Dichtung als Spiel (Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache) || Α. Das kindliche Spiel

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Was das Spiel für die Kultur bedeutet, hat Johan Huizinga in seinem Buche aufs schönste dargestellt, indem er zum Homo sapiens und Homo faber den Homo ludens gesellt. 1 Das Spiel ist ein Urgrund menschlichen Seins, der in alle Lebens- alter und in alle Geisteshaltungen hineingewoben ist: „Der Mensch spielt als Kind zum Vergnügen und zur Erholung unterhalb des Niveaus des ernsthaften Lebens. Er kann aber auch über diesem Niveau spielen: Spiele der Schönheit und Heilig- keit", 2 oder wie Schiller sagt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt". 3 Was Huizinga und Schiller im Spiel sehen, das ist ein Ideal des Spieltriebes. Wenn Plato vom Menschen als dem Spielzeug des Gottes sprach, so ist nun bei ihnen die Welt ein Spielzeug des Menschen. Im Anschluß an Kants freies, interesseloses Spiel der Vorstellungskräfte im ästhetisdien Wohlgefallen 4 versdimelzen sich bei Schiller der Sachtrieb, dessen Gegenstand das „Leben", und der Formtrieb, dessen Gegenstand die „Gestalt" ist, im Spieltrieb, dessen Objekt, die „lebendige Gestalt", alles umfaßt, was wir 1 Johan Huizinga, Homo ludens; ich zitiere nach der 3. Auflage Basel etc. o. J. Uber die Spieltheorien der neueren Zeit orientiert ausgezeichnet Hans Scheuerl in seiner Arbeit Das Spiel, 2. Auflage Weinheim-Berlin 1959, und in seiner Anthologie Beiträge zur Theorie des Spiels, 2. Auflage Weinheim-Berlin 1960. Huizingas Werk hat zahllose Betrachtungen über das Spiel von sehr zweifelhaftem Wert hervorgerufen (vgl. das Literaturverzeichnis bei Sdieuerl). Die meisten entfernen sich noch stärker als Huizinga von den tatsächlich gespielten Spielen. Wir besitzen nun bereits eine Theologia ludens (Hans Rahner, Der spielende Mensch, 5. Auflage Einsiedeln 1960) und eine Philosophia ludens (Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960); mit der Theorie der strategischen Spiele (John von Neumann and Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, Princeton UP 1944; Claude Berge, Sur une thiorie ensembliste des jeux alternatifs ..., These Paris 1953) hat sich auch die Mathematik des Spiels bemächtigt. Aus der Vielzahl der andern Publikationen sei ausdrücklich ein Werk hervorgehoben: Roger Caillois, Les jeux et les hommes (Le masque et le vertige), Paris Gallimard 1958, deutsch: Die Spiele und die Menschen (Maske und Rausch), Stuttgart 1960, weil es nach Abschluß unserer Arbeit mit der Untersuchung der Spiele der Gegenwart und der Einbeziehung des Spielrausches über Huizinga hinausführt und unsere Gedanken mannigfach ergänzt und bestätigt. 2 Huizinga aaO 32. 3 Schiller, Uber die ästhetische Erziehung des Menschen 15. Brief, Sämtliche Werke, Säkularausgabe X I I 59. 4 zum Spiel bei Kant vgl. Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Jubiläums- ausgabe Heidelberg 1897—1904, V 410 ff.; zu den nachkantischen Spielbegriffen vgl. Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 4. Auflage Berlin 1927—30, III 135 ff.; Georg Schläger, Einige Grundfragen der Kinderspielforschung I, Zs. d. Ver. f. Volkskunde 27 (1917) 106 ff. Brought to you by | New York University Authenticated | 128.122.65.156 Download Date | 5/8/14 9:38 PM

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Was das Spiel für die Kultur bedeutet, hat J o h a n Huizinga in seinem Buche aufs schönste dargestellt, indem er zum H o m o sapiens und H o m o faber den H o m o ludens gesellt.1 Das Spiel ist ein Urgrund menschlichen Seins, der in alle Lebens-alter und in alle Geisteshaltungen hineingewoben ist: „Der Mensch spielt als K in d zum Vergnügen und zur Erholung unterhalb des Niveaus des ernsthaften Lebens. E r kann aber auch über diesem Niveau spielen: Spiele der Schönheit und Heilig-keit" , 2 oder wie Schiller sagt: „Der Mensch spielt nur, w o er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, w o er spielt" . 3 W a s Huizinga und Schiller im Spiel sehen, das ist ein Ideal des Spieltriebes. Wenn Pla to vom Menschen als dem Spielzeug des Gottes sprach, so ist nun bei ihnen die Welt ein Spielzeug des Menschen.

I m Anschluß an Kants freies, interesseloses Spiel der Vorstellungskräfte im ästhetisdien Wohlgefallen 4 versdimelzen sich bei Schiller der Sachtrieb, dessen Gegenstand das „Leben", und der Formtrieb, dessen Gegenstand die „Gestalt" ist, im Spieltrieb, dessen Objekt, die „lebendige Gestalt" , alles umfaßt, was wir

1 Johan Huizinga, Homo ludens; ich zitiere nach der 3. Auflage Basel etc. o. J . Uber die Spieltheorien der neueren Zeit orientiert ausgezeichnet Hans Scheuerl in seiner Arbeit Das Spiel, 2. Auflage Weinheim-Berlin 1959, und in seiner Anthologie Beiträge zur Theorie des Spiels, 2. Auflage Weinheim-Berlin 1960. Huizingas Werk hat zahllose Betrachtungen über das Spiel von sehr zweifelhaftem Wert hervorgerufen (vgl. das Literaturverzeichnis bei Sdieuerl). Die meisten entfernen sich noch stärker als Huizinga von den tatsächlich gespielten Spielen. Wir besitzen nun bereits eine Theologia ludens (Hans Rahner, Der spielende Mensch, 5. Auflage Einsiedeln 1960) und eine Philosophia ludens (Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960); mit der Theorie der strategischen Spiele (John von Neumann and Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, Princeton UP 1944; Claude Berge, Sur une thiorie ensembliste des jeux alternatifs . . . , These Paris 1953) hat sich auch die Mathematik des Spiels bemächtigt. Aus der Vielzahl der andern Publikationen sei ausdrücklich ein Werk hervorgehoben: Roger Caillois, Les jeux et les hommes (Le masque et le vertige), Paris Gallimard 1958, deutsch: Die Spiele und die Menschen (Maske und Rausch), Stuttgart 1960, weil es nach Abschluß unserer Arbeit mit der Untersuchung der Spiele der Gegenwart und der Einbeziehung des Spielrausches über Huizinga hinausführt und unsere Gedanken mannigfach ergänzt und bestätigt.

2 Huizinga aaO 32. 3 Schiller, Uber die ästhetische Erziehung des Menschen 15. Brief, Sämtliche Werke,

Säkularausgabe X I I 59. 4 zum Spiel bei Kant vgl. Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Jubiläums-

ausgabe Heidelberg 1897—1904, V 410 ff.; zu den nachkantischen Spielbegriffen vgl. Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 4. Auflage Berlin 1927—30, I I I 135 ff.; Georg Schläger, Einige Grundfragen der Kinderspielforschung I, Zs. d. Ver. f. Volkskunde 27 (1917) 106 ff.

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Schönheit nennen.5 Das Ideal der Schönheit, das die Vernunft aufstellt, setzt audi das Ideal des Spieltriebs fest, das der Mensch „in allen seinen Spielen vor Augen haben soll",6 so daß sich eine doppelte Forderung ergibt: „Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen."'1 An den Spielen kann man den Menschen erkennen. Als Beispiele zieht Schiller die Olympischen Spiele, römische Gladiatorenkämpfe, Londoner "Wettrennen und Madrider Stiergefechte heran8 und behauptet, daß sich die Spiele des wirklichen Lebens „gewöhnlich nur auf sehr materielle Gegenstände richten" (Kartenspiele und Kampfpreise?).9 Das ist erstaunlich, der unbefangene Leser hätte eher Sprach-spiele und poetische Spiele als gute oder schlechte Exempel erwartet. Schillers poetischer Spieltrieb ist jedoch so weit von allen sonst üblichen Spielbegriffen entfernt, daß er überhaupt nichts mehr mit dem zu tun hat, was wir gemeinhin Spiel nennen. Schillers Spieltrieb heißt für uns künstlerische Schöpferkraft. Das Zitat „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt" kann nie als Motto für eine Betrachtung menschlicher Spiele benützt werden.10 Schillers Spieltrieb steht so hoch über allem irdischen Spiel, daß er den künstlerischen Genius an sich meint. Er ist das Spiel der Götter, wie Schiller es in einem Fragment aus dem Nachlaß am Unterschied zwischen Tragödie und Komödie formuliert: „Die Komödie setzt uns in einen höhern Zustand, die Tragödie in eine höhere Tätigkeit. Unser Zu-stand in der Komödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir fühlen uns weder tätig noch leidend, wir schauen an, und alles bleibt außer uns; dies ist der Zustand der Götter, die sich um nicht Menschliches bekümmern, die über allem frei schweben, die kein Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt. — Aber wir sind Menschen, wir stehen unter dem Schicksal, wir sind unter dem Zwang von Gesetzen. Es muß also eine höhere, rüstigere Kraft in uns aufgeweckt und geübt werden, damit wir uns wieder herstellen können, wenn jenes glückliche Gleichgewicht, worin die Komödie uns fand, aufgehoben ist. Dort brauchten wir unsere Kraft nicht, weil wir nichts zu kämpfen hatten; aber hier müssen wir siegen und bedürfen also der Kraft. Die Tragödie macht uns nicht zu Göttern, weil Götter nicht leiden können; sie macht uns zu Heroen, d. i. zu göttlichen Menschen, oder, wenn man will, zu leidenden Göttern, zu Titanen. Prometheus, der Held einer der schönsten Tragö-dien, ist gewissermaßen ein Sinnbild der Tragödie selbst."11

Nicht so hoch setzt Huizinga seinen SpielbegriiT an. Neben den Spielen der Schönheit und Heiligkeit kennt er audi die des Kindes. Er definiert das Spiel als eine „freiwillige Handlung oder Beschäftigiung, die innerhalb gewisser festgesetzter

5 Uber die ästhetische Erziehung des Menschen 14.—16. Brief, aaO 52 ff.; vgl. allgemein: Karl Berger, Die Entwicklung von Schillers Ästhetik, Weimar 1894, 276 ff.; Gottfried Baumecker, Schillers Schönheitslehre, Heidelberg 1937, 80 ff.

6 15. Brief aaO 58. 7 ebda. 59. 8 ebda. 58 f. und Anm. 9 ebda. 10 Als Motto steht dieser Satz über der Arbeit von Gustav Bally, Vom Ursprung und

von den Grenzen der Freiheit, Eine Deutung des Spiels bei Tier und Mensch, Basel 1945. 11 Tragödie und Komödie (Aus dem Nachlaß), Säkularausgabe XII 329 f.

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Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Span-nung und Freude und einem Bewußtsein des .Andersseins' als das gewöhnliche Leben."12 So kann er den Menschen auf allen Stufen der Entwicklung verfolgen, vom Kinderspiel über das Spiel in der Spradischöpfung bis zu den Spielen des Geistes in der Philosophie, den Spielen der Religion und der Dichtung („Das Spiel ist die erste Poesie des Mensdien", sagt schon Jean Paul13), wo in der lyrischen Sprache der Mensch „am nächsten bei der höchsten Weisheit, aber auch bei der Sinnlosigkeit"14 steht. Kosmische Ergriffenheit ist der Urgrund: „In Form und Funktion des Spiels, das eine selbständige Qualität .ist, findet das Gefühl des Eingebettetseins des Menschen im Kosmos einen ersten, höchsten und heiligsten Ausdruck".15

Im Gegensatz au Sdiillers SpielbegrifT umfaßt der Huizingas einen großen Teil der Spiele dieser Arbeit, so die Spielgattungen, die literarischen, gesellschaft-lichen, die gelehrten und die magischen Spiele. Das letzte kosmische Spielgefühl finden wir im Urgelächter Chestertons, in Mörikes „Wispeliaden" oder in den Dichtungen Paul Sdieerbarts und in dessen Wort: „Ach, das ganze Weltall lacht! Der Weltgeist lacht auch, und ich lache leise mit!"16 An diesen Dichtungen zeigt sich aber, daß das Spiel nicht in allen Fällen „freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln" folgen muß, wie Huizinga es haben will. Es gibt in der Unsinnspoesie eine Freiheit des Spiels, die keine Regeln und Grenzen mehr anerkennt, die „Spielverderberin" ist gegenüber dem Spiel der Dichtung und kaum mehr eine neue Spielwelt mit festen Regeln aufhaut oder höchstens insofern, als sie Regellosigkeit des Spiels fordert. Damit greifen wir über Huizingas Spielwelt hinaus. Im Spiel findet nicht nur das Gefühl des Eingebettetseins im Kosmos seinen höchsten und heiligsten Ausdruck, es können auch andere geistige Haltungen, ein anderes Weltgefühl hinter der Spielwelt stehen. Wir meinen nicht nur die unendliche Grenzenlosigkeit, mit der das romantische Spiel unter Miß-achtung aller Spielregeln über die Welt hinausgelanigen will. Dieses baut doch noch eine neue Spielwelt auf, wenn auch unter Aufhebung der gegenständlichen Welt, also durchaus in schärfstem Widerspruch zu Schillers harmonischem Spieltrieb-Ideal. Sondern wir denken vor allem an jenen unheimlichen Urgrund des Spiel-triebs, den Huizinga versdiweigt: an den Zerstörungstrieb als „so leicht hervor-brechenden Kampfinstinkt, der sich sogar dem todten Objekt — als ob es ein lebendiger Gegner wäre — mit einer oft bis zum Rausche gesteigerten Zerstörungs-lust zuwendet und in der völligen Vernichtung des Objektes seine eigene Macht wie einen Sieg genießt —".17 Es gibt einen zerstörenden Spieltrieb, der die Zer-störung um der rauschähnlichen Wirkung willen genießt, einen äußersten Gegen-

12 Huizinga aaO 45 f . 13 Levana § 49, Stle. Werke hist.-krit. Ausg. 1.12 150. 14 Huizinga aaO 229. 15 ebda. 29. 10 Paul Scheerbart, Ich liebe Dich! Berlin 1897, 296. 17 Karl Groos aaO 275.

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satz zu jenem heiligsten Eingebettetsein des Menschen im Kosmos. Der Spiel-verderber braucht nicht außerhalb der Spielwelt zu stehen, durch seinen Einbruch die Relativität und Sprödigkeit der Spielwelt zu enthüllen und die Spielwelt zu zerstören, wie Huizinga meint,18 er kann selbst Spieler sein, die ganze Lust des Spiels in dessen Zerstörung genießen. Die Zerstörung ist sogar eines der häufigsten Spiele, ein Spiel mit dem Entsetzen und mit der Freude an der Macht des Menschen über die Dinge. Gerade im Spiel mit der Sprache wird der zerstörende Spieltrieb sichtbar: Wenn in der Romantik einzelne Dichter die gegenständliche Welt im Spiel mit der Sprache zerstören, um die Gegenstände zugunsten einer grenzenlosen mystischen Welt zu überwinden, so ahnen wir doch schon bei andern eine Lust am zerstörenden Spiel um der Zerstörung willen. Huizinga unterschätzt die Kräfte des spielenden Zerstörungstriebs zu allen Zeiten, wenn er erst im Spielelement der modernen Kultur Puerilismus, Habitus des Vorpubertäts-zeitalters zwischen Kindlichkeit und jünglingshafter Unausgeglichenheit, zu finden glaubt.19 Nicht nur kindisdies Spiel statt kindliches tritt etwa im deutschen Dadais-mus zutage, sondern das Lachen des Teufels, „jene Diabolik, die von der höchsten Groteske herkommt",20 das Lachen als das „Satansmal des Menschen",21 das Lachen des Elends und der Tränen, von dem schon die Sprüche Salomos wissen.22 So ist die spielende Unsinnspoesie nicht nur Spiel im Gefühl des Eingebettetseins im Kosmos, sondern auch Spiel der satanischen Zerstörungslust, Spiel des Teufels mit der Welt.

Hugo Ball hat diesen völligen Gegensatz im Lachen igesehen. Er zitiert Schillers Satz aus der „Ästhetischen Erziehung": „Der Mensch kann sich ;aber auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören"23 und fügt ironisch hinzu: „Deutschland ist also heute wild und barbarisch zugleich".24 Die Ironie hebt sich jedoch selbst auf, wenn er ein paar Seiten später schreibt: „Die Antithese in Permanenz, das Urspiel in seinem majestätischen Gelächter —: in Berlin konnte ich diese Dinge schätzen. Ich kann das Wort Geist nicht mehr hören. Man macht mich furibond, wenn man das Wort nur ausspricht".25 Dieses Urspiel in Permanenz ist ein anderes majestätisches Gelächter als Chesterton und Scheerbart es meinen; Schillers Spieltrieb-Ideal paßt nicht in eine Welt, in der man das Wort Geist nicht mehr hören kann. Furchtbar und erhaben zugleich aber ist die Lehre jener gnostischen Sekte Ägyp-tens, daß die Welt aus dem siebenmaligen Ungelächter des Gottes Abraxas ent-standen sei.

