Bruno

(†1600), Charon (†1603)], combattue et renversée de point en point par raisons tirées de la

philosophie et de la théologie, ensemble la réfutation [550 Seiten!] du Poème des déistes [das

anonym zirkulierende, dogmenkritische Lehrgedicht Les Quatrains du Déiste]. 850 Seiten,

1624 [ein Jahr vorher war, auf Betreiben von François Garasse SJ (†1631), der libertine

Dichter Théophile de Viau in absentia zum Tode verurteilt worden].

Mersennes Apologie ist ein fingiertes Bekehrungsgespräch mit einem Deisten-Schüler, den er

in misanthropischer Traurigkeit auf einem einsamen Spaziergang getroffen habe und den er

zunächst durch eine détaillierten Beschreibung der Herrlichkeit des Menschen mit Lob des

Schöpfers tröstet. Er argumentiert für die Vernunft und Moral der kirchlichen Lehre und droht

den Irrlehrern mit Scheiterhaufen und Hölle. Deismus ist Libertinage, und diese ist durch

Calvinismus, Luthertum und andere Häretiker nach Frankreich gekommen. Mersenne geht,

menschlich verständnislos und hermeneutisch unreflektiert, vom kirchlichen Wissen aus.

(Pascal wird, vom Nichtwissen des Sünders ausgehend, mit Lebenswandel und „Zeichen und

Wundern“, an die logique du cœur appellieren.)

Mathematiker (Zahlentheoretiker) und Musiktheoretiker. (Hauptwerk: Harmonie universelle

1636/37).

Gegen Obskurantismus, verteidigt Galilei (Prozeß 1633) und Descartes. Befreundet mit

Descartes. (Hingegen sind, in seinem Kreise, Etienne Pascal und Fermat gegen Descartes.)

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Mersenne war ein europäisch-wissenschaftliches Informationszentrum.

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III. Zu Person und Werk Pascals

Alter Jahr Ereignis

1623 Geburt, 3 Jahre nach Gilberte (→Périer) und 2 Jahre vor Jacqueline

1 1624 Richelieu leitender Minister

E.HERBERT VON CHERBURY, Tractatus de Veritate

3 1626 Tod der Mutter

8 1631 Wöchentliches Propagandablatt Richelieus: La Gazette

9 1632 Galilei zum Widerruf gezwungen

7 1635 CALDERON, Das große Welttheater.

Mersenne: Académie de mathématique, Vater Etienne Pascal und Desargues

Mitglieder.

Frz. Unterstützung Gustav Adolfs. Gründung der Académie Française

10 1638 Vater nimmt an einer Protestversammlung von Rentiers gg. eine abträgliche

königliche Finanzverordnung teil. Flucht.

Begnadigung durch Richelieu;→Steuerkommisar in Rouen.

17 1640 Vater hilft bei blutiger Unterdrückung eines Aufsstandes in Rouen.

18 1641 Hüftverrenkung des Vaters. Bekehrungswelle erreicht die Familie durch die

im Hause lebenden, ihn pflegenden (vom – jetzt inhaftierten – St.Cyran

bekehrten) Ärzte.

19 1642 Rechenmaschine. Richelieu †; Nachfolger Mazarin.

20 1643 Ludwig XIII † / XIV (5jährig!).

Arnauld greift thematisch die Jesuiten jansenistisch an. Saint Cyran †.

23 1646 Vaters verunfallt mit Verlust eines Schenkels, bleibt die letzten 5 Jahre

gelähmt.

23-28 1646-51 Vakuum-Studien

24 1647 Pascal denunziert einen Prediger wegen Origenismus beim Erzbischof.

Descartes (drei Jahre vor seinem Tod) besucht ihn.

25 1648 Westfälischer Friede

28 1651 Tod des Vaters. Erb-Auseinandersetzungen. Blaise widersetzt sich

Jacqueline’s Entschluß, Nonne im Zisterzienserkloster Port-Royal zu

werden.

HOBBES, Leviathan

30 1653 Päpstliche Verdammung von fünf Sätzen aus Jansenius’ Augustinus.