18 Huizinga aaO 19. 19 ebda. 330, vgl. audi Johan Huizinga, Im Schatten von morgen, 17. Aufl. Zürich 1930,

140 ff. 2 0 G. K. Chesterton, Der Mann, der Donnerstag war, München 1924, 86. 21 Baudelaire aaO 13. 2 2 Spr. Sal. 14 V. 13. 23 Über die ästhetische Erziehung des Menschen aaO 13. 24 Hugo Ball, Flucht aus der Zeit, Ausgabe Luzern 1946, 124 f. 25 ebda. 141.

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Α. Das kindliche Spiel

1. D A S D Ä M O N I S C H E S P I E L

Mörikes Wispeliaden

Dämonisch hat Goethe die Macht genannt, die in der untrennbaren, irratio-nalen Einheit von schöpferischer Person, Werk und Schicksal wirkt. Dämonisch ist Eduard Mörikes scheinbar harmlos-kindliches Spiel. Es ist mit unbegreiflichen Mächten geladen, durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen1 und verleiht dem Dichter „eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe",2 die uns furchtbar erscheint, wenn sie sich gegen Mörikes Umwelt wendet. Denn immer wieder durchkreuzt das dämonische Spiel die moralische Weltordnung.3 Alle sittlichen Kräfte vermögen nichts über es,4 bis die Dämonen sich gegen den Menschen wenden und ihn wieder ruinieren.5 Dies alles sind Worte Goethes. Daß wir sie zu Recht für Mörike benützen, versuchen wir im folgenden darzulegen. Eine Beziehung ist augenscheinlich: Goethe nennt Mozart eine Verkörperung des Dämonischen, Mozart aber ist das schönste Symbol von Mörikes Spiel.

Mörikes Leben und Werk ist von einem kindlichen Schimmer umglänzt. Be-rühmt und oft zitiert ist sein Jugendglück mit den Astlochphantasien im be-schränkten Winkel.® Noch als Zwanzigjähriger hat sich der Dichter in seinen Spielen nicht von dieser Welt entfernt. Im „Waldhäusle" fühlt sich sein „Inner-liches sonderbar geborgen und guckt wie ein Kind, das sich mit verhaltenem Jauchzen vor dem nassen Ungetüm· draußen versteckt, mit hellen Augen durchs Vorhängel, bald aus jenem, bald aus diesem vergnügten Winkelchen".7 Er macht seiner Schwester „tausend (jedoch unschädliche) Sachen und hohle Nüsse vor, wodurch sie außer sich selbst gesetzt wird und mich mit großen Augen ansieht, bis wohl auch zuweilen diese Bewunderung in lautes Schreien, Weinen und Hilfe-rufen gegen das zitierte Geisterreich ausschlägt."8

1 zu Eckermann 2. 3. 1831, Eckermann, Gespräche mit Goethe ed. Η. H. Houben, Leipzig 1918, 373.

2 Diditung und Wahrheit 20. Budi, WA 1.29 177. 3 ebda. 176. 4 ebda. 177. 5 zu Eckermann 11.3. 1828, ed. Houben 542. 6 Mörikes Werke hg. v. Harry Maync, Neue Ausgabe Leipzig-Wien 1914, II 287. 7 an Wilhelm Waiblinger Aug. 1824, Briefe hg. v. Friedrich Seebass (im folgenden als

„Briefe" zitiert), Tübingen 1939, 26. 8 ebda. 30.

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Die Briefe, die von seinem Leben mit den Kindern erzählen, sind auch später wähl seine schönsten, gewiß die sonnigsten.8 Zu seiner Kindlichkeit gehört aber noch mehr. Wie ein kleiner Bub verdreht er 1832, als er ein Pseudonym für den Maler Nohen sucht, seinen Namen in E. Meerschwein, Meerrettig, Mopsvesta, von Meerigel und Sanitätsrat Märkle;1 0 Cleversulzbach wird Klepperfeld, Hartlaub Artiglaub, Agnes und Ada zu Bagnes und Bada, Fanny zu Pfanny. Er sammelt leidenschaftlich, was ihm in die Hände gerät, Autographen, Versteinerungen usw. Er bastelt alles mögliche: „Wie er am Grabkreuz für Schillers Mutter Steinmetz-arbeit verrichtete und als Bräutigam selbst dem Goldschmied das Muster des Ringes für Luise entworfen hatte, so stach er sich einen Siegelstock in Silber oder schnitzte . . . aus einem gewöhnlichen Stück Perlmutter ein zierliches Heft oder aus Holz die kunstvollsten Federhalter, womit er dann Nahestehende beschenkte Er riditete Flächen von Baumrinde zu, um der Mutter ein paar Verse darauf zu schreiben oder einen Horazkopf daraus zu schneiden, den er alsdann in ein hübsches Kästchen klebte."1 1 Viel Mühe und Geld verwendet er an den Versuch, Zeichnungen auf Glas zu vervielfältigen.12 Im Alter geht er in Lorch zu einem Töpfermeister in die Lehre und formt nun mit größter Lust Vasen und Töpfe.1 3

Tagelang arbeitet er kalligraphisch, zuweilen sogar für klingenden Lohn, wie bei einem Spiegelschriftgedicht.14 Mörikes Zeichnen war nie wirklich künstlerisches Gestalten, sondern immer Spiel. Aiuf einem Bildchen läßt er uns durdis Schlüssel-loch in Hartlaubs Kirche von Wermutshajusen blicken und spinnt so direkt die Astlochphantasien weiter.15 Auch seine Hilflosigkeit in praktischen Dingen gehört zu seiner Kindlichkeit; ohne weibliche Hilfe ist er verloren und kann kaum einen Ofen anzünden oder Kaifee kochen.18 Herrlich aber ist der alte Herr Professor Mörike, wenn er stundenlang mit einem brennenden Licht im Bett liegt, das auch sonst sdion immer seine Zuflucht vor der Welt war — wie er einst auf der Wiese neben der Kirche lag und sich durch das geöffnete Fenster die Predigt seines Stellvertreters anhörte —, mit den Fingern an der Wand Schattenfiguren produziert und es mit Stolz von anfänglich sechs durch anhaltende Übung schließ-lich auf einige zwanzig bringt!17

Tausendfältig spiegelt sich diese Kindlichkeit Mörikes sichtbar und unsichtbar in seinem Werk wieder. Im kleinen sind die eigentlichen Kindergedichte ein

9 vgl. etwa an Wilhelm Waiblinger Aug. 1824, Briefe 30 f . ; an Hartlaub 2 1 . 3 . 1842, ebda. 542 ; an denselben Anf. März 1862, ebda. 756 ff.; an dens. 20. /25. 3. 1826, ebda. 50 ff.

1 0 an Johannes Mährlein, 5. 6. 1832, Briefe 360. 1 1 H a r r y Maync, Eduard Mörike, 5. Aufl. Stuttgart 1944, 244. 1 2 ebda. 245. 1 3 vgl. Eduard Mörike, Zeichnungen, hg. v. Herbert Meyer, München 1952, 23. 1 4 Werke I 248 ; zweifarbig lithographiertes Einzelblatt, abgebildet in: Briefwechsel

zwischen Th. Storm und Ed. Mörike hg. v. Hanns Wolfg. Rath, Stuttgart 1919, T a f . 6. 1 5 Mörike als Zeichner hg. v. Otto Güntter, Stuttgart Berlin 1930, Abb. 1; andere Fas-

sung: Zeichnungen ed. Meyer 48. 1 8 Maync, Mörike 244. 1 7 ebda. 511 ; vgl. allgemein: Rudolf Krauß, Mörike als Gelegenheitsdichter, 2. Aufl.

Stuttgart Leipzig 1904.

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Das dämonische Spiel 29

Ausdruck dafür, das „Kinderlied",18 das „Mausfallensprüchlein",19 das in keinem Lesebuch fehlende Vogelschutzgedidit „Unser Fritz"20 und vor allem die Gedichte an und für Mörikes, Hartlaubs und anderer Kinder, Geburtstagsgedichte,21

Begleitgedichte zu Geschenken und Rätsel, wie das Reimspiel für „Zwei dichte-rische Schwestern", das beginnt:

Heut lehr' ich euch die Regel der Son— Versucht gleich eins! Gewiß, es wird ge—, Vier Reime hübsch mit vieren zu versch—, Dann noch drei Paare, daß man vierzehn h— . . .22

Auch die eigene Schwester wird immer wieder ins Spiel miteinbezogen; durch Hund und Katze läßt er ihr zu Geburts- und Namenstagen (gratulieren,23 wobei er einmal eine ganze unsinnige Kinderpredigt einflicht.24 Wenn sie schmollt, sucht er sie zu versöhnen:

Da dein Bruder Das Ruder Des Hauswesens führt Und kein Narr ist, Sondern Pfarr ' ist, Der ganz Sulzbach regiert, Der zwar genötigt, Auf Predigt Und manches verzicht't, Auch im Kranze Keine Lanze Für Steudel mehr bricht; Da man ihn ferner Trotz Justin Kerner Als Dichter begrüßt, Und, obgleich Dichter, Er doch die Lichter Für die Haushaltung gießt; Da er dir endlich Unendlich Viel Gutes erweist, Wie er noch gestern Seine Schwestern Mit Zimtstern gespeist: So sollt' ich schließen Aus allem diesen — Doch ist's gescheiter,

18 Werke I 255 f. 19 ebda. 212. 20 ebda. 213. 21 ebda. 255, 345 ff., 350 ff. 22 ebda. 196. 23 ebda. 328 ff., vgl. auch Vogellied, ebda. 212 und Anm. zu 329 (449). 24 Zum Geburtstag 1843, Werke I 330 f.

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30 Die geistigen Grundlagen des Spiels

Ich sag* nicht weiter Und mach' ohne Zirkel Einen schönen ^ 25.

Jede Kleinigkeit wird in Scherzversen besungen und jedes Geschenklein mit Versen begleitet. Wie Mallarm0 schreibt er auf ein Ei — wobei man sich fragt, wie die achtzehn Verse des Gedichts darauf Platz gehabt haben —,2e auf eine Versteine-rung,27 auf seine Blumentöpfe und Trinkschalen.28 Gurkenrezepte, Salatsamen, sogar Stecknadeln werden besungen,29 Kochrezepte und Quittungen30 versifiziert. Das kleinste Ereignis, etwa daß er aus Ärger über seine Fanny, die nicht Klavier spielen will, einen Spiegel zerbricht31 oder daß ihn Schnaken bei der Klopstock-Lektüre stören,32 bekommt ein Gedicht. Diese Verspieltheit ist so völlig kindlich,, daß sie auch nicht vor derben Spaßen wie

Nun, an welchem Paragraphen Sind wir neulich eingeschlafen? — —

Horch'! was scholl? Donnert's wohl??" —

„Fritz sitzt auf dem Hafen" ,33

und vor parodistischen Verballhornungen bekannter Gedichte zurückscheut. Uhlands „Mohn" („Scherz"34), Goethes „Schäfers Klagelied" („Lammwirts Klagelied"35) oder die „Wandelnde Glocke"

Es war ein Kind, das wollte nie Zur Putzscher sich bequemen, Und alle Tage fands ein Wie Den Weg zum Markt zu nehmen.

Doch wehe! wehe! hinterher Die Putzscher kommt gewackelt.3·

müssen zur Schilderung pfarr- und wirtshäuslicher Begebenheiten herhalten. Keines andern deutschen Dichters Werk quillt in einen solchen Reichtum von Augenblicksscherzen über; darüber haben sich schon Mörikes Freunde, besonders F. Th. Vischer, geärgert, die mehr ernsten Fleiß von einem solchen Talent er-warteten und somit die eigentliche Quelle von Mörikes Spiel und Dichtung nicht

25 ebda. 254 f. 26 Auf ein Ei geschrieben, ebda. 220 f. 27 Einer Freundin auf eine Versteinerung geschrieben, ebda. 308. 28 ebda. 320 ff. 29 ebda. 348 f. 30 Frankfurter Brenten, ebda. 275 f.; Quittung ebda. 308 f. 31 Der Spiegel an seinen Besitzer, ebda. 346. 32 Waldplage, ebda. 168 ff. 33 Die sechs oder sieben Weisen im Unterland, ebda. 298 f . 34 ebda. 261. 35 ebda. 209 f. 38 Eduard Mörikes Haushaltungsbuch hg. v. Bezirksheimatmuseum Mergentheim o. J.»

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Das dämonische Spiel 31

erikannten. Es ist leicht gesagt, diese Gelegenheitsgedichte seien neben der „großen Dichtung" unbedeutende Scherze; so kann man nur sprechen, wenn man Mörike aus dem engen Blickwinkel der heutigen Dichtung sieht. Hinter Mörikes Gelegen-heitspoesie steckt mehr: in ihr glänzt wohl zum letztenmal etwas von einer versunkenen Welt der Dichtung auf, von der Welt des Rokoko mit ihrer tänzeln-den und scherzenden Gelegenheitspoesie.362

Zu diesem gesellschaftlich-geselligen Element gesellt sich ein Wesenszug Mörikes, der für uns wichtig ist: sein „unvergleichliches Talent humoristischer Mimik".37

Die großartige Gabe zur Menschendarstellung läßt ihn das Theater so leiden-schaftlich lieben, daß er von sich sagt, er könne „noch zum Wilhelm Meister werden",38 und einmal sogar als Hofmarschall Kalb bei einer Theatertruppe einspringt, worauf die Sage geht, der Vikar ziehe mit einer wandernden Schau-spielertruppe umher.39 Vor allem aber erschafft sich Mörike Phantasiefiguren, mit denen er zeit seines Lebens seine Bekannten mystifiziert und seine Freunde unterhält. Immer wieder erzählt er in den Briefen, daß er bei dieser oder jener Gelegenheit Komödie gespielt habe. Die Figuren, die er vor den Augen seiner Zuschauer entstehen läßt, sind bis auf iganz wenige Ausnahmen bürgerliche Ori-ginale, Karikaturen kauziger Zeitgenossen; manche von ihnen hat er auch ge-zeichnet. Da gibt es einen „Pourquoi": „Der Kerl kommt nemlich, so oft er Gründe anführen will, in ein solches Stocken mit nemlich — ä — natürlich und dergleichen, daß der Zuhörer kaum mehr zu atmen fähig ist; und dabei hat er die Caprice, gerade immer das erklären zu wollen, was sich platterdings von selbst versteht . . . ein Mensch, der seine Gedanken nicht an den Mann bringen kann, sich darüber verhaspelt, und in die ärgste Pein gerät".40 Dann kennen wir einen „Bombeaga", eine Mundartparodie auf die Verwandten von Mörikes Frau,41

einen Pächter Bunz,42 einen Theatercoiffeur Monsieur Ognotet, dessen Name nach Zwiebelkuchen tönt und der ein französischer Verwandter Wispels ist,43 einen fingierten Kinderfreund Äderlein,44 den Herrn Krägle, den kropfigen Angestellten der Rechnungsbalance in Karlsruhe,45 den groben Wüterich Kohler,4® die un-erträgliche Krankenpflegerin Krauß, die Mörikes Schwester pflegen,47 oder die

36a Eine ähnliche Fülle von Gelegenheitspoesien bietet später in der französischen Lite-ratur Stephane Mallarmi, vgl. Oeuvres completes publ. p. Henri Mondor et G. Jean-Aubry, Paris nrf Gallimard 1956, 79 ff.

37 D. F. Strauß, Ludwig Bauer, Ges. Schriften ed. Ed. Zeller, Bonn 1876—78, II 203. 38 an Luise Rau 17. 7. 1831, Briefe 291. 39 Maync, Mörike 141. 40 Ludwig Bauer, Brief vom 9. 10. 1823, zitiert nach Eduard Mörike, Liebmund Maria

Wispel und seine Gesellen hg. v. Walther Eggert Windegg, Stuttgart 1919, 17 ff. 4 1 ebda. 21 f. 4 2 ebda. 19; vgl. an Margarethe von Speeth 5 .5 .1851 , Briefe 699; Zeichnungen ed.

Meyer 47. 4 3 Zeichnungen ed. Meyer 29, 56. 4 4 an Hartlaub 24 .1 . 1862, Briefe 754. 4 5 Zeichnungen ed. Meyer 32, 57. 4 6 ebda. 39, 60. 47 Zeichnungen ed. Güntter 57.

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32 Die geistigen Grundlagen des Spiels

Kaiserin Brimsille, die ihr 50 000 Gulden sdienken will.48 Andere Figuren be-sitzen keinen Namen, nur einen kauzigen Charakter: Mörike schmeichelt einem Freund, von dem das falsche Gerücht geht, er habe in der Lotterie gewonnen, als wohlbeleibter, sich räuspernder Bonvivant49 und gibt sich als alle Arten von Pfarrherren, als einen, der das reine „Euangel" predigt, dh. nur den Text liest, ohne darüber zu predigen, oder als den Pater Schaffner des „Besuchs in der Kar-tause", dem der Küraß besser ansteht als die Kutte.50 Natürlich hat man audi für die und jene Figur Vorbilder in Zeitgenossen gesucht und gefunden.51 Doch schreibt Mörike einmal an Hartlaub: „Ich las ihnen auch den Sehrmann vor und spielte endlich noch Komödie".52 Zu einem großen Teil sind seine Gestalten einfach das, was er Sehrmänner nennt,53 Menschen mit „Schnurrbartbewußtsein" und „glattgespannter Hosen Sicherheitsgefühl": „Die Tugend selber zeiget sich in Sehrheit gern",

Doch nicht die affektierte Fratze, nicht allein Den Gedcen zeichnet dieses einz'ge Wort, vielmehr, Was sich mit Selbstgefälligkeit Bedeutung gibt, Amtliches Air, vornehm ablehnende Manier, Dies und noch manches andere begreifet es.54

Eines dieser Geschöpfe spielerischer Phantasie, der abgerundetste und durch-gearbeitetste aller Sehrmänner, ist Liebmund Maria Wispel, der Diditer der „Sommersprossen". Er ist die Figur, die zur „großen" Dichtung Mörikes hinüber-leitet; er ist der Schlüssel zum innersten Wesen von Mörikes Kindlichkeit.

Wispel stammt aus Mörikes Jugend, er ist ein Geschöpf der Welt von Orplid in jener „ziemlich weitverbreiteten See mit lieblichen, duftigen Inseln", welche die Kinder „vom schönsten Purpur brennend rot erleuchtet" im Astloch des Knaben Nohen sehen. Wispel ist mit Orplid untrennbar verknüpft. Das spüren wir schon aus den Briefen der Freunde, so wenn Bauer an Hartlaub schreibt: „Was meinst Du, wenn wir erst den dritten Mann bei uns haben? wenn wir in Ernsbach oder Wermutshausen das Zelt von Orplid aufschlagen und die Werk-stätte des Uchruckers und die Bude des Professors eröffnen?"55 Mag sein, daß in Wispel die Erinnerung Mörikes an ein Ludwigsburger Original, einen Perückenmacher Fribolin, weiterlebt, den Kerner als einen „ganz dürren, schlan-ken, langgezogenen Menschen in einem enganliegenden, weißen, gestrickten Wämschen, an welches zugleich auch die langen weißen Beinkleider samt den

4 8 ebda 54. 49 an Hartlaub 21 .8 .1826 , Briefe 67 ff. 50 an Hartlaub 24 .1 .1862 , Briefe 754, vgl. W e r k e l 177 ff.: Besuch in der Kartause. 51 zum Präzeptor Ziborius vgl. Werke I Anm. zu 214 (442). Sehrmänner: Zeichnungen

ed. Meyer 24, 42, 55, 62; Maync, Mörike Anm. zu 340 (577). 5 2 an Hartlaub 29. 12. 1842, Briefe 559. 6 3 An Longus, Werke I 164 ff. Der Ausdruck Sehrmann stammt nicht von Mörike, vgl.

ebda. Anm. zu 164 V. 27 (436 f.). 54 ebda. 165. 55 Bauer an Hartlaub 4. 4.1829, zitiert nach Wispel ed. Eggert Windegg 23.

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Das dämonische Spiel 33

Strümpfen angestrickt waren" schildert,58 wie Maync meint;57 zu wirklichem Leben ist Wispel erst in Tübingen und nur zusammen mit seinem Genossen, dem Buchdrucker, gespielt von Mörikes Freund Ludwig Amandus Bauer, gekommen. Uber die „Freimaurerloge", über das geheimnisvolle „Brunnenstübchen, von dem am Tage künstlich verdunkelten und kerzenerleuditeten Gartenhause, wo er [Mörike] mit seinen Erwählten in Shakespeare lese, oder von Orplid, der Stadt der Götter, sich unterrede", von dem „nur wunderliche Sagen im Volke gingen", wie David Friedrich Strauß erzählt,58 ist hier nur das nötigste zu berichten:59

Orplid ist alles, was Jugend sein kann, Freundschafts- und Geheimbund, Poesie einer eigenen mythischen Welt, Zauberwort für alle Träume der Ferne. Orplid bedeutet aber auch Jugendpossen und Jugendscherze, Bogen- und Pistolenschießen, Trinken und Raudien, bedeutet auch Wispel und den Buchdrucker.

Wispel ist „ein verwahrloster Mensch von schwächlicher Gestalt und kränk-lichem Aussehen, eine spindeldürre Schneiderfigur", aber stutzerhaft gekleidet und von affektiertem Betragen.60 So tritt er in Larkens' phantasmagorischem Zwischenspiel vom letzten König von Orplid zusammen mit seinem Freund, einem groben, versoffenen Buchdrucker, auf.61 Die beiden Gesellen halten mit dem geheimnisvollen Buch aus dem Tempel Nidru-Haddin das Schicksal Ulmons, des letzten Königs von Orplid, in den Händen. Kollmer, der Richter von Eine, kann es jedoch den „schmutzigen und unwissenden Burschen"62 leicht abnehmen. In der eigentlichen Wispelszene warten die beiden auf Kollmer und träumen vom Erlös aus dem Verkauf des Buchs, den keiner mit dem andern teilen möchte.63

Der Buchdrucker ist betrunken und grob, Wispel immer geschäftig und unruhig, von einer Affektion, die auch noch dem größten Elend seine vornehme Seite abgewinnt. Der Buchdrucker schwäbelt („Das ischt ja eine wahre Schweinerei!") und flucht; Wispel hüpft von Fremdwort zu Fremdwort, er rangiert, embelliert, transiliert usw.; er hat keine Haare, sondern Kapillen, die er sich mangels Pomade mit Schmalz bestreicht, der tolpatschige Buchdrucker ahmt ihn darin auf seine Weise nach. Wispel hat nicht nur eine geläufige Zunge, sondern auch einen geläufigen Verstand voll Unsinn und Gedankenschrullen. Sein Freund hält dem nur die Faust als Ausdruck seines Geistes entgegen. Die Szene endet mit der Enttäuschung, daß Kollmer nicht persönlich erscheint. Der Buchdrucker bindet Wispel fest, um sich allein dem Auspacken des Profits in Form von Mehl, Honig und einem goldenen Kettlein zu widmen. Wispel „fängt an, mit dem Saft seines Mundes künstliche Blasen nach der Art der Seifenblasen zu bilden. Der Budi-

5 6 Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, Stle. poet. Werke ed. Josef Gaismaier, Leipzig o. J., IV 222.

5T Maync, Mörike 23. 5 8 D. F. Strauß aaO 203. 5 9 vgl. etwa Werner Zemp, Mörike, Elemente und Anfänge, Frauenfeld Leipzig 1939,

58 ff. 6 0 Werke II 21 f. 6 1 7. Szene, Werke II 127 f. 6 2 2. Szene, ebda. 111. 6 3 8. Szene, ebda. 128 ff.

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34 Die geistigen Grundlagen des Spiels

drucker sieht ihm eine Zeitlang durch das Schlüsselloch ziu. Endlich schläft Wispel ein."64 Die heitere Seifenblase der Szene löst sich auf.

Mörike ist es bei dieser Fassung nicht recht wohl, schreibt er doch an einen Jugendfreund: „Die Wispelszenen des Orplidstücks hab ich ohnedem revidiert und alles weggestrichen, was allzuderb aussehen könnte. Wofem Du's aber sonst im Mindesten nicht passend hieltest, unterblieb' es natürlich."85 Freilich weicht dann die zweite Fassung in <ler Sammlung „Iris" (1839) kaum von der ersten ab, wohl weil der Dichter auf die geplante Widmung an die Prinzessin Marie von Württemberg verzichtet hat. In der dritten Fassung des „Letzten Königs von Orplid", des „Schattenspiels", wie es nun heißt, ist die Wispelszene völlig umgearbeitet und straffer aufgebaut.68 Die beiden Figuren sind nun professionelle Schatzgräber, was den Fund des Buchs erklären soll. Gumpredit, der Branntwein-zapf, wie Mörike jetzt den Buchdrucker nennt, flucht zwar noch und streicht in seiner Tolpatschigkeit zu viel Schmalz auf die Haare, aber er schlägt nicht mehr drein, sondern antwortet auf Wispels Theorien mit „Guet". Wispels Affektiert-heit ist stark eingedämmt. Die Wispelszene ist kein Dorfschwank mehr, sondern der märchenhaften Südseeszenerie der Insel angeglichen. In Erwartung des jetzt exotischen Lohnes (Schildkröten, Kokosnüsse, Ananas und Gazellenfelle) phanta-siert Wispel — er hat sich schon in der ersten Fassung als Professor ausgegeben — über das Schulwesen, er möchte ein „Gymnase, ein Coll£ge" gründen und als Professor „employiert" werden. Wispel wird Professor Sicher£ und hält seine ersten Vorlesungen. Seine neue Liebessehnsucht nach den Töchtern Anselmos, der Kollmer ersetzt, unterstreicht er mit einer „Serenade". Das Speichelblasen ist gestrichen. Zweifellos hat diese Umformung trotz des durchdachteren Aufbaus, trotz der neuen Professorenhaftigkeit Wispels und trotz der Serenade viel vom Reiz der ersten Fassung verloren.

Wispel oder Professor Sichel — beide sind ein und dieselbe Person — ist auch in Mörikes Leben von allen kaiuzigen Geschöpfen des Dichters das wichtigste. So berichtet er 1824 an Mutter und Luise von der Rückreise nach Tübingen: „Nachher lief idi einen Berg hinauf, hinter den Rädern her und spielte im Ton des vagierenden, imaginären Herrn Professor Sicherer auf ein übriges Plätzchen in der Schäse an,"87 oder er schreibt an Johannes Mährlein in Wispels Sprache: „Noch hatte ich in das Bilderpäckchen erst ein und den andern schüchternen Blick geworfen und ihn sogleich wieder (wie der Professor Sicherer sagen würde) mit fröstelnder Ahnung zurückgezogen."68 Ein andermal erzählt Sichere, er habe an einem Mann gerochen, der einmal an einer indischen Blume und zwar an einer

64 szenische Anmerkung, ebda. 134. 65 an Hermann Hardegg 17. 2. 1839, Unveröffentlichte Briefe hg. v. Friedrich Seebaß,

Stuttgart 1941, Nr. 66, S. 95. 66 jetzt 4. Szene, Eduard Mörike, Maler Nolten, Vierte Auflage, Dritter Abdruck der

Neubearbeitung [hg. v. Julius Klaiber], Stuttgart 1893 (im folgenden zitiert als „Klaiber-Ausgabe") I 177 ff.

67 an Mutter und Schwester Luise 6. 2.1824, Unveröffentlichte Briefe Nr. 10, S. 11. 68 an Johannes Mährlein 14.3.1828, Briefe 107.

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Das dämonische Spiel 35

Aloe gerochen habe.09 Einen Hermann Kurz zieht Mörike gleich zu Beginn der Freundschaft in dieses Spiel hinein; wie Kurz einmal seinen Schreibtisch und sein ganzes Zimmer verwüstet findet, hat er zuerst den Budidrucker als Übeltäter im Verdacht: „Aber wie kam der Buchdrucker hieher, wenige Tage nachdem er mir einen excellenten Brief geschrieben hatte, wozu er sich offenbar Ihrer Feder bediente und für dessen Besorgung ich Ihnen meinen gefühltesten Dank zu sagen habe? Überdies, wenn das Papier von ihm herrührt, so mußte .bei einer der beiden Strophen, die eine kritische Exegese allerdings, ohne sich zu blamiren ihm zu-schreiben könnte, Wispel Mitarbeiter gewesen sein."70 In Mörikes Briefwedisel mit den Hartlaubs würde Wispel etwa bei der Geburt von Hartlaubs erstem Sohn „zur Revanche und einiger Dämpfung elterlichen Stolzes nur ganz im Gegenteil hartnäckig nur von der ,lieben Kleinen', Hildegardis oder Edeltrudis reden."71 Wispel hat Mörikes Schneider und Türmer in Mergentheim besucht, der ihm aus einem gestohlenen Stück grünen Bettvorhangs ein neues Fräcklein anfertigen soll.72 Im Alter gedenkt der Dichter wehmütig Bauers als des Buch-druckers, wie er den Maximiliansorden bekommt: „Denke dir den seligen Bauer als Buchdrucker, wenn er mich seinen Bruder, in diesem Augenblicke vor diesem Hofmann hätte stehen sehen, um einen Orden in Empfang zu nehmen — mich} wie boshaft er hinter dem Ofen in seine Faust »gekränkelt' hätte!"73 Natürlich hat Mörike Wispel in seiner ganzen Geckenhaftigkeit und Frechheit, mit Stöckchen, Fräckchen und Hut auch gezeichnet.74 Für Bauer und Hartlaub sind zwei der drei eigentlichen Wispeliaden außerhalb des Nolten .geschrieben. Von der dritten, der zeitlich ersten, kennen wir den Empfänger nicht. Daß es ebenfalls Bauer oder Hartlaub war, scheint unwahrscheinlich. Die Einleitung ist für jemanden berechnet, der Wispel noch nicht kennt. Datiert ist dieses Schreiben Wispels „den 4. Streichmonds 26"; falls das Datum stimmt, wäre es also 1826 geschrieben, sei es in Tübingen, worauf die Klagen über die Einsamkeit Wispels in Orplid hin-deuten könnten, da Bauer 1825 das Stift verließ, oder in Oberboihingen, Mörikes erster Vikariatsstation, was man aus der Ortsangabe „Oxawittle" als einem Spiel mit ßoihingen — bos-oxa herauslesen möchte, oder schließlich in Möhringen. Der Brief ist offensichtlich mit Anspielungen auf dem Empfänger bekannte Orte, Begebenheiten usw. gespickt, vielleicht auf Tübinger Stiftsdinge:

Oxawittle, den 4. Streichmonds 26. Verehrtester Herr und Gönner!

Ich nehme mir die Frechheit, Ihnen ein Sendschreiben anzuwidmen. Mein Bruder hat mir gesagt, Sie haben hierher-geäußert, daß Sie meine Individual-Bekanntschaft zu machen wünschten. Sie kennen meine Leidenschaft für Wissen, Schönes und

6 9 an Hartlaub 20./25. 3. 1826, Briefe 65. 70 Kurz an Mörike 16.12.1837, Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard

Mörike hg. v. Jakob Baechthold, Stuttgart 1885, Nr. 16, S. 52 ff. 71 an Wilhelm und Konstanze Hartlaub 9. 7. 1845, Briefe 597. 72 an Hartlaub 29. 6. 1846, Briefe ausgewählt und hg. v. Karl Fischer und Rudolf

Krauß, Berlin 1903, II 127. 73 an Wilhelm und Konstanze Hartlaub 10. 12. 1862, Briefe 759. 74 Zeichnungen ed. Güntter Abb. 38; Zeichnungen ed. Meyer 28.

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36 Die geistigen Grundlagen des Spiels

Literaturverzweigung — so kennen Sie die Hälfte meines Ichs. Ich-Nichtich sagt schon Ficht. Indessen je länger ich auf diesem vergessenen Eiland, wo nicht die geringsten Literatur-Hebel existieren, fuße, je mehr sage ich, sich dieser Aufenthalt — in Ermangelung gehöriger Abfahrt-Navigation — verlängert, desto mehr ver-kürzt sich, um ein Wortspiel zu gebrauchen, mein Wirkungskreis. Das einzige, was ich hier seit 1 Jahr habe tun können, sind einige wenige Novizen über die hier vorkommenden Schwirrvögel oder Insekten; ich habe in der Gegend des Wartturmes, im Löffelgrund, eine Klasse Wanzen entdeckt, die einen viel schärferen Geruch hat als die deutsche Bettwanze, sie nistet hinter alten Baumrinden und möchte füglich die Lauerwanze genannt werden. Außerdem einige Mutmaßungen über Geschichte der Vor-Menschheit. Hierzu waren mir die Sagen, welche unter dem Volke hier umlaufen, ohne Interesse, da ich ihren Ursprung zu wenig kenne und durchaus gründlich sein möchte. Der Boden dieser Insel ist audi durchaus nicht klassisch, man findet nicht eine Statue, nicht eine. Ith muß jetzt abbrechen: es ist zehn morgens, wo idi mich gewöhnlich im Freien zu rasieren pflege.

Fortgefahren nachmittags 12 Uhr. Ich bin sehr beschäftigt, eine warme Quelle hier zu entdecken, um zum Behuf des Rasements, immer sogleich warmes Wasser zur Hand zu haben.75

Aus Hartlaubs Nachlaß stammt die zweite Wispeliade, ein Reiseerlebnis des Professors und des Buchdruckers, das Mörike berichtet worden sein soll.7® Der Professor will mit dem Buchdrucker unter Zuhilfenahme eines „Flächendeuters", das heißt einer Landkarte, nadi Aalen reisen, um eine käufliche Druckerei zu besichtigen. Unterwegs werden sie von einem Herrn belauscht, als der Professor dem Buchdrucker den Inhalt seines ersten Werkes auseinandersetzt, zu dem er sdion drei bis vier Vorreden im K o p f hat, denn „die Prolegom^nen sind die Hauptsache, vielleicht geb' ich sie auch einzeln heraus."

„,Ein Werk aber wird Aufsehen, Revolte veranlassen, das ist mein Sturz Linees. Du kennst diesen Naturalisten, diesen Schwärmer. Sein System ist sinnlos. Es gibt nichts Kapriziöseres als seine Einteilung der Pflanzen- und Bestial-Welt. Man kann ihn einen trocknen Verstandes-Schwärmer nennen, einen Sophisten. Ich habe 302 Sophimata bei sei'm System aufgezählt.'