1653-1658 Oliver Cromwell Lord Protector.

31 1654 Weltverachtung – einen Monat vor der „zweite Bekehrung“. Mémorial

32 1655 Januar: Retraite in Port-Royal, Gespräch mit de Sacy.

33-34 1656-57 Verteidigung Arnaulds durch die Lettres à un Provincial ; indiziert.

Dornenwunder. De l’esprit géometrique und L’art de persuader.

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35 1658 Cycloïde, Plan für die Apologie

36 1659 Andauernde Krankheit. Pyrenäenfrieden

38 1661 Mazarin †, Ludwig 23j Autokrat.

Rom bekämpft Port-Royal. Jacquline stirbt.

39 1662 18. März : Carosses à cinq sols. 19.August Tod.

– 1670 Erscheinung nicht nur der ersten Ausgabe der (in unkritischem Biblizismus

gipfelnden) Pensées, sondern auch des Tractatus Theologico-Philosophicus

Spinozas (der die kritische Exegese begründete).

Blaise Pascal lebte (1623-62) unter Ludwig XIII ( ~ Richelieu) und Ludwig XIV ( ~

Mazarin), hauptsächlich in Paris. Frankreich hatte grauenvolle (teils konfessionell bestimmte)

Bürgerkriege hinter sich und wurde mit eiserner Hand geeint. Als er geboren wurde, tobte in

Deutschland seit fünf Jahren der Konfessionskrieg, der dreißig Jahre dauern sollte.

Mit drei Jahren verlor er die Mutter. Er hat weder eine Schule noch eine Universtität besucht;

sein Vater erzog ihn nach den pädagogischen Ideen Montaignes. Blaise war ein

mathematisches Wunderkind.

19jährig beginnt er, für seinen Vater (einen hohen Steuerbeamten) eine mechanische

Rechenmaschine zu entwickeln. Als Twen entwickelt er entscheidende Experimente zum

Vakuumproblem.

Galilei bemerkte, daß ein Saugpumpe das Wasser nur 32 Fuß hochpumpen kann. Toricelli

machte einen Versuch mit Reagenzglas und Quecksilber mit entsprechendem Ergebnis und

bemerkt Tagesschwankungen. Pascal bittet seinen Schwager Perrier, das Experiment auf dem

Puy de Dôme zu wiederholen. Es wird der überzeugende Beweis für das experimentell

herstellbare Vakuum. (Descartes beansprucht, ihm diese Idee gegeben zu haben.)

Lebenslang arbeitet er immer wieder schöpferisch an Problemen der

Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Infinitesimalrechnung (er erfand das unendlich Kleine!)

und der Geometrie. Das Unendliche (mit dem er in der Entwicklung der projektiven

Geometrie konstruktiv gearbeitet hatte) beunruhigte ihn zunehmend, so daß er es

(anthropologisch) angemessener fand, sich damit nicht wissenschaftlich-intellektuell

kosmologisch, sondern geistlich auseinanderzusetzen ( Laf 164).

Pascal empfindet es als Zeichen der Verworfenheit, wenn der Mensch die letzten Fragen offen

lassen kann.

Er gehörte zu einem Kreis von kultivierten, intelligenten, jedoch recht verschiedenen

Großbürgern und Adligen. Betrachtungen von Damien Mitton (einem vermöglichen bürgerlichen Libertin) über das neue Ideal

des honnête homme – ein kurzer Text (mit deutscher Übersetzung) als Stichprobe aus diesem

Freundeskreis (zu dem auch Antoine G. chevalier de Méré gehörte) – sind im Internet abzurufen.

Mit Artus duc de Roannez, als altem Nachbarn, ist er aus Kindertagen befreundet. Mit diesem

zusammen betreibt er (auch nach seinem Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben) das Großprojekt

einer Trockenlegung von Sümpfen im Poitou.

Aber die Lebensweise der damaligen Oberschicht befriedigte Pascal immer weniger.

Pascal hält weiter Kontakt mit den alten Freunden, aber lebt seit 1654 zurückgezogen in einer

eigenen Wohnung in Paris. Er stirbt, seit Jahren immer wieder schwer krank, 39jährig, im

Haus seiner älteren Schwester.