Buchdr.: ,Mnja.' Prof. : .Meine Gegenbehauptungen werden stark, sie werden kühn sein, aber umso

gewisser werden sie siegen. Man wird sie am Ende natürlich finden, man wird Linee'n einen Pedantiker nennen: Was konnte ihn z .B . verleiten, die Rubrik der Säugetiere so einzuschränken: Ist etwa die Bremse, der Blutegel nicht so gut ein Säugetier als der Elephas helfenbeiniensis etc.? Wie? übersah Herr Lin£e denn gänzlich den Saug-rüssel dieser Geschöpfe? Er muß wahrhaftig noch keine Biene in der Nähe betrachtet haben. Wie weise ist doch vom Schöpfer alles eingerichtet! und das sollte Herrn L. entgangen sein? Ferner wie engherzig ist bei ihm die Rubrik »Insekten'! Was will er denn? Ich werde den Satz aufstellen, daß alles Geflügel, was unter der Größe einer Schnepfe ist, zu den Insekten zu rechnen sei. Mit 8 Worten ist dies bewiesen. Ferner: Warum rechnet Herr L. die Fische nicht zu den Mollusken? gibt es kätschi-geres Fleisch als das der Schwimmtiere? Der Walfisch ist der größte Mollusk. Über-haupt aber was will eine Einteilung der Werke des Allvaters besagen vonseiten eines endlichen Verstandswesens? Wie kann er sagen, dies ist ein Ungeheuer, jenes ein Infusionstier? In den Sehnerven Allvaters rinnt das Volumen eines Nilpferdes zu einer Banmeise zusammen. So ist der Mammut eigentlich nur die größte Infusion.'

7 5 Werke I I 497 f. 7 6 ebda. 449 ff.

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Das dämonische Spiel 37

Buchdr.: ,Mnjä.' Prof.: ,Weil aber doch einmal klassifiziert sein will, so will Ich klassifizieren.

Ich werde namentlich die bisherige Ordnung der Planeten, Blumen oder Floskeln umstoßen. Ebenso das Gestein-Reich. Ich werde zeigen, daß es audi unter den Steinen Männgen und Weibgen gibt. Auch sie begatten sich.' etc.

Hier wurde der Buchdrucker aufmerksam, und es entspann sich ein Gespräch, das ich nicht erzählen mag . .

A m Abend stellt sich dann heraus, daß der Flächendeuter doch nicht den rechten Weg gewiesen hat, und der Professor erhält vom Budidrucker im „Privet" eine tüchtige Tracht Prügel.

Die zoologische Systematisierung nach neuen Normen kennen wir auch aus einem andern „Versuch" Mörikes: 1840 teilt er die Menagerie in Tierklassen ein, in „1. stinkende und zugleich singende, 2. rein singende, 3. rein stinkende, 4. solche, die weder stinken noch singen, unter welche letzte der Joli und die Katze zu kommen sich schmeicheln".78 Neu ist jedoch an dem Bericht die Sprache des Professors. Der umständliche Ausdruck und die Fremdwörter wie Prole-gom0nen und negotiieren sind zwar dieselben geblieben; aber jetzt verändert Wispel-Sicher£ auch die Aussprache der Wörter . Die Ameisen werden zu „Ban-meisen", der Buchdrucker zum „Uchrucker", der in der „Ruckerei ruckt". A n -scheinend ist das anlautende Α zu offen und direkt, „Ban"-meisen lassen sich eher lispeln; wo das Β dann wirklich hingehört, wird es als zu banal gestrichen. Das fehlende D ist wohl dem Mangel an Zähnen zuzuschreiben, der im Orplid-spiel ausdrücklich erwähnt wird. 7 9 Mörikes Wispelei greift nun also auch auf den Sprachkörper über.

Die schönste Wispeliade hat Mörike Ludwig Bauer geschenkt: die „Sommer-sprossen / von / Liebmund Maria Wispel / Bel-Esprit / Lettre de cachet & c &c / Creglingen / zu haben bey dem Verf. / 1837. / Mit einem Stahlstich".8 0 Wie Mörike zu diesen Gedichten gekommen ist, erzählt er Hart laub:

„Nun gleich etwas Neues. Du warst kaum weg und ich lag auf dem Bette, so klopfte es an und Herr Professor Sichere tritt herein. Die Freude war natürlich auf beiden Seiten groß. Nachdem er mir mit dem bekannten Blinzeln und jenem Zwinkeln des ganzen Gesichts verschiedene ganz undenkbare ,Plänchen zur Suffulzierung seiner Pekuniar-Subsistenz' mit größter Unklarheit in der beliebten desultorischen Manier entwickelt, wies er mir ein Gedicht von nicht ganz einem Dutzend Versen und wünschte, daß ich ihm einen Verleger hier [in Mergentheim] ,ausfündig' mache. Dies Markelsheim — es würde gar zu gut auf dem Titelblatt als Druckort lauten, wenn er nicht etwa doch noch vorzöge Marienthal [Irrenanstalt] zu setzen. Ich bat ihn, dieses vorderhand noch dahingestellt sein zu lassen und wenigstens noch ein Stücker zwölf oder vierzehn Lyriken zu verfassen, indem ein einziges doch gar zu dürftig wäre. Er wollte dieses nicht sogleich begreifen, jedoch versprach er's mir zulieb. Indessen bat ich ihn, jenen Erstling für Dich, als einen Hauptkenner, ins reine zu schreiben, was denn auch gleich mit großen Vorbereitungen in Rücksicht

1 7 ebda. 450 f. 7 8 an Wilhelm Hartlaub 13. 10. 1840, Briefe 501. 7 9 Werke I I 129. 8 0 Faksimileausgabe der Sommersprossen: Wispel ed. Eggert Windegg 65 ff.; Text audi

Werke I I 431 ff.

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38 Die geistigen Grundlagen des Spiels

auf die Feststellung des Tisches, Ansdiärfung des Gänserichs, Atramental-Mixtur usw. geschah (wobei er fragte, ob ich es rouge oder noir verlange).

Beim Weggehen bat er mich um 12 Kreuzer; er wolle in des Adlerwirts Garten ein ,Boem' konskribieren, wozu er sich jedoch mit etwas Hopfenmälzling aufreizen müsse. Er werde dort die Nacht zubringen. Licht führe er stets in der Tasche, ingleichen Papier und dergleichen. Heut früh nun kommt er wieder und bringt richtig ein Gedicht ,An Goethe'. Es fängt an:

Du hast midi keiner Antiwort gewürdigt? Wohl, weil mein Geist sidi kühn dir ebenbürtigt, Deshalb, du Sprödling, willst du mir mißgönnen, Didi Freund zu nennen? Hab ich dir meine Framse81 nicht gebaichnet? Die zärtste Neigung zart dadurch bezeichnet? usf.

Allmählich wird er ganz malitiös und höhnisch, madit Goethes Gesamtwerke her-unter, beruft sich auf Pustkuchen usw., spricht von Gemeinheit und Frivolität. Da kommen Stellen vor wie folgende:

Ha! ließest du dich schmälings von der scharfen Kritik entlarven!

Und Enfin, so sind gesamtlich deine Verse

Nur güldne Ärse. Doch ich darf nicht fortfahren. Kurz, unverschämt, was man nur sagen kann!

Wir schieden übrigens als gute Freunde. Heute früh ist er nach Creglingen, nadi welcher Stadt er schon seit frühster Jugend eine wahre Sehnsucht hatte, des bloßen Namens wegen. In Cleversulzbach hofft er deine persönliche Bekanntschaft zu machen."82

Die „Sommersprossen" selbst sind „Sr Wohlgebohrn Herrn Prof. Ludwig v. (Luigi de) Bauer zum X V t e n Weinmondes M D C C C X X X V I I gebaichnet vom Ver-fasser.", sie sind also ein köstliches Geburtstagsgeschenk zum 15. Oktober 1837, ein Heft dien in hellblauem, biegsamem Glanzkarton mit feinem weißem Schreib-papier83, von Mörike aufs sorgfältigste mit allen erdenklichen kalligraphischen Künsten ausgestattet, mit Schnörkeln und verschiedenen Schriftarten — Antiqua und Fraktur wechseln oft innerhalb eines Worts — und mit einer nicht ganz ausgeführten Illustration zur Ballade „Der Straefling": Wispel in gelbem Frack und grünen Nankinghosen wird nach der Legende vom Portier aus dem Zwiebel-beet gejagt.

Schon im Vorwort schlägt Mörikes spielerische Laune über die Grenzen der Sprache hinaus:

Bevorwortendes „Factiirusne opera pretium sim — — — nec satis scio, nec, si sciam, dicere

ausim" — so beginnt der große Tite-Live seine meisterhafte Geschichte des Römischen Stuhls, und ähnliche Gefühle der Bescheidenheit beseelten mich bei Auszwarkung dieser Poemen. Allein die Stimme zersdiiedener Kenner und Mäzenaten, welche meiner poetischen Arterie einen, wohl nicht ganz fehl greifenden, Beifall zugeflüstert, (ich nenne hier statt aller Andern blos Se. Hochwürden, Herrn Dom Dechant Hart-

81 nach der Anmerkung Mörikes „Die Bremse", ein Gedicht. 82 Brief an Hartlaub 14. 9. 1837, Briefe ed. Fischer-Krauß I 262 f. 83 Werke II 504.

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Das dämonische Spiel 39

laub in W.) ermuthigte midi endlich zu dieser literärbezüglichen Entreprise. Unschwer würde es gewesen seyn, die Banzahl der hier präsentirten Piecen auf das Dreifache zu steigern, doch eben jener Kenner und Patron bemerkte, daß Gedichte, zumal Lyriken von gegenwärtigem Genre, wenn sie en masse antreten, nachgerade äkelhaft zu werden pflegen.

Lange Vorreden sind die Sache eines, auch nur halbwegs, bedeutenden Schriftstellers nicht; es wäre daher lächerlich und abstrakt, ein Wort weiter hinzuzufügen. Alles Übrige ist in der Nachschrift angeschiftet. W.8 4

Wir erkennen Wispel an seinen Fremdwörtern wieder, daran, wie er die poetische Ader zur poetisdien Arterie macht oder von einer literärbezüglichen Entreprise spricht, an seiner großartigen Unwissenheit, mit der er anerkennend Tite-Live's meisterhafte Geschichte des Römischen Stuhls erwähnt. Auch hier vermeidet er den harten A-Anlaut und formt die Anzahl zur Banzahl um. Es sei daran erinnert, daß diese Anlautvariation die Grundlage der meisten kindlichen Aus-zählreime bildet. Aber sonst ist Wispel reifer geworden und hat sich eine eigene Sprache angeschafft. Deren Sinn ist zwar noch zu durchschauen, aber nicht mehr direkt aus dem Wort zu verstehen, bis man erkennt, daß hier der Schwabe mit den Wörtern seiner Mundart spielt.

Die Poeme sind „ausgezwarkt", was nach dem schwäbischen „Zwerge" wohl so viel wie „mit gewaltiger Anstrengung herausgearbeitet" bedeutet, mit dem wortspielerischen Unterton von „ungeschickt gearbeitet".85 Im letzten Satz sagt der Schwabe „anschifte" für anfügen.86 Daß es „zerschiedene" Kenner gibt und die Lyriken — der Strich über dem I wird die Länge angeben — an- und nicht auftreten, ist jedoch völlig eigene Sprache. Daneben schimmert in diesem Vor-wort eine persönliche Anspielung durch: Wispel selbst hätte sich gewiß nicht an die Warnung des Kenners und Patrons Hartlaub gehalten, daß „Lyriken von gegenwärtigem Genre, wenn sie en masse antreten, nachgerade äkelhaft zu werden pflegen". Die Freunde haben wohl Mörikes Wispeliaden einen Riegel gestoßen; anscheinend ist ihnen Wispel allmählich auf die Nerven gefallen,

Wispels Sammlung besteht aus zwölf Gedichten in allen möglichen Tonarten, Balladen, Stadielreimen und Horaz-Oden, galanter und eigentlicher Gedanken-lyrik. Das Avertissement am Schluß verspricht weitere „Nachgeburten", der Ankündigung nach zum Teil Parodien, etwa „An die katholische Religion [Petri-nism] Im von Hardenberg'schen Styl", „Umarbeitung des v. Schillerschen ,Lau-rette am Flügel' (Ich beginne: ,Wenn dein Finger durch den Stahl-Darm geistert*)" oder „Sonett. Unter heftigen Schmerzen, als ich in einem Gehölze bei Zwerenberg lag und zu sterben meinte" als Parodie auf Körners „Abschied vom Leben. Als ich schwer verwundet und hilflos in einem Gehölze lag und zu sterben meinte", Horaztravestien: „An den Krammets-Vogel, (würde, in flakkischer Weise, etwa anfangen: ,Du, Philomelens glücklichster Sang-Rival' etc.)", aber auch ein didak-tisches Gedicht „Bei Betrachtung des Glanz-Gaifers der Gartenschnecke (cochl. hört. Lin.)".

84 "Wispel ed. Eggert Windegg 70 f. 85 Hermann Fischer, Schwäbisches Wörterbuch, Tübingen 1904—36, VI. l 1442 f. 86 ebda. I 252.

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40 Die geistigen Grundlagen des Spiels

Doch nun zu den Gedichten selbst. Sie beginnen mit einer „Elegischen Balladiere" :

Der Straefling Elegische Balladtere.

Im Kerker zu Stouttgart gedichtet d. 3. Ap. 1837.

In des Zwingers Mißgerüchen Fröstelnd sitz' ich da;

Weil man midi der königlichen Zwiebeln dräuen sah.

Denn ich wähnt', es wär nicht übel. Wenn wir unserem Aquavit

Statt gemeiner Zähren-Zwiebel Zärtern Schmälzling theilten mit.

Und ich schlich zum Herrscher-Garten, Wo der Silberstölzling schwimmt,

Wo die Afrikanen schnarrten Und die Tulpe flimmt.

,Ihre Knolle auszuzwarken, Hilf, ο Kiipris, mir!

Niemand wird mir dieß verargen, Niemand lauschet hier!'

Und schon bohrt' ich auf die Neige Und schon gab sie nach,

Als aus nahem Lust-Gezweige Still ein Bosmann brach.

Und ich trat mit meinem Zweke Floskelnhaft hervor,

Doch der goldbordirte Reke Wismet' mir kein Ohr. —

— Wie nothwendig Junge brechen Aus dem HühnerEi,

So folgt jeglichem Verbrechen Stets die Polizei.

In des Zwingers Mißgerüchen Fröstelnd siz' ich da,

Weil man mich der königlichen Zwiebeln dräuen sah.87

Niemand wird nach diesem ersten Werkchen bezweifeln, daß Wispel ein Dichter ist, sind doch Form und Inhalt miteinander verschmolzen, wie es die Literatur-kritik verlangt, die Wiederholung der ersten Strophe am Schluß rundet die Ballade ab. Ja , auch poetische Sprache ist Wispel nicht abzusprechen, er sagt dräuen statt drohen und nennt die Zwiebel alliterierend „Zähren-Zwiebel" oder „Schmälzling", weil er damit seine Suppe schmelzen kann. Diese Substantive auf

8 7 Wispel ed. Eggert Windegg 74 ff.; eine etwas andere Fassung von „Prof. Sichert" bei Krauß, Mörike als Gelegenheitsdichter 162 ff.

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Das dämonische Spiel 41

-ling haben es ihm ohnehin angetan, neben dem Silberstölzling für den Schwan haben wir schon den Hopfenmälzling, das Bier, angetroffen. Das Gebüsch wird zum Lust-Gezweig, aus dem der Bosmann, ein böser Mann also, eine Parallele zum Sehrmann, als goldbordierter Recke hervorbricht. Dem Bild von der flimmenden Tulpe ist ebenfalls eine gewisse Sprachgewalt nicht abzusprechen, selbst wenn es der Reimzwang herbeigerufen hätte. Die Kraft des Scherzes liegt einmal vor allem darin, daß es sich um einen Zwiebeldiebstahl handelt, das Thema folglich der bilderreidien und oft abstrakten Sprache nicht ganz angemessen ist, dann natürlich in den Bildern selbst, die in der zweitletzten Strophe in logisdien Unsinn um-schlagen. Selbst wo blasseste Bilder miteinander kombiniert werden, erreicht Wispel unerhörte Wirkungen: „Und ich trat mit meinem Zweke / Floskelnhaft hervor". Daneben werden natürlich Wortscherze wie „auszwarken" eingeflochten. Anmer-kungen und Anmerkungen zu den Anmerkungen zerspielen das Gedidit noch weiter. So wird die zweite Strophe mit der Fußnote ergänzt:

Audi mein Kochwerk auszubessern Pröblings wollt ich's thun

Diesen Wissenszweig zu größern Kann mein Geist nicht ruhn,

worauf zum ersten Vers nochmals beigefügt wird: „Der Verf. beabsichtigte die Herausgabe eines Kochbuchs mit baichenen Ideen, welches sein Bruder drucken wollte." Aber auch andere Ergänzungen, etwa, daß Aquavit ein „Euphemism, pour Wasser-Soupe" und Reke „Altteutsch pour Portier" sei, spinnen den Scherz aus.

Das nächste Gedicht „An die Schönen des Katherinen Stifts in Stuttgart", zwei Vierzeiler, in denen Wispel statt des Katheders „ein eigenes Geschichts-Theater arrangiren" will, ist auf Bauer gemünzt, der 1835-1838, also zur Zeit der „Sommersprossen", dort Lehrer war. „Der Antrag ging jedoch nicht durch und die wichtigsten Fächer werden durch Fuscher und suspendirte Pfarrer besezt". Die Ironie des Schicksals wollte es, daß audi Mörike 1851 dort in größter Not eine Anstellung fand. Ahgesehen davon, daß Wispel die Wißbegier durch ein kräftigeres Wiß-Gier ersetzt, fallen die Verse nicht aus dem Rahmen eines ein-fachen Sdierzgedichts, ebenso könnte das übernächste „An eine Weinende" \gut in den „Musenklängen aus Deutschlands Leierkasten" stehen, besonders mit den beiden Sdilüssen zur Auswahl:

Dann in unserm Liebesgarten Wollen wir ein Kind erwarten, Das der Storch, wenn's ihm gelingt, Einst aus Edens Teiche bringt.