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IV. Zu Pascals Theologie

Ohne seinen Glauben hätte Pascal einer der depressiven Libertins werden können wie des

Barreaux, Saint-Evremond (dieser verordnet divertissement!), Mme Deshoulières oder

Chaulieu.

Aber er ergreift den für uns leidenden Jesus als sein Existenzsymbol in grandeur und misère.

Solamen miseris socios habuisse malorum.

Als er 18 Jahre alt ist, hat der Vater einen Unfall; und unter dem Einfluß seiner Pfleger

„bekehrt“ sich die ganze Familie. Jene standen unter dem Einfluß von Jean Duvergier de

Hauranne, Abt von Saint-Cyran, dem (selbst höchst bemerkenswerten) Freunde von

Cornelius Jansen.

Pascal wird durch intensive Lektüre ein überzeugter und hochkompetenter Augustinist, – der

sich später (1656) mit einer brillanten Streitschriftenreihe (den sog. Lettres à un Provincial)

gegen die Jesuiten wütend in den (schon aussichtslosen) Verteidigungskampf der

Augustinisten von Port Royal gegen die Macht von Papst und König einschaltet.

Luis Molina SJ hatte (noch im Jahrhundert der Reformation) mit dem (wie mir scheint:

mystisch gedachten) Zentralbegriff der scientia media Dei in traditionalistischer Form einen

modernen Ansatz theologischer Freiheitslehre entwickelt. Dieser war unter

kirchenpolitischen Rücksichten in unlösbare dogmatische Komplikationen abgeglitten.

Das aus dem Mönchtum stammende, mittelalterliche Institut der Beichte für Weltleute wurde

von den Jesuiten in begleitende Seelsorge transformiert.

In beiden Innovationen sah Pascal opportunistischen Verrat am Erbe der Kirche.

Pascal, war seiner Familie und damit Port Royal verpflichtet, dieses Antoine Arnauld, dem

streitbaren Sorbonne-Theologen, dieser seinem Lehrer St. Cyran (kompromißlos radikal

konservativ fromm; abschreckend angsterregende Eucharistielehre; Gegner der Unterstützung

der Protestanten in Deutschland durch Richelieu), dieser dem Jansenius, der 1635 den Mars

Gallicus gegen Richelieus Deutschland-Politik geschrieben hatte.

Vorbereitet durch ein Innenleben, von dem uns seine „Bekehrung des Sünders“ von 1653 eine

Vorstellung gibt, erlebt er Ende 1654, mit 31 Jahren, seine (im berühmten Mémorial von ihm

dokumentierte) sog. „zweite Bekehrung“. Wir können sie als überwältigende Entdeckung der

Personalität der christlichen Offenbarung charakterisieren. (In diesem Sinne verstehe ich auch

das wenig später geschriebene Mysterium Jesu, Laf. 919)

Pascal arbeitet theologisch und auch mathematisch weiter. Er versucht zwar mit Hilfe einer

eigenen Ontologie ( Körper / Geister / Liebe ) und Erkenntnistheorie („Das Herz hat seinen

eigenen Verstand“!) seine heterogenen inneren und äußeren Erlebnisse phänomenologisch

korrekt zusammenzufügen. Das Wichtigste ist ihm die göttliche Liebe. Aber Kategorien wie

Luthers „Wort“ oder das dann von Buber (der auf ihn aufmerksam macht) thematisierte „Du“

fehlen. (Der als Die Wette berühmte Text, mit seinem ganz unpersönlich gedachten Gott, ist

befremdlicherweise nach jener Offenbarungsnacht geschrieben.)

In seinen letzten Jahren arbeitet er an einer Apologie des christlichen Glaubens. Es ist die

erste nicht mehr auf den Kopf, sondern seelsorgerlich, vom memento mori ausgehend, auf das

Herz zielende Apologie.

Der innerkirchliche Streit um die Gnadenlehre und auch Descartes spielen hier kaum eine

Rolle.