(Oder, falls Lezteres zu kühn, beliebe man:)

Nimm, ο Liebliche, einstweilen Diese zartentworfnen Zeilen Und, als Mittel, diesen Kuß Wider deinen Zährenfluß.88

88 Wispel ed. Eggert Windegg 80 f.

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42 Die geistigen Grundlagen des Spiels

Diese Verse reihen sich völlig in die gesellschaftlichen Scherzpoesien des beginnenden 19. Jahrhunderts ein. Vor ihnen steht jedoch der „Sarkasme" „An meinen Bruder den Uchrudcer":

Du Mich mit Perl-Schrift drucken? Nein! Ich bin die Perle und du bist das Schwein,89

in dem sich Grobheit mit einer paradoxen Assoziation verbindet (Perl-Schrifl — Perle — Perlen vor die Schweine werfen), wie wir sie aus Scherzen des zwanzig-sten Jahrhunderts bei Morgenstern usw. kennen. Das fünfte Gedicht „La Jalousie" verspottet Ludwig I. von Bayern, den „guten König und mäßigen Dichter":

Ich ging an Louis von Bayerns Schloß vorbey Da wispert' man ihm zu, daß ich es sei: Von Baiern eilt an's Fenster, mich zu sehn, Doch nur verstohlen wollt* er nach mir spähn; Ich merkt' es wohl und lächelt' vor mich hin: ,Ein Dichter sieht sehr oft aus Jalousien Ja manchmal gar aus prächtgen Basiliken Mit Basilisken-Augen nach sich blicken!'90

Nur der Wortwitz mit Jalousie als Eifersucht und Fensterladen und seine unsinnige Fortsetzung Basiliken-Basilisken sind ganz wispelisch. Der Scherz von der Eifersucht Ludwigs auf seine Dichterkollegen war weit verbreitet; Gotthelf schrieb nicht viel später: „Und endlich muß ich noch melden, daß mein Kolleg, der Ludi in Bayern, der auch Bücher schreibt, schalus über mich geworden ist und meine ,Armennot' verboten hat. Mache er nur, was er kann, deswegen verbiete ich ihm seine Bücher nicht, bin nicht schalus über ihn, er wird deswegen seinen Büchern um nichts besser abkommen, der arme Ludi!"91

Es mußte Wispel reizen, einmal wie Mörike Horaz zu übersetzen, und er wählt dafür ausgerechnet „Vides, ut alta s t e t . . (Chansons, Livre 1, od. 9)". Daß dabei nur Verdrehungen, Mißverständnisse, kurz Unsinn herauskommen kann, ist klar. Zur Theologie der Zeit mußte er ebenfalls Stellung nehmen. Im „Sarkasme wider den Pietism" verrät er das Rezept eines „wonne-schmerzlich Reu- und Buß-Tränkleins", eines Extrait d'evangile aus dem in Branntwein eingeweichten „Evangilen-Buch", und in „Meine BAnsicht" wettert er gegen die StraußenEier von D. F. Strauß, den er freilich nicht gelesen hat, „weil der Preis zu diffizil", der aber die Unsterblichkeit „auch sogar in Würtemberg" zerstören will, und gegen dessen Drucker Oslander, dem audi der Druck des christlichen Taschenbuchs „Christoterpe" nicht helfen kann:

Strauß und Osiander Müssen beide sterb', Einer wie der Ander, Trotz der Christoterp'!

8 9 ebda. 90 ebda. 82 f . 91 Neuer Berner Kalender für das Jahr 1843; Stle. Werke in 24 Bden. ed. Hunziker

und Bioesch, Erlenbach-Zürich 1921 ff., X X I I I 364.

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Das dämonisdie Spiel 43

Glaubt nur, daß die Hölle drüben Eudi mit gleichem Recht verschluckt, Denn der Eine hat's geschrieben, Und der Andere hats gedruckt!92

„Ich habe schon so manche Prosa von verkappten Wispels über midi zu lesen gehabt und freue midi nun auch vom wahren Wispel Poesie zu bekommen", schreibt Strauß darüber an Mörike.93 Aber nicht nur Strauß betrachtet Wispel als Sehrmann, auch Goethe muß dem eifersüchtigen und schadenfreudigen „Dichter-freund" herhalten:

Sarkasme An v. Göthe

D u hast mich keiner AntiWort gewürdigt, Wohl weil mein Geist sich kühn dir ebenbürtigt? Deßwegen, Sprödling! willst du mir mißgönnen

Dich Freund zu nennen?

Ha! eitler Stolz! Man sah dich von der scharfen Kritik Bustkuchens schon vorlängst entlarven; Da zeigte sichs, daß alle deine Verse

Nur güldne Ärse!94

Pustkuchen, der polemische Fortsetzer des „Wilhelm Meister", hat Goethe ent-larvt. Sind die Ärse nur ein Reimspiel zu Verse und stehen für Ähren? Bedeuten sie A . . . im Sinne des den Ähren entgegengesetzten Teils der Garbe,95 oder ist etwas weit Schlimmeres gemeint, etwa nach dem Sprichwort „Ein schöner A . . . gibt schön Gestalt, und schön Gestalt hat groß Gewalt"?96 Alle Varianten sind Wispel zuzutrauen, die Vieldeutigkeit mag beabsichtigt sein.

Die zuletzt erwähnten Wispelgedichte sdieiden sich von ähnlichen Sdierzen aller Zeiten nur in den unlogischen Gedankenverbindungen und in der Spradie; diese beiden Elemente geben ihnen einen persönlichen Reiz. Von allen Seiten dringt Wispels Sprache auf uns ein, in den schon bekannten Bildungen Banzahl, Bansicht, baigen, wismen, Sprödling, in der schwäbischen Aufweichung des Ρ zu Bandeist, Bustkuchen, in schwäbischen Ausdrücken wie „ausfündig" oder „beschmitzen"

beschmeißen, auch in „Turmhahn"), in orthographischen Fehlern wie Wari-ante, Reimvergewaltigungen wie „sterb': Christoterp'", aber auch in neuen schwie-rigen Bildern, so „wie Spießglas zwitzern", was soviel heißt wie „wie Antimon glitzern".97 Er dichtet, wie er spricht, also „Evangilen" usw., und streckt einzelne Wörter „etymologisch", wie Antwort zu „AntiWort". Formen wie „du willt" hat er sicher von Mörike gelernt; andere Bildungen seines Sprachgeistes können wir dagegen nicht durchschauen. Warum sagt er „Framse" für Bremse? Einzelne

8 2 Wispel ed. Eggert Windegg 92 f. 93 Harry Maync, David Friedrich Strauß und Eduard Mörike (mit zwölf ungedruckten

Briefen), Deutsche Rundschau Band 115 (29. Jg. 1902/03) 94 ff., Zitat 105 (8. 2. 1838). 9 4 Wispel ed. Eggert Windegg 92 f . 9 5 Schwab. Wb. I 328 d. 9 6 K. F. W. Wander, Deutsches Sprichwörterlexikon, Leipzig 1867—80, I 146 Nr. 19. 9 7 Spießglas: Schwab. Wb. V 1530; zwitzere: ebda. VI . l 1474.

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Wörter geben direkt Rätsel auf: „Auslaichnen" bis auf den letzten Tropfen scheint mit süddeutsch „lechne" zusammenzuhängen, das aber nur als ausgetrocknet sein oder werden verwendet w i r d , " doch liebt Wispel den kühnen Neugebraudi von Wörtern. Wie er in der Anmerkung zum „Straefling" analog zu jählings ein „pröblings" bildet, so kann sein Geist sidi im Sarkasme an Goethe „kühn eben-bürtigen". D a steckt im kleinen das schöpferische Sprachspiel dahinter, das Mörike audi sonst liebt, wenn er die sonnigen Sehrmänner „Sommerwesten" nennt und eine davon als lebendige Sonnenuhr herumlaufen l ä ß t " oder aus der Febris Scarlatina, dem Scharlach, eine Fee Briskarlatina bildet.100

Die spielerischsten, kühnsten und zugleich vollendetsten Gedichte der „Sommersprossen" sind die drei letzten, die „Serenade" und „Zwo Ältere Ge-dichte". Für die „Serenade" hat das Mörike selbst empfunden, sonst hätte er sie gewiß nidit, umgearbeitet, in die letzte Fassung der wispelischen Orplidszene auf -genommen :

Engelgleich in ihrem Daunenbette, Halb entschlummert, liegt das süße Kind, Während, ach, an frost'ger Stätte Vor dem eisernen Stakete Liebmunds Instrument beginnt. Lächelnd hört sie, wie der Arme, Voll von seinem Liebesharme, Ihr auf dem Fünffingerdarme Eine Serenade bringt.

Es ist kalt —

(Dies wird pizzicato mit der Guitarre begleitet.)

Mondlidit wallt. Siehst Du Liebmunds wandelnde Gestalt?101

Die Fassung in den „Sommersprossen"dagegen lautet:

Serenade zu Tübingen, als ich noch PrivatDocent,

in dem strengen Winter 1829/30

einer Dienenden dargebracht Musique von Bornschein

(Con tenerezza) Eingehüllt in ihre Daunen Feder Ruht, entkleidet, schon das süße Kind, Als mit Eins vor dem fenStre Liebmund's Instrument beginnt;

Und es rührt sie, daß der Arme Noch in seinem LiebesHarme Ihr auf dem Fünf-FingerDarme Eine Serenade bringt.

98 ebda. IV 1082. 99 An meinen Vetter, Werke I 203 f.; An denselben, ebda. 204 f.; audi gezeichnet: Man-

fred Koschlig, Mörike in seiner Welt, Stuttgart 1954, 133. 100 Der Schatz. 101 Klaiber-Ausgabe I 184.

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Das dämonische Spiel 45

(Piccicato) MondLicht wallt;

Es ist kalt. Siehst du Liebmunds wandelnde Gestalt??101

Zweifellos muß man der ursprünglicheren, weniger geglätteten, aber wispe-lischeren Fassung den Vorzug geben. Überraschend ist nicht nur der spielerische Fluß des Ganzen, das Fehlen jeglichen Spiels mit dem gegebenen Spradistoff und die so modern-kabarettistisch klingende Benennung der Gitarre als Fünf-Finger-Darm, sondern vor allem der Pizzicato-Schluß. Das Pizzicato hat eine vollen-dete Form in Worten gefunden, wie sie sonst kaum anzutreffen ist. In diesem Gedicht ist das Spiel vollendete Lyrik geworden. Es wächst über die Grenzen der Sprache hinaus, wenigstens über die Grenzen jenes Wortverständnisses, das die Worte des Pizzicatos nur als ein komisches Anhängsel nehmen kann. Die letzten Worttöne entfernen sich weit von der Gestalt Wispels. Ganz klein steht dieser irgendwo auf der Erde, in völliger Einsamkeit, umflossen von der Kälte der Winternacht. Er wird zum Symbol der Verlorenheit des Menschen und ver-körpert zugleich Mörikes eigenes Schicksal. Seine Serenade verklingt in die Ein-samkeit der Dichtung und des Dichters, in das Zupfen einer Gitarre, die in einer leeren und kalten Welt widertönt wie ein rührend schönes und zugleich wehmütig-schauerliches Echo. Alles endet in zwei Fragezeichen. Die Serenade läßt uns in den Sommersprossen zum erstenmal eine tiefere Bedeutung der Wispelfigur ahnen.

Anders, äußerlicher streift das erste der „Zwo Älteren Gedichte" die Grenzen der Sprache:

Der Kehlkopf

Der Kehlkopf, der im hohlen Bom Als Weidenschnuppe uns ergözt, Dem kam man endlich auf das Trom, Und hat ihn säuberlich zerbäzt; Man kam von hinten angestiegen, Drauf ward er vorne ausgezwiegen.10*

Die schwäbischen und andern sprachlichen Eigenarten Wispels lassen sich relativ leicht übersetzen, sodaß das Gedicht ungefähr sagt: Der Kehlkopf, der im hohlen Baum104 als Weidenschnuppe uns ergötzt, dem kam man endlich auf die Spur105 und hat ihn säuberlich zerquetscht.106 Man kam von hinten angestiegen. Drauf ward er vorne ausgezweigt (gepfropft) oder abgezwickt.107 Sehr viel weiter sind wir allerdings damit nicht gekommen, der Sinn bleibt rätselhaft: die Sprache versagt als Mitteilung. Die Verbindung des Kehlkopfs mit einem Baum ist so außerordentlich seltsam, daß man unwillkürlich an einen Bosch'schen Nachtmahr oder an ein

1 0 2 Wispel ed. Eggert Windegg 94 f. 103 ebda. 96 f. 104 Bom: Schwäb. Wb. I 710. 1 0 5 Trom: ebda. II 422. l o e zerbäzt: D W b I 1160 (batzen); J. A. Schindler, Bayer. Wb., 2. Aufl . München

1872—77, I 314 (bätzen). 107 zweigen: Schwäb. Wb. VI . l 1431, evtl. aber zwicken.

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modernes surrealistisches Gemälde denkt. Ist Mörike der erste Surrealist oder soll das Gedicht andeuten, daß Wispel geisteskrank ist? Sicher nicht. Der ganze Scherz besteht zwar in der Unverständlichkeit der Kombination; aber Bauer muß gewußt haben, worum es hier geht. Gewisse Andeutungen gibt sdion das Gedicht: anscheinend spricht Wispel von einem hohlen Baum und zwar von einer Weide. Die häufigste hohle Weide ist sicher die Kopfweide, die dadurch entsteht, daß man die jungen Stämme köpft. Das abgestutzte Ende wird durch das später immer wiederholte Abschneiden der besenförmigen Krone kopfförmig und durch die Wunden dringen Wasser und Pilzsporen ein, die den Stamm allmählich aus-höhlen. Den Auswuchs einer solchen Kehlkopf zu nennen, liegt wispelischer Phantasie nicht fern, ebensowenig, das Ereignis der Abzwickung oder Pfropfung dieses Auswudises zu besingen. Auf einen Auswuchs deutet auch das Wort Weiden-sdinuppe als schwäbische Abwandlung von Weidenschuppe.108 Schuppen nennt man die kapuzenförmigen Umhüllungen der Weidenknospen, die an älteren Bäumen ziemlich dick und rund werden können. Wir müssen uns nur noch dazu denken, daß Bauer die Weide, die gemeint ist, kennt. — Es ist ein „älteres" Gedicht und kann so auf die Tübinger Zeit anspielen. — So wird die Erklärung plötzlich überraschend einfach: jener Auswuchs der hohlen Kopfweide, der wie ein Kehlkopf aussieht, der als eine zu groß geratene Schuppe uns ergötzte, auf den wurde man aufmerksam. Man hat ihn entfernt (zerquetscht), indem man von hinten (vom hohlen Innern des Baumes aus?) ihn nach außen herausbrach oder ihn pfropfte. Vollkommen ist natürlich diese Deutung nicht, doch hat sie viel Wahr-scheinlichkeit für sich. Damit ist aber dem Gedicht der irreale Reiz nicht genom-men. Der Anlaß dazu ist zwar durchaus keine irreale Kombination, kein sich überschlagendes Phantasiespiel vom Kehlkopf, der in einem hohlen Baum sitzt, wie bei Morgenstern ein Knie einsam durch die Welt geht. Es ist also sicher falsch, daß Mörike Morgenstern vorwegnehme, wie Maync meint und alle ihm nachschreiben;109 aber die irreale Wirkung bleibt trotzdem, weil uns hier private Spiele zu Rätseln werden, eine Privatsprache unter Freunden uns nicht mehr verständlich ist und so über die Grenzen der allgemeinen Sprache hinausgeht. Der Witz und die Irrealität ergeben sich daraus, daß mit der Wahl der Worte im einzelnen der Eindruck eines unzusammenhängenden Zusammenhangs erweckt wird, obwohl sich dahinter ein wirklicher Zusammenhang verbirgt. Der Sinn wird zum Unsinn verspielt, während in Morgensterns Galgenliedern aus dem Unsinn der Kombination ein neuer Sinn erwächst.

Man kann das Gedicht jedoch audi anders deuten. Der Kehlkopf könnte auch ein „Kielkopf", ein Wechselbalg,110 sein, das „zerbäzen" könnte nicht das seltene Wort für zerquetschen usw., sondern eine wispelische Anlautsvariation zu zer-oder verätzen bedeuten, doch das würde am Gesamtbild des Gedichts wenig ändern. Dagegen kann man den Kehlkopf audi wörtlich nehmen und den Sinn

108 Schnuppe: Sdiwäb. Wb. V 1086. 109 Maync, Mörike 271; Benno von Wiese, Eduard Mörike, Tübingen-Stuttgart 1950, 252. 110 DWb V 681.

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des Übrigen auf ihn ausrichten. Dann wird das Gedicht eine Krankheitsgeschichte: der Kehlkopf im Hals (hohlen Born) „ergötzte" uns mit einem „weidlichen" (wackern) „Schnuppen" (Schnupfen, Katarrh), bis man ihm auf die Spur kam, ihn ätzte und auskratzte. Diese Deutung ist freilich etwas unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, zumal Mörike hie und da über einen kranken Hals klagt.111 Wo aber alles möglidi ist, wo der Sinn sich verändert, je nachdem man den Kehlkopf oder den Rest des Gedichts wörtlich nimmt, sind die Grenzen der Sprache gewiß über-schritten.

Das zweite der beiden „ältern" Gedichte gibt uns ebenfalls Rätsel auf:

Die Streichkröte

Die Kröte, die einst muthig strich, Hat nun der blasse Tod ergriffen, Daß ihr das Eingeweichse blich, Die Volz dazu war nicht geschliffen: Man rieb sie etwas mit dem Fuß, Dieweil sie sterben muß.112

Die Streidikröte als Gattung sdieint eine Phantasiebildung Mörikes zu sein, gebildet in Analogie zur schwäbischen Strichente113 als Bezeichnung für alle Enten mit Ausnahme der Märzente, und sdiließt sich so an die Strichvögel (vgl. Finken-strich usw.) an. Daß diese Kröte einst mutig herumstrich, ist ein zoologisches Kuriosum, da die Erdkröten im allgemeinen Streifzüge eher meiden und in dem kleinen von ihnen beiherrschten Gebiet bleiben. Dodi hat diese außerordentliche Kröte ihren Mut mit dem Tod bezahlt, der blasse Tod hat sie ergriffen. Die wispelisch zu Eingeweichse verdrehten Eingeweide ver- oder erblichen ihr. Diese Art, die Eingeweide für die Angabe von Gesundheit oder Tod zu benützen, ist nicht einmal wispelisch, sondern volkstümlich. Soweit ist der Scherz verständlich. Dann folgt aber der rätselhafte Satz: „Die Volz dazu war nicht geschliffen". Nirgends ist das Wort Volz bezeugt, weder im schwäbischen, im bayrischen noch in einem andern Mundart- noch im Grimmschen Wörterbuch.114 Wir dürfen also eine wispelische Umbildung annehmen, aber welches Wortes? Weder der Protz — ein Wort für Kröte115 — noch die Balz, die Warze oder die Pfotz (Pustel116) ergeben einen Sinn, auch eine Ableitung von „Bolz haben" (hochmütig sein117) ist unwahrscheinlich. Die „Wulze" als ein mit der Wurzel und der daran anhaftenden Erde ausgerissener Baum oder „Wurz" für Wurzel liegen schon näher;118 die Kröte wäre dann mit einem derben Stock erschlagen worden. Noch wahrscheinlicher sind „der Watz" und „der Wetz" als Bezeichnungen für die

111 ζ. B. an Johannes Mährlein 5. 6.1832, Briefe ed. Seebaß 357 f. 112 Wispel ed. Eggert Windegg 96 f. 113 Schwab. Wb. V 1864. 114 DWb. XII.2 737, nur Volz als Pilzart, was keinen Sinn ergibt. 115 Schwäb. Wb. I 1451. 118 ebda. 1077. 117 ebda. 1282. 118 Wulze: Schwäb. Wb. VI . l 970; Wurz: ebda. 1003.

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Schärfe — und vielleicht hier der Schneide — eines Messers,119 wobei aber Wispel das Wort weiblich gemacht haben müßte. Am nächstliegenden ist jedoch, daß Wispel Falz meint, das als Falze im Schwäbischen und auch sonst weiblich bezeugt ist.120 Die Falze, durch welche die Kröte umgekommen ist, war nicht geschliffen. Vielleicht kennt Wispel die Falze vom Schreiner als Kante am Brett zum Anfügen121 oder vom Gerber als Werkzeug zum Reinigen der Häute,122

vielleicht jedoch — und das ist das wahrscheinlichste — hat er in einer alten Chronik geblättert und dort Falz als Bezeichnung des Schwertes oder seiner Klinge gelesen! Kennt er eine Stelle wie „lüter als ein spiegelglas glizzen ime [swerte] die velze", so haben wir auch die mögliche Quelle für das oben zitierte „wie Spießglas zwitzern".123 So ergäbe sich als Sinn des Ganzen: die Kröte, die einst mutig herumstrich, hat nun der blasse Tod ergriffen. Das Schwert, durch das sie umkam, war nicht geschliffen. Nur mit dem Fuß wurde sie etwas „gerie-ben", d. h. sie wurde zertreten, und doch124 mußte sie daran sterben; oder auch: sie wurde durch einen stumpfen Gegenstand getötet oder sie wurde überfahren, und Wispel berührt sie etwas mit dem Fuße, um zu sehen, ob sie noch lebe. Diese Deutung ist wie die des Kehlkopfs nicht sicher, aber einigermaßen wahrscheinlich. Auch hier wird man kein Morgensternsches Spiel mit dem Wörtlichnehmen abstrakter Begriffe oder mit Bezeichnungen, die einen uneigentlichen Sinn bekom-men haben, vermuten dürfen, sondern ein kleines, durch seltene Wörter und Wortspielereien im Sinne einer Privatsprache verhülltes Erlebnis Bauers und Mörikes. Mörikes Spiel entspringt einer ganz andern Quelle als die Galgenlieder. Immerhin mag Morgenstern von Mörike Anregungen empfangen haben, sind doch motivische Ubereinstimmungen vom „Horatius travestitus" über das Ge-schichtstheater, die Perl-Schrift (gegenüber Morgensterns Perlhuhn) bis zu den botanischen und zoologischen Spielen vorhanden.

Damit stehen wir nun vor der Frage, welche Bedeutung Wispel und seine Gesellen für das Werk Mörikes besitzen und ob sich an ihnen unsere Behauptung beweisen läßt, daß in solchen Nebenwerkchen Tendenzen deutlicher werden, die im großen Werk eher verhüllt sind. Eine gewisse Auseinandersetzung mit der Gestalt Wispels zeigt sich auch in der Mörike-Literatur. Während sich Maync noch damit begnügen konnte, Wispel als „höheren Blödsinn" und Ausdruck der Begabung des Dichters für Mimik und Komik zu charakterisieren,125 wozu im Orplidspiel noch die Rolle des shakespearischen Rüpels tritt,126 geht Werner Zemp wesentlich tiefer, wenn er als „wispelisch" ein Stück Lebensgefühl dämoni-

1 1 9 Watz: ebda. 506; Wetz: ebda. 746. 1 2 0 Schwab. Wb. II 937; DWb III 1303. 121 Schwäb. Wb. II 937. 122 ebda. 123 Virginal 4 V. 5 f., Deutsches Heldenbuch Berlin 1866—73, V (ed. Julius Zupitza) 1;

vgl. DWb. III 1302 f. 124 dieweil: eigtl. während oder weil. 125 Maync, Mörike 271. 1 2 6 ebda. 220 f.

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sehen Ursprungs bei Mörike benennt, ein „Sich-verstellen-wollen und Sich-ver-stecken-müssen".127 „Wispel und «ein Spiegelbruder Monsieur Sichere sind Aus-geburten einer . . . zwielichtig gebrodienen, scheinhaft-uneigentlichen Papageno-Haltung".128 Hinter Wispel verbirgt sich nach Zemp ein „Horror vacui"128: „In . . . Zuständen völligen Abgelöstseins, da er sich selber gleichsam aus den Händen verlor, indes ein inmitten maskenhafter Vordergründlichkeiten halb bewußtlos agierendes, französisdi wisperndes Trugbild, das später den Namen Wispel erhielt, an seiner Stelle die Führung übernahm, rührte ihn, in der Leere des Nirgend-wohingehörens, wohl zufrühst jene Ur-Angst an, die nachmals den erbleichenden Helden des rSpillner'-Fragments als Anfall kosmischer Panik wie ein Blitz heim-sucht und zu Boden wirft."130 Der „einer Art von ,horror vacui' entstammende Spieltrieb ist letzten Endes eines Ursprungs mit jenem in einer moralischen Schicht als sündhaft erkannten angstvoll-amphibolischen Verhalten, das von jeher allem Eigentlichen, Eindeutigen gegenüber die Trug- oder Schutzmaske Wispels sich borgte."131 Zemp hat als erster etwas von der Unheimlichkeit der Wispel-figur geahnt; spätere Betrachter wie Benno von Wiese oder Herbert Meyer haben diese eher wieder abgeschwächt; von Wiese zählt Wispel zum „großen Humor" Mörikes, der seine „Form der Lebensrettung" vor dem Tragischen sei, das er bis an die Grenze der Selbstzerstörung und des Wahnsinns gekannt habe.132

„Solches Sichverkleiden ist für Mörike ein Selbstschutz seiner allzuverletzbaren Seele."138 Immerhin bemerkt Benno von Wiese, daß der „Humor als Spiel auch wiederum etwas gefährlich Boden- und Bedingungsloses" behält.

Sind Wispel und Mörikes Humor eine Fludit aus der Zeit, eine Art von Überwindung der Wirklichkeit, persönlich gefärbtes romantisches Spiel, das nichts mehr ernst nimmt, weil es jede Verwirklichung des Ideals für unbefriedigendes Blendwerk hält und sich demgegenüber eine eigene Welt außerhalb von Zeit und Ra/um baut, die Wirklichkeit in diese Welt hineinzieht und sie in einem tollen Tanze durcheinanderwirbelt? Kein Zeugnis spricht davon, daß Mörike mit der Welt spielt, weil sie ihn in ihrer Form nicht befriedigt; nirgends sagt er, daß er die ganze Welt als Ball in seiner Hand halten und mit ihr spielen möchte. Von etwas anderem spricht er aber: vom Zwang seines Spiels, von der Not seines Proteusgefühls. Die bekannte Stelle aus einem Brief an Waiblinger ist dafür nur ein erstes unreifes Zeugnis: „Das ist ein wunderlicher, aber schon tausendmal von mir verfluchter Zug, daß ich aus einer dunklen Besorgnis, ich möchte dem Freund oder Bekannten, den ich zum erstenmal oder auch nach langer Zeit wieder

127 Zemp aaO 9. 1 2 8 ebda. 17. 129 ebda. 37. 130 ebda. 22. 1 3 1 ebda. 37. 132 von Wiese aaO 98 f.; Humor und Phantasie als Fludit Mörikes aus der Zeit auch

bei Herbert Meyer, Eduard Mörike, Stuttgart 1950, z .B . 53; zu Mörikes „Grotesken" vgl. nun auch Lee B. Jannings, Mörike's Grotesquery: A Post-Romantic Phaenomenon, in: Journal of English and Germanic Philology 59 (1960) 600 ff.

1 3 3 v. Wiese aaO 99.

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sehe (der aber im ersten Fall sdion von mir gehört haben muß), in einem ungün-stigen Licht erscheinen, blitzschnell aus meinem eigentlichen Wesen heraustrete. Das ist schon so eingewurzelt bei mir, daß idi diese Maske fast bewußtlos an-nehme . . . V 3 4 Immer wieder fällt er aus heiterem Spiel in „hypochondrische Quälereien".135 Wispel gratuliert den Hartlaubs zur Geburt eines Sohnes, der nächste Satz aber heißt schon: „Was midi betrifft, so werd ich mirs zur Ehre schätzen, hier meinen Namen herzuleihn, wiewohl mir manchmal schien, daß er nicht zu den glücklichsten gehöre."13® Umgekehrt kann der Wein eine „sonderbar melancholische Wirkung" auf ihn haben, aber fünf Minuten später treffen Freundesbriefe ein, und er fängt an sich zu drehen: „Meine Brust gor und sprudelte von tausendfachen Empfindungen, ich hätte mögen den nächsten besten — leeren Bücherschrank umarmen — und dodi war Alles um midi her so tot und teilnahmslos, daß mir meine Schätze und Entzückungen ordentlich zur Last wurden."137 Mörike sind die eigenen Entzückungen oft zur Last geworden, oft hat er auch spüren müssen, daß seine Freunde von seinen Spielen genug hatten. Für den „Boamberger" muß er Hartlaub versprechen, er solle „nicht länger als 10 Minuten zu unserer vermehrten Erheiterung . . . anwesend sein",138 auf eine entsprechende Stelle im Vorwort zu den „Sommersprossen" haben wir bereits hingewiesen.

Mörike ist wie kein zweiter ein Dichter des reinen Spiels und ringt — das scheint uns entscheidend für das Verständnis seiner Dichtung — mit der Dämonie des Spiels. Was wir im allgemeinen als die Dämonie des Spiels im kleinen kennen, als das Verfallensein des Roulette- oder Kartenspielers an sein Spiel, das geschieht an Mörike im großen. Wie ein Mensch unter dem Zwang der Ekstase stehen kann, lallend in nie gehörten Spradien, so kann ein Mensch auch der Gewalt des reinen Spiels anheim gegeben sein, verzückt und gezwungen zugleich, hingegeben und dahingejagt von dem Zwang, die Welt als ein einziges großes, grenzenloses Spiel zu schauen; gepackt von einer dämonischen Macht, mit der Welt spielen zu müssen, ob er will oder nicht. Nicht in einem Zwiespalt von Dichtung und Welt liegt die innerste Tragik Mörikes, sondern in der Dämonie des Spiels, die ihn zwingt, mit allem zu spielen, was ihm in die Hände gerät, sei es Mensdi oder Gegenstand, sei es auch das Liebste, was er zu besitzen glaubt. Was unter seinem Spiel aus den Gegenständen, was aus den Menschenschicksalen wird, steht nicht in seiner Macht, und wenn er selbst auch darob erschrickt, wenn ihm vor seinem eigenen Spiel zu grauen beginnt, er muß weiterspielen. Das Grauen vor dem eigenen Spiel, das ist jene Ur-Angst, die Zemp hinter Wispel gefunden hat. Er deutet sie als eine Angst, die Mörike mit dem Spiel überwinden will; sie ist jedoch das Grauen vor der Unheimlichkeit des eigenen Spiels.

Dem diesem dämonischen Spieltrieb verfallenen Menschen ist es völlig gleich,

134 an Wilhelm Waiblinger nach Mitte Februar 1822, Briefe ed. Seebaß 12. 135 an Johannes Mährlein März 1825, Briefe 38. 136 an Hartlaub 9. 7. 1845, Briefe 597. 137 an Johannes Mährlein 14. 3. 1828, Briefe 107. 138 an Hartlaub 27. 5. 1874, Briefe 857.

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ob sein Gegenstand eine höchste Empfindung menschlichen Lebens und Schicksals ist oder ob er mit Sandkörnchen oder Streichkröten spielt: im Spiel ist jeder innere und äußere Maßstab aufgehoben, eine Aufschrift auf einem Lorcher Blumentopf steht neben „Um Mitternacht", Wispel gerät neben Peregrina. Gerade diese ist ein Beispiel für die Dämonie des Spiels, für das grausame Spiel mit dem Mädchen Maria Meyer, einer unbegreiflichen und märchenhaften Schicksalsfigur. Mörike zieht sie einen Augenblick in seine Spielwelt und wirft sie wieder weg, als aus dem Spiel Ernst zu werden droht, macht sie dann aber zur herrlichsten Schöpfung dieser Spielwelt. Ganz kindlich steht nodi Klara Neuffer in dieser Welt, unheimlich wirkt Mörikes Spiel mit seiner Schwester und Margaretha von Speech, wie er da über alle Unterschiede der Konfession und des Temperaments hinübergreift und den Ernst der Ehe überspielen will. Einmal überfällt ihn jedoch blitzartig die Erkenntnis des dämonischen Ursprungs seines Spiels: er zeichnet ein Bilddien, das seine Schwester nach einer Reise mit „Kikeriki! Unsere goldene Jungfer ist wieder hie!" begrüßen soll. Doch muß das in einem Moment der höchsten Verzweiflung über den Zwang des Spiels geschehen sein, denn auf die Rückseite dieser Zeichnung schreibt er: „Ach, Wie gut ist, daß niemand weiß, Daß ich Rumpelstilzchen heiß!"139 Ein böser Naturdämon, das ist die wahre Gestalt der tausend Figuren des Spiels, so sieht sich Mörike in einem Augenblick, wo er in seiner Wut am liebsten den linken Fuß mit beiden Händen ergriffen und sich selbst mitten entzwei gerissen hätte, wie es das Märchen erzählt. Wie unheim-lich rumpelstilzdienhaft Mörike tatsächlich sein kann, zeigt das seltsame Schreiben aus Tübingen an Franz Bauer:

Lieber alter Freund, Du wirst nicht wahr, kaum noch diese Handschrift kennen. Ich sollt es dann versuchen und meine Namen nicht unter den Brief setzen, allein ich fürchte, Du verstecktest, wenn Du mein Schreiben nicht wolltest erwiedern, Deine Gleichgültigkeit hinter bloße Unwissenheit.

Aber so muß es endlich — sieh, Bauer, man entfernt sich plötzlich; ich sage schnell von einander, man schreibt sich zu Anfangs — aber diese Falschheit, dann bleibts liegen und nun — Ja, Ja, und wiederher schreib ich Dir doch — ο warum, den[n] das Ewige, Ewige! sucht doch dieSündfluth der Natur und die Schwalbe sucht ja des andern als auch wieder sich zu erinnern, — wann auch die Leute boshafter Weise mich nie mehr wollen verstehen, als stäck ich in roth Fastnachtskleidern, aber ich lache schändlich jeden aus, das glaube Du; denn bey Deiner Hand, wenn ich diese halte, jetzt, so wird mir wohl diese lügen urplötzlich und du hast doch nicht das Fieber — Schau so geht der Mund mir über, Gelt mein Lieber, gilt mein Lieber? Denn Du nimmer nimmst mirs niemals übel, daß ich die lange Hypostase, wie im Mondlicht eine Spinne, leise heimlich kreuzend webe, daß sie Beute sich gewinne, daß sie lebe, daß sie lebe! Alle diese armen Kinder. Ich habe midi sehr verwundert.

Lebe wohl In Achtung und Liebe Dein gewisser

Freund E. Mörike140

Was soll dieser Unsinn? Schreibt da Mörike, schreibt Wispel, ist das Ernst, ekstatische Zerrissenheit oder Spiel? Manches deutet auf Spiel, besonders der in

139 9. 4. 1836, Zeichnungen ed. Güntter 53. 140 Anfang Juli 1823, Unveröffentlichte Briefe Nr. 6, S. 5 f.