Ein zentrales Stück der Apologie bildet Pascals Rekonstruktion des göttliche Heilsplans, nach

welchem sich die Geschichte zwischen Gott und den Menschen so abspielt, daß Gott mit

Sicherheit gewinnt. Die gefallenen Menschen sind frei und gefangen wie in einer

Zwickmühle, wie Pascal mit Enthusiasmus und Bewunderung der göttlichen Vollkommenheit

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dieses göttlichen Machiavellismus (inbesondere des Einsatzes der Juden) feststellt (THIROUIN

p. 200) – man denkt an HEGELs „List der Vernunft“. Der „figurative“ Sinn der Schriftstellen,

die, für fleischlich Gesonnene, von leiblichen Gütern reden, aber geistliche meinen, ist ein

anderes Beispiel für die Raffinesse des Heilsplans.

Pascal versucht in seiner Apologie, dem bescheidenen Glauben durch Aufweis der

Eigenart der Religion Respekt zu verschaffen.

Die Überwindung der concupiscentia (in all ihren Spielarten) durch die caritas, die Gott

durch Jesus in unsere Herzen gibt, bildet das Zentrum seiner Frömmigkeit. Im Zentrum der

Anthropologie steht die Sünde, die natura corrupta, und in diesem Sinne der (in Jesus

überwundene) Gegensatz vom grandeur (Größe) und misère (Elend) des Menschen.

Die alte aristotelische Lehre von den Tugenden und Lastern als Gewohnheiten strukturiert

auch sein Verständnis der virtutes theologicae (Glaube, Liebe Hoffnung).

Man kann sowohl gegen wie für den christlichen Gottesglauben vernünftige Gründe ins Feld

führen. Allein bedeutungsvolle Erfahrungen (wie Wunder) geben den Ausschlag. (Ähnlich

vor Pascal nur JUDA HALEVI für das Judentum, ca. 1100, in seinem Dialog Kusari.)

Man kann Pascals Verteidigung des christlichen Glaubens (explizit nicht: Wissens!) als erste

Hermeneutik der „Geworfenheit“ (HEIDEGGER) lesen.

Pascal versuchte allerdings, sie zu systematisieren in einem kirchlichen Glaubenswissen der

göttlichen Andeutungen, das nur der Verstockte mißachten kann.

Für Pascal gibt es im menschlichen Geist einen Rest des status integritatis, – der aber gerade

für Konfusion sorgt!

Wir verstehen die Welt weder mit noch ohne Gott (Laf. 809).

Im status corruptionis ist Gottes Wille uns nur Zufall, unverständlich; aber demütig zu

respektieren und durch schwach begründete Konventionen, notfalls durch pia fraus und

Gewalt, zu schützen, um in der kainitischen Menschheit das Schlimmste (allgemeinen

Brudermord, Bürgerkrieg) zu verhüten.

Mit seinem Einhalten der unüberholbaren Unklarheit der Erkenntnis ist Pascal

bahnbrechend! Er lernt sich begnügen mit dem symbolischen, begrifflich nur

unbefriedigend präzisierbaren, persönlichen Verstehen.

Pascal durchleidet die Dialektik der Kreativität, die den Menschen unbescheiden macht

(orgueil !), als Sünde.

Pascal versteht den Menschen als im Grunde leidend an gebrochenen Größenphantasien,

geworfen in eine konfuse Symbolik mit nutzlosem Wissen. Das Christentum erscheint in

seiner eindringlichen Interpretation als größenwahnsinnige Demut.

V. Zu den Ausgaben der Pensées

Pascals wichtigstes Werk sollte die „Apologie des christlichen Glaubens“ werden. Pascal

starb 39jährig über dieser Arbeit und hinterließ fast 1000 (meistenteils sehr kleine) Notizen,

die – als Pensées („Gedanken“) bekannten – Fragmente.

Einen ausgezeichneten Überblick über die Ausgaben dieses Nachlasses bis 2002 bietet Albert

Raffelt.