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Verse übergehende Schluß; manches deutet auf Ernst, wie „Wann auch die Leute boshafter Weise mich nie mehr wollen verstehen, als stäck ich in roth Fastnachts-kleidern, aber ich lache schändlich jeden aus, das glaube Du" . Falls der Nach-satz zu einem Brief an die Mut te r : „Mit Franz Bauer hab ich einen jeweiligen Briefwechsel wieder begonnen, zwar fürs erste auf eine sonderliche Weise durch einen Scherz, der midi zufällig ankam. Solltest D u gelegentlich ihn sehen, so erwähne dessen nicht"141 sich auf diesen Brief bezieht, was wahrscheinlich ist, dann will Mörike ihn als Spaß verstanden haben, vielleicht aber auch das nur, weil er sich des Briefes nachträglich schämte, worauf die Bitte „So erwähne dessen nicht" hinweist; denn es ist ein fratzenhafter , dämonischer Rumpelstilzchenspaß, der über alle Wispeliaden hinausgeht.

Doch ist Wispel selbst eine dämonische Figur. Nicht im Orplidspiel freilich, dort ist er nur der dumme Dämon, der nicht weiß, was f ü r einen Schatz er mit dem Buch in den H ä n d e n hält , und der darum betrogen wird, wohl aber im Roman selbst. Was wir in den Wispeliaden als schönsten Ausdruck rein kindlicher, leicht skurriler Spielfreude absichtlich so ausführlich beschrieben haben, vertieft sich im „Maler No l t en" auf eine ungeahnte Weise. Schon als Gestalt ist diese zischelnde, unruhige, hastige Person im innersten unheimlich (der N a m e Wispel ist nicht nur ein Anklang an seine süß wispernde Aussprache, „Wispel" fü r eine unruhige Person kennt etwa die Basler Mundar t noch heute142). Wispel ist eine lange, dürre Schneiderfigur,143 sein Geschwätz geht in bedeutungsvolle Worte und pikante Streiflichter von Scharfsinn über, die Tillsen das Geheimnis eines Fehlers seiner Manier lösen. Er scheint mit einem seltsamen Kichern sich selbst und Tillsen zu verhöhnen.1 4 4 Dies alles erweckt den Eindruck eines Menschen, „der mit seinem außerordentlichen Talente, vielleicht durch gekränkte Eitelkeit, viel-leicht durch Liederlichkeit, dergestalt in Zerfal l geraten war , daß zuletzt nur dieser jämmerliche Schatten übrig blieb."145 Wispel erscheint Tillsen als bemit-leidenswerter, auf Abwege geratener, zerlumpter, halbwahnsinniger Künstler, als die Kar ika tur eines Künstlers. D a ß er ein „Dichtel"146 ist, beweist er in den „ Sommersprossen".

Entscheidend aber ist die dämonische Rolle, in der er Nohens Lebensweg begleitet. Als entlaufener Diener Nohens führ t er diesen zu Tillsen und in die Gesellschaft ein und bringt damit das Schicksal Theobalds in Bewegung.147

Indirekt gibt er zu der entscheidenden Liebeserklärung Nohens an die Gräfin Konstanze in der Gro t t e Anlaß, da N o h e n die Einladung dem Umstand ver-dankt , daß in Anwesenheit des italienischen Künstlers im Lustschloß des Königs

141 4. 7.1823, Unveröff entliehe Briefe Nr. 5, S. 5. 142 vgl G. A. Seiler, Basler Mundart, Basel 1879, 317; Schwab. Wb. VI. l 894; DWb

XIV.2 735. 143 Werke l l 21. 144 ebda. 21 f. 145 ebda. 22. 146 vgl. ebda. I 310. 147 ebda. II 26.

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Statuen aufgestellt werden sollen.148 Dieser Künstler ist niemand anders als Wispel. Er parodiert Nohens Leidenschaft „mit einem entsetzlichen Lachen".149

Freilich hat es Mörike sichtlich Mühe bereitet, den jähzornigen, wild streitenden und perfekt italienisch sprechenden Bildhauer mit Wispel zu verknüpfen. Des langen und breiten wird deshalb dessen "Wandlung erklärt,150 in der zweiten Fassung des Romans dann aber doch gestrichen, der Italiener bleibt Italiener,161

während die ersten beiden Auftritte Wispels nicht stark verändert werden. Nur der Hinweis auf Wispels Gutmütigkeit fehlt bezeichnenderweise in Nohens Schilderung der ersten Begegnung.152

Wispels Rolle im Roman ist jedoch noch nicht zu Ende; noch einmal erscheint er an entscheidender Stelle. Mit ihm endet die Scheinidylle, in die sich Theobald und Agnes nach der Krise mit Konstanze zurückfinden.153 Wispel will Nohen zu Joseph dem Tischler als dem verschollenen Larkens führen; dieser entflieht und begeht Selbstmord. Er geht an seinem eigenen Spiel zugrunde, das ihn von tausend Possen mit Mörikeschen Musterkärtdien und anderm Spielplunder154

über die Schauspielerei zur „völligen Verwandlung in ein anderes Ich"135

geführt hat. Nohens Schicksal rollt dem Ende zu. Als Überbringer der ersten Schreckensnachricht von Larkens' Tod ist Wispel einen Augenblick lang ganz von Schmerz und Entsetzen gepeinigter Mensch, dann fällt er wieder in das alte Geschwätz zurück.159

Nach der Entlarvung des jähzornigen Italieners erregt der „arme Verrückte"137

bei Konstanze und beim Grafen Mitleid und Verwunderung. Verwunderung erregt er aber audi bei den Bürgern von Orplid, es hat für sie den Anschein, „als ob die Götter selbst sie [die beiden Gesellen] aus irgendeiner spaßhaften Grille ordentlich durch ein Wunder an unsern Strand geworfen".158 Wispel ist ein Wechselbalg, ein Kind, das durch dämonische oder magische Zeugung in der Absicht geschaffen wurde, es in das Geschlecht der Menschen zum Schaden oder zur Plage einzuschmuggeln.159 Er ist ein unruhiger und boshafter Dämon, ein Wichtel, menschenähnlich und doch nicht Mensch, sagt doch Lörmer von ihm: „Vielleicht ist euch nicht unbekannt, daß der Kerl an Händ ' und Füßen, besonders aber zwischen den Zehen, wirkliche Schwimmhäute hat, auch lebe ich in der festen Uberzeugung, man würde aus seinen Gliedmassen lauter schmale Stäbe von

1 4 8 ebda. 80. 1 4 9 ebda. 93. 150 ebda. 95. 151 Klaiber-Ausgabe I 120 f., 132 f. 152 ebda. 18 f. 1 5 3 Werke II 331 ff. 1 5 4 Klaiber-Ausgabe I 52 ff., 69. 1 5 5 ebda. I 105. 1 5 6 Werke II 340 f. 157 ebda. 96. 1 5 8 ebda. 126. 1 5 9 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin-Leipzig 1927—1941, IX 835 ff.

(Piaschewski).

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Fischbein statt Knochen ziehen und überhaupt die wunderbarsten Dinge bei ihm entdecken."180 Wenn Wispel auf Orplid phantasiert: „Wenn sich einmal die Straßensteine zu einem Aufruhr gegen die stolzen Gebäude verschwören, sich zusammenrotteten, die Häuser stürzten, um selbst Häuser zu bilden?",161 so ist das mehr als skurrile Phantasie, es ist Aufbruch der Unterwelt nach oben. Mit seinen Schwimmhäuten gehört Wispel zu der Welt der schönen Lau. Aber er ist kein großer Dämon, nur ein kleiner dienstfertiger Geist des Unheils. Er hat Nohen in die Gesellschaft eingeführt, er reißt ihn audi endgültig aus ihr heraus. Daß am Ende des Romans, überwältigt von einem augenblicklichen Schrecken, Wispel im Gefängnis landet,182 kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß er bald wieder zu neuen Untaten frei sein wird.

Das Wechselb alghafte Wispels hat Zemp unbewußt empfunden, wenn er von Larkens behauptet, daß dieser das Wispelische Element gleichsam in dritter Potenz als Mensd) verkörpere.163 Freilich ist Wispel für diese Dämonie nicht immer tragfähig genug. Noch weniger ist es sein Freund, der Buchdrucker Mürschel (seinen Namen wird er von mursch-morsch, Mürsel-Schimmel,164 oder von murren haben). Dieser tolpatschige, ewig dreinschlagende Begleiter Wispels auf Orplid, dessen Einfügung Mörike sichtlich Mühe bereitet, weshalb er ihn wenig überzeugend als das Porträt eines ehemaligen Dieners von Larkens erklärt, wird denn auch dort ersetzt, wo er als eigentlicher Dämon in das Geschehen eingreifen soll: Mürschel ist gestorben und im Büchsenmacher Lörmer wieder auf-erstanden, „einem aufgeweckten und, wie es scheint, etwas verwilderten Burschen. Aus seinen kleinen schwarzen Augen blitzte die helle Spottlustigkeit, eine zu allerlei Sprüngen und Possen aufgelegte Einbildungskraft".165 Lörmer ist dem Buchdrucker an innerer Kraft und Spradigewalt vielfältig überlegen. Wie Wispel, aber auf eine natürlichere Art, entwickelt er eine leicht schrullige Phantasie: „Es wäre nicht übel, der Mensch hätte für seinen Kopf, wenn der Docht zu lang wird, auch so eine Gattung Instrumente oder Vorrichtung am Ohr, um sich wieder einen frischen Gedankensatz zu geben. Zwar hat man mir schon in der Schule versichert, daß seit Erfindung der Ohrfeigen in diesem Punkte nichts mehr zu wünschen übrig sei; das mag vielleicht für junge Köpfe gelten."166 Wie der Buch-drucker ist Lörmer ein versoffener Faulenzer, ein verkommener Meister seines Fachs, der nur noch hie und da für Taglohn arbeitet.167 Gerade seine Lustigkeit ist letztlich nur unheimlich: Lörmer ist von einer „desperaten Lustigkeit" ergriffen; zu seiner Holzbeinphantasie gehört das „entsetzliche Lachen", das Wispel als Italiener besitzen soll und das bei Lörmer zu einem „gräßlichen Lächeln"168 wird:

160 Werke II 331. 1 6 1 ebda. 131. 1 6 3 ebda. 349 f. 163 Zemp aaO 22. 1 6 4 Schwab. Wb. IV 1824. 185 Werke II 328. 1 6 6 ebda. 329. 167 ebda. 330. 168 ebda. 348.

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Jetzt hob der Büchsenmacher sachte seinen hölzernen Fuß in die Höhe und legte ihn mitten auf den Tisch. Dabei sagte er mit angenommenem Ernst: ,Seht, meine Herren, da drinne haust ein Wurm; es ist meine Totenuhr; hat der Bursche das Holz durchgefressen und das Bein knackt einmal, eben wenn ich zum Exempel über den Stadtgraben zu einem Schoppen Roten spaziere, so schlägt mein letztes Stünd-lein. Das ist nun nicht anders zu machen, Freunde. Ich denke gar häufig an meinen Stelzen, d. h. an meinen Tod, wie einem guten Christen ziemt. Es ist mein Memento mori, wie der Lateiner zu sagen pflegt. So werden einst die Würmer auch an euren fleischernen Stötzchen sich erlustigen, Prosit Mahlzeit, und euch ein seliges Ende! Aber wir gedenken bis dahin noch manchen Gang nach dem Kapuzinerkeller zu tun und beim Heimweg über manchen Stein wegzustolpern,

bis das Stelzchen bricht, juhe! bricht juhe! bis das Stelzchen bricht !'1M

Lörmer ist der echte, der dämonisdie Buchdrucker, er ersetzt dessen blassen Schatten im Orplidspiel. Die zitierte Wirtshausszene ist innere Vorbereitung zu der Szene an Larkens' Leiche. Mit furchtbarer Gewalt dringt Lörmer in das „Heiligtum des Todes" ein und verzerrt mit seiner Leichenpredigt Larkens' Tod zu einer wilden, entsetzlichen Fratze. Daß Maync Lörmer mit „treuherziger Verlumptheit"170

charakterisiert, ist unbegreiflich. Lörmers Schmerz über den Tod des Freundes wäre bei ihrer jungen Freundschaft nicht zu verstehen, wenn eben in Lörmer nicht auch der ehemalige „Sancho" Larkens', also der Buchdrucker, stecken würde. Der Buchdrucker-Büchsenmacher wächst vor der Leiche seines Freundes auf eine Art ins Übermenschliche, die Wispel trotz allem Schmerz über den Tod des Schau-spielers nie erreicht. In Lörmer verschwören sich wirklich die Straßensteine gegen die stolzen Gebäude und rotten sich zusammen, um die Häuser zu stürzen:

Der Mensch bot einen Anblick dar, der Ekel, Grauen und Mitleid zugleich erwecken mußte. Von Wein furchtbar erhitzt, mit stieren Augen, einen gräßlichen Zug von Lächeln um den herabhängenden Mund, so war er im Begriff, das Heiligtum des Todes zu betreten. Nolten, ganz außer sich von Schmerz und Zorn, stößt ihn zurück und reißt den Schlüssel aus der Tür, Lörmer wird wütend, der Maler braucht Gewalt und kann nicht verhüten, daß das Scheusal vor ihm niederstürzt und mit dem Kopfe am Boden aufschlägt. ,Ich bitte Sie', lallt er, indem er sich vergebens aufzurichten sucht und nicht bemerkt, daß Nolten schon verschwunden ist, um die Hausleutc von dem Skandal zu benachrichtigen, ,um Gottes Barmherzigkeit willen! lassen Sie midi hinein! mich! ich bin nodi allein der Mann, ihm zu helfen — Sie müssen wissen, Herr, er pflegte gelegentlich auf den Lörmer was zu halten, Herr — Sehn Sie, diese Uhr hab' ich von ihm — aber sie ist stehen geblieben — Wir standen du und du, mein guter Herr, ich und der Komödiant — Hieß er mich nicht immerdar sein liebes Vieh? hat er je einen andern so geheißen? und Hol euch der Teufel alle zusammen — Sehn muß ich ihn, da hilft kein Gott und keine Polizei — Ihr wißt den Henker zu distinguiren, ob ein Mensch in der Tat und Wahrheit k . . .iert ist oder nicht — Soll ich dir etwas im Vertrauen sagen? Da drinne liegt er munter und gesund und hat euch alle am Narrenseil. Denn das ist einer, sag' ich euch, der weiß, wie man den Mäusen pfeift. Und — aber — — wenn es je wahr wäre — (hier fing er an zu heulen) wenn er mir das Herzeleid antun wollte und aufpacken

169 ebda. 334 f. 170 Maync, Mörike 219.

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und seinen Stelzer verlassen — wenn das — Jesus Maria! Auf! auf! schlagt die Tür ein! ich muß ihm noch beichten — Jagt Papst und PfafF und Bischöff', die ganze Klerisei zum Teufel! ich will dem Komödianten beichten, trotzdem daß er ein Ketzer ist — Er muß alles wissen, was ich seit meiner Firmelung an Gott und Welt gesündigt! Auf! hört ihr nicht? Ich will die ganze Baracke in Trümmer schmeißen, ich will ein solches Jüngstes Gericht austrommeln, daß es eine Art hat! — Alter! lieber Schreiner, laß mich hinein —' Das Schloß sprang auf, und Lörmer stürzte einige Stufen hinab in das Zimmer, wo man ihn, als die Leute kamen, bewußtlos am Fuß des Bettes liegen fand.171

Vor Lörmers Schmerz ist der Nohens nur ein blasser Schatten. Im grauenhaften Versuch eines „Stehe auf und wandle!" ist der Dämon des Lebens selbst Gestalt geworden. Uber der Urgewalt dieses Schmerzes bricht alle irdische Ordnung, der ganze Kosmos zusammen. Der Tod des Komödianten hat dessen Spiel bis an die letzten Grenzen getrieben: Lörmer kann den Tod dessen, der weiß, wie man den Mäusen pfeift, nicht glauben. Larkens' letzte Rolle wird gespensterhaft. Ist er wirklich tot oder tut er nur so? Lörmer ist der einzige, der ihm helfen kann, und der will ein Jüngstes Gericht des Schreckens über die ganze Welt austrommeln. Aber alles ist vergeblich, bewußtlos schlägt er hin.

So fließt in ihm aller Schmerz der Welt zusammen. Von Lörmer aus wird jedoch audi der Buchdrucker unheimlich, audi er ist eine Figur jenseits von Gut und Böse, selbst wenn der Durchbruch des Dämonischen erst in seinem Nachfolger geschieht. Wispel und der Buchdrucker stehen am Ende des Romans in viel größeren Zusammenhängen, als es am Anfang oder im Orplidspiel den Anschein hat; sie sind keine Nebenfiguren, sondern Teile einer gespenstischen Welt, die über Nohen hereinbridit und in der die Personen „alle Tage eine andere Gestalt" annehmen, damit der Heideläufer „nicht weiß, welches von allen die rechte ist."172

Ihre Unheimlichkeit verstärkt sich noch, wenn Mörike der zerrütteten Agnes nicht nur diese rumpelstilzchenhaften Worte über Nolten-Larkens, sondern auch eine eigentliche Wispeliade von der je nach Jahreszeit wechselnden Aussprache „ginesisch"—„chinesisch" in den Mund legt.178

Wenn es im Maler Nohen noch Zweifel darüber geben könnte, ob unsere Sicht Wispels als eines halb oder ganz dämonischen Wesens richtig ist, so werden sie durch das Leben, das Wispel außerhalb des Romans führt, beseitigt. Ein anderer Name für Wispel ist Professor Sidiere; so wird er immer wieder in den Briefen genannt, hie und da gar „Der Sichre". Mörikes Sicherer Mann und Wispel haben also den gleichen Namen. Das ist kein Zufall: was Wispel in der menschlichen Sphäre als kleiner Dämon mit Schwimmhäuten und Fischgräten verkörpert, ist in der Gestalt des Sicheren Mannes mythische Vision. „O mache doch auch Dein Orplidsstück, weißt Du mit dem sonderbaren Gott, der eine Art von Hanswurst der Götter ist", bittet Bauer 18 26,174 und wirklich läßt Mörike dann den gött-

1 7 1 W e r k e n 347 f. 1 7 2 ebda. 399 f. 173 ebda. 401. 174 an Mörike 16 .8 .1826, Ludwig Bauers Schriften, Nach seinem T o d e in einer Aus-

wahl herausgegeben von seinen Freunden, Stuttgart 1847, S. X X X V I .

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liehen Hanswurst im „Letzten König von Orplid" indirekt auftreten, wenn audi nicht in der Hauptrolle, die Bauer offenbar erwartet hat:

Malwy: Als wir Silpelitt suchten, konnten wir sie gar nicht finden. Wir rannten wohl neun Elfenmeilen, darfst glauben, und stöberten in dem Schilf herum, wo sie zu sitzen pflegt, wenn sie sich verlaufen hat. Auf einmal an dem Fels, wo das Gras aus den mauligen Löchern wächst, steht Talpe still und sagt: ,Hört ihr nicht Silpelitts Stimme? sie redet mit jemand und lacht.' Da löschten wir die Laternlein aus und liefen zu. Ach du mein! Thereile, da ist ein großer, grausam starker Mann gewesen, dem saß Silpelitt auf dem Stiefel und ließ sich schaukeln. Er lachte auch dazu, aber mit einem so tückischen Gesicht —

Talpe: Schwester, ich weiß wohl, das ist der Riese, er heißt der Sickere Mann. Thereile: Über das verwegene, ungeratene Kind! Warte nur, du böses, duck-

mäuseriges Ding! Weißt du nicht, daß dieses Ungeheuer die Kinder alle umbringt? Talpe: Bewahre, er spielt nur mit ihnen, er knetet sie unter seiner Sohle auf dem

Boden herum und lacht und grunzt so artig dabei und schmunzelt so gütig. Thereile (zum König): Mir tötete er einst den schönsten Elfen durch diese heillose

Beschäftigung. Er ist ein wahrer Sumpf an langer Weile. Talpe (zu einem andern Kind): Gelt? ich und du, wir haben ihn einmal belauscht,

wie er bis über die Brust im Brulla-Sumpf gestanden, samt den Kleidern; da sang er so laut und brummelte dazwischen: ,ich bin ein Wasservogel, ich bin die aller-schönste Wassernachtigall'.

Später hört man in der Ferne eine gewaltige Stimme „Trallirra-a-aa-aü-ü- / Pfuldararaddada- -! —! V 7 5 die Anwesenden erschrecken heftig, die Kinder hängen sich schreiend an Thereile.

Sichere hat alle menschliche Gebrochenheit seines Wispel-Daseins, alle Unzu-länglichkeit, Tücke und Bosheit des kleinen Dämons abigestreift und auch den Buchdrucker in sich aufgenommen. Dessen Tolpatschigkeit und Wispels Unsinns-phantasie haben sich zu einer Gestalt verbunden, die alles umfaßt, was Mörikes Spiel bedeutet. Der Sichere Mann ist die Verkörperung der ungeheuren Kindlich-keit der Natur, wie sie uns Chesterton in der Einleitung geschildert hat: „Sie [die Natur] ist so wacklig, so grotesk, so feierlich, so glücklich wie ein Kind." Der Sichere Mann spielt Wassernachtigall und schaukelt Silpelitt auf dem Stiefel. Dem Suckelborst im „Märchen vom sichern Mann",17® der von einer steinernen Kröte — also von einer Riesenverwandten der Streichkröte — geboren ist, setzt sich der göttliche Lustigmacher Lolegrin auf den Stiefelabsatzrand und stellt ihm die Aufgabe, ein Buch zu schreiben und es den Toten der Unterwelt auszulegen. So reißt Suckelborst Scheunentorflügel aus, bindet sie mit Stricken zusammen und „schreibet aus Kräften Striche so grad' und krumm, in unsagbaren Sprachen",177

bis er zum Punktum kommt „groß wie ein Kindskopf". Wie er dem Teufel in

175 Werke II 123 f. (5. Szene); in der zweiten Fassung ändert Mörike beinahe nichts, vgl. Klaiber-Ausgabe I 173 f.

176 Werke I 65 ff.; über Vorbilder ebda. 421 f.; vgl. dazu neuerdings: Romano Guardini, Gegenwart und Geheimnis, Würzburg 1957, 65 ff. Walter Heinsius' Annahme (Mörike und die Romantik, DVjs 3 [1925] 194 ff., bes. 218 f.), daß Suckelborst Schelling verspotte, vermag mich nicht zu überzeugen.

177 V. 189 f., Werke I 70 f.

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58 Die geistigen Grundlagen des Spiels

der Unterwelt den Schwanz ausreißt und zum Propheten wird, steigt das Spiel über alles Irdische hinaus. Die Kindlichkeit des Sichern Mannes kündet sich als Erlösung der Welt:

Aber es standen die Scharen umher von Grausen gefesselt, Ehrfurchtsvoll zum sichern Mann die Augen erhoben. Dieser hielt noch und wog den wuchtigen Schweif in den Händen, Den bisweilen ein zuckender Schmerz noch leise bewegte. Sinnend schaut' er ihn an und sprach die prophetischen Worte:

,Wie oft tut der sichere Mann dem Teufel ein Leides? Erstlich heut, wie eben geschehn, ihr saht es mit Augen; Dann ein zweites, ein drittes Mal in der Zeiten Vollendung: Dreimal rauft der sichere Mann dem Teufel den Schweif aus. Neu zwar sprosset hervor ihm derselbige, aber nicht ganz mehr; Kürzer gerät er, je um ein Dritteil, bis daß er welket. Gleichermaßen vergeht dem Bösen der Mut und die Stärke, Kindisch wird er und alt, ein Bettler von allen verachtet. Dann wird ein Festtag sein in der Unterwelt und auf der Erde; Aber der sichere Mann wird ein lieber Genösse den Göttern.'

Sprach er, und jetzo legt' er den Schweif in das Buch als ein Zeichen Sorgsam, daß eben noch just der haarige Büschel heraussah, Denn er gedachte für jetzt nicht weiter zu lehren, und basta Schmettert er zu den Deckel des ungeheueren Werkes, Faßt es unter den Arm, nimmt Hut und Stock und empfiehlt sich.178

Die Kindlichkeit der Natur wird den Menschen vom Bösen erlösen, das Spiel wird ein Genösse der Götter werden.

Mörike hat gern den Sichern Mann gespielt, "wie das ein Brief Ludwig Bauers von 1829 erzählt:

Er [Mörike] hielt Kinderlehre, und nun nahmen wir von den lieben Plattenhardtern Abschied und pilgerten mit dem Louis nach Bernhausen und von dort nach kurzem Aufenthalt Nürtingen zu. Es wurde Nacht, der Mond flimmerte am Himmel, die Abendglocken tönten, und siehe da, plötzlich erwachte der „sichere Mann", vielleicht noch herrlicher als in der glänzendsten seiner früheren Perioden. Er begann mit un-mutigen Reflexionen über die Gestirne, weil er diesen nichts anhaben kann, er nannte die Sonne eine Rauthstrunsel, den Mond einen grünschissigen Blitz, einen unnaitigen Zinnteller.

Sodann sang er einen Liedervers, den er einmal gehört hatte, während er das Wasser an einer Kirche abschlug, auf eine so infame, bäurisch trillernde, wasserorgelnde Weise, daß ich fast närrisch wurde. Höre nur etwas davon:

„Mein Glaub ist meines Lebens Ruh Und führt mich Deinem Himmel —

dui Staig von Nürtingen muß i au wieder amol woidie, dui brunz i voll, daß 's pflatscht —

zu, Ο Gott, an den ich glaube —

morge um neune ka i dort sei, no wurd uffgschnallt" usw. usw.179

178 V. 264 ff., Werke I 73. 179 an Hartlaub 9. 10. 1829, nach Mörike, Stle. Werke-Briefe ed. Baumann und Grosse,

Stuttgart 1959, III 887.

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Das dämonische Spiel 59

Leicht gereinigt hat Mörike diese Szene direkt — sogar mit Ortsangabe180 — in den Maler Nohen eingebaut, nur nennt dort Theobald den Sichren „Flömer".181 Auch hier zeigt sich, wie nahe Wispel und Suckelborst einander stehen; Suckelborst ist die mythische Form von Sichert, das Riesenkind, das nach der „Erbaulichen Betrach-tung" mit dem Weltall spielen möchte:

Bis wir zuletzt an Kühnheit mit dem sichern Mann Wetteiferten, da dieser Urwelts-Göttersohn In Flößerstiefeln vom Gebirg' zum Himmel sich Verstieg und mit der breiten Hand der Sterne Heer Zusammenstrich in einen Habersack und den Mit großem Schnaufen bis zum Rand der Schöpfung trug, Den Plunder auszuschütteln vor das Weltentor. —182

Aus dieser Kindlichkeit wachsen Mörikes schönste Dichtungen, die Schiffer- und Nixenmärchen, das Stuttgarter Hutzelmännlein, die Historie von der Schönen Lau, die ja geradezu van Kinderspielen getragen wird und in der — welch herrlicher Einfall! — der Kinderschnellspredivers „'s leit a Klötzle Blei glei bei Blaubeura" die Erlösung vorbereitet, aber auch die großen mythischen Gestalten des Spiels, der Sichere Mann, Orplid und — Peregrina.

Mörike würde diese Kindlichkeit nicht besitzen, wenn er nicht auch deren Ahgründe kennte. Vom Sichern Mann erfahren wir zwar nur einen einzigen tückischen Zug: Malwy spricht von einem Lachen mit tückischem Gesicht. Doch ist igerade dieser Riese ein dämonischer Zerstörer. „Lauter Nichts ist sein Tun und voll törichter Grillen",183 er ist ein „unnützer Tropf".184 Ingrimmig knickt er Weg- und Meilenzeiger; er sinnt auf Unheil, trennt nachts die Bänder von den Flößen los und schleudert die Balken weit ins Land hinein; er lockt die Wildsau nur, um sie zu zwicken und sich an ihrem Geschrei zu weiden. Auf Orplid hat er im Spiel mit seiner Ungeschicklichkeit den schönsten Elfen getötet. Dies ist ja die ungeheure Gefahr kindlichen Spiels, daß der Spielende aus bloßer Freude an seinem Spiel andere Wesen zerstört, so wie die von Mörike geschilderte Gift-mörderin „mit herzlichem, lautem Lachen . . . aus reinem Mordbehagen den gleichgültigsten, ja sogar wohlwollendsten Personen" Mäusegift aufs Butterbrot strich, „z. B. befreundeten Kindern, die ihr zum Geburtstag igratulieren und denen sie eigentlich gut war", wobei nicht eine „Spur von Wahnsinn bei ihr" ist.185 Im Spiele andere Wesen zu zerstören, diese Tragik hat Mörike empfunden. In einem Brief über seine Spiele mit der Schwester schreibt er: „Zu guter Letzt zerriß idi

180 Werke II 203. 181 ebda. 317. 182 Werke I 163 — Mörike hat den Sichern Mann besonders geliebt und auch selbst

gezeichnet (vgl. Kurz-Mörike Briefwechsel, Brief an Kurz Nr. 15, S. 51); vor allem war er von den Illustrationen Moritz von Schwinds begeistert, vgl. an M. v. Schwind 5. 3. 1867, Briefe 789 ff., An Moritz von Schwind, Werke I 266.

183 V. 16, Werke I 65. 184 V. 172. 185 an F. Th. Vischer 23. 5. 1832, Briefe 354.

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— eben wie der Sichere — durch eine unvorsichtige Bewegung das Gespinst".186,

In seiner Ungeschicklichkeit, die immer wieder zerstört, fühlt sich Mörike als der Sichere Mann. Hierin verbinden sich auch Wispel und der Sichere; beide sind nicht für irdische Maßstäbe geschaffen, beide sind letztlich nicht böse und nicht gut; sie gehören einer Welt an, die sich um böse und gut, um fleißig und faul nicht kümmert, einer Welt des reinen Spiels. Nur in der Begegnung mit dem Wider-stand der irdischen Welt gegen das Spiel und in den mannigfachen Zerstörungen, die ihr Spiel anrichtet, ahnen die Spieler, daß hinter ihrem Spiel ein Dämon steht, dem sie verfallen sind.

Wie sehr auch die Zeitgenossen und Freunde Mörikes die dämonische Ver-bindung von Sicher£ und Sicherm Mann empfunden haben, dafür ist schließlich auch der schon zitierte Brief von Hermann Kurz an Mörike Zeugnis,187 wo jener die Verwüstung seines Schreibtisches Wispel und dem Buchdrucker zuschreibt und dann fortfährt: „Jetzt drangen Gerüchte zu mir, welche meinen Gedanken voll-ends allen Hal t nahmen und die Sache in's Mythische hinüberspielten. Bauern wollten im Walde einen Menschen, wenn man sich in diesem Falle noch des Aus-drucks bedienen darf, gesehen haben, dessen Länge eilf Ellen maß, seiner Kleidung kann sich keiner mehr erinnern, doch haben sie Alle zwei Dekorationen von ihm gesehen, die ihnen sehr aufgefallen sind: im Halstuch nämlich, dessen Farbe, da sie wahrscheinlich keine war, ihnen nicht in die Augen stach, hatte er statt der Vorstecknadel einen großen Bohrer stecken mit breiter, beweglicher Handhabe, wie ihn die Schreiner führen; statt der Uhr — ο horrible, ο horrible, most hor-rible! — trug er eine mäßige Schwarzwälderuhr als Taschenzwiebel. Es soll wahrhaftig scheußlich ausgesehen haben, wie die bleiernen Gewichte als Cachets ihm um die Beine schlugen . . ."188 Am andern Tag richtet er in einem Wirtshaus Unheil an: „Das Ungethüm habe sich für einen Bengelianer ausgegeben, vom Weltuntergang gesprochen, große Sensation erregt, habe sich dann in dem dar-gebotenen Kornbranntwein fürchterlich betrunken, ein tausendjähriges Reich und Weibergemeinschaft proklamirt, letzte auch stante p. in Ausübung bringen wollen, aber starke Opposition gefunden; wüthend über diesen Unglauben, habe er mit dem Fuße dermaßen auf den Boden gestampft, daß dieser krachend wie ein Stück Holz entzweigesprungen und abgebrochen sei; er habe sich dies jedoch nicht küm-mern lassen, sondern sei auf beiden hiedurch sehr unproportionirt gewordenen Beinen davongetrampelt."189 Auch Kurz findet also ohne weiteres den Übergang von Wispel zum Sichern Mann; freilich steckt bei ihm viel Wispel im Sichern; mit der Sdiwarzwälderuhr und dem Schreinerbohrer, mit dem schwäbisch-

1 8 6 an Wilhelm Waiblinger Aug. 1824, Briefe 30 f. 1 8 7 eine weitere Erwähnung des Sichern Mannes in Brief an Friedrich Kauffmann 1. 8.

1827, Briefe 93, wo Mörike einen medizinischen Text über Affekte und Melancholie mit brummiger Sicher-Manns-Stimme vertonen möchte („immer in zwei monotonen Tönen müßte es sein").

1 8 8 Kurz-Mörike Briefwechsel Nr. 16 S. 53. 1 8 9 ebda. 54.

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bengelischen Chiliasmus und der Weibergemeinschaft ist dieser mehr ein zu groß geratener Wispel oder Buchdrucker.

Sichere ist nicht der einzige Dämon aus Mörikes Welt, der im Alltag und in einer mythischen Dichtung zugleich verwurzelt ist. Die mythenbildende Kraft, von der bei Mörike oft und sicher mit Recht gesprochen wird, beschränkt sich eben nicht auf das Große, auf die „Dichtung"; ihr gestaltenbildendes Spiel kennt keine Maßstäbe. Das Stuttgarter Hutzelmännlein schreibt Mörikes Schwester in seltsamen kalligraphischen und sprachlichen Schnörkeln einen pergamentenen Geburtstagsbrief,190 oder im herrlichen Kinderbrief aus der Vakanz von 1826 taucht plötzlich Silpelitt auf, das Kind von Fee und Mensch aus Orplid: „Letzt-hin kommt Klara zu mir herüber mit der Magd, die mein Felleisen trägt, ich soll es aufmachen. ,Ist er drin?' Wer denn? ,Der Silpelitt1 sagte sie leise. Ja so! Denn meine Lüge fiel mir erst jetzt wieder ein. Ja! rief ich bedeutsam. Du wirst sogleich unter dem Boden donnern hören. Das war hinreichend, midi aus meiner Verlegenheit zu reißen, denn Klärchen eilte pfeilschnell der Magd nach."191 Soldie Dämonen in Mörikes Leben und Werk sind manchmal harmlos und gut wie Silpelitt, das Hutzelmännlein oder das Waldmeisterlein, das