Alle Ausgaben dieser Texte beruhen auf einer unbefriedigenden Quellenlage. Die Anordnung

ist in allen drei Quellen (zwei Abschriften und einer - später zusammengeklebten -

Zettelsammlung, dem sog. Recueil original) verschieden und von zweifelhafter Authentizität.

Das erschwert das Verständnis und die Lektüre der sog. „objektiven Ausgaben“ dieser Texte

außerordentlich:

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- LOUIS LAFUMA aufgrund der „ersten Kopie“, 1951 ist, nach der „subjektiven“ Ausgabe

von Brunschvicg, als „objektiv“ der allgemein anerkannte Bezugstext geworden; auf Lafuma

basiert: Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, herausgegeben

von JEAN-ROBERT ARMOGATHE, aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von

ULRICH KUNZMANN);

- PHILIPPE SELLIERs Ausgabe (aufgrund der „zweiten Kopie“), 1991, scheint jetzt der

Bezugstext zu werden.

Die lesbaren Ausgaben sind mehr oder weniger „subjektiv“ geordnet:

- Die älteste wurde, von der frommen Familie bereinigt, 1670 in Druck gegeben; MATTHIAS

CLAUDIUS hat „Etwas“ daraus ins Deutsche übersetzt und, 1811 dem dritten Band seiner

Übersetzung Fénélon’s Werke religiösen Inhalts als Anhang (S. 289-342) beigegeben.

- LÉON BRUNSCHVICG (1897, seine Numerierung der Fragmente war lange kanonisch; auf

Brunschvicg beruht die deutsche Ausgabe von EWALD WASMUTH, 11937.);

- FORTUNAT STROWSKI (ihm folgt WOLFGANG RÜTTENAUER in der von

R.GUARDINI eingeleiteten deutschen Ausgabe);

- JACQUES CHEVALIER, 1954; 1982 in deutscher Übersetzung von HANS URS VON

BALTHASAR herausgebracht;

- FRANCIS KAPLAN, Les Pensées de Pascal. Paris, Edition du Cerf 1982. Seine Ordnung

folgt 55 Hinweisen in den Fragmenten selbst, die der Ordnung der Liasses widersprechen - als

wenigst schlechte Lösung überzeugend.

Ausführliche positive Besprechung von FRANÇOIS BREMONDY, 2000. Negative Beurteilungen

bei PERATONER. Ausführliche, differenziert kritische Besprechung der Kaplan’schen

Ausgabe von RAFFELT 1985. (Vgl. auch POL ERNST, 1996, p. 246: ... travaux pratiques ... ne

manqueraient pas de nous renseigner sur le travail – si obscur – de la constitution des

liasses, y compris sur la date où Pascal enfile les prélèvements.)

Zur Ermöglichung einer Zusammenarbeit am Text zwischen Besitzern verschiedener

Ausgaben (mit deren divergierenden Zählungen der Fragmente) habe ich eine flexible

Konkordanz der Nummerierungen von Brunschvicg/Wasmuth, Strowski/Rüttenauer,

Lafuma/Kunzmann und Chevalier/vBalthasar sowie der (nur französischen) Ausgabe von

Kaplan erstellt.

Zur Einführung in Pascal empfehle ich die kleine, gut lesbare, thematisch zentrierte Aufsatz-

Sammlung: ROBERT LEUENBERGER, Die Vernunft des Herzens. Studien zu Pascal, TVZ

1999.

Außerordentlich erhellend ist: LAURENT THIROUIN, Le hasard et les règles, 1991!

Zu dem berühmten Fragment „Die Wette“, habe ich selbst 1988 einen Aufsatz geschrieben

und 1990 überarbeitet auf französisch veröffentlicht. In Vorbereitung auf dieses Seminar habe

ich dieses schwierige Fragment durchkommentiert.

Eine allgemein informative Einführung bietet WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN, Blaise

Pascal, 1999

Hochinteressant ist PHILIPPE SELLIER, Pascal et Saint Augustin, 1970

Eine meisterhafte Darstellung von Pascals Freundeskreis bietet JEAN MESNARD, Pascal et

les Roannez, Brügge (Desclée de Brouwer) 1965.

Letzte Änderung am 12. Januar 2007

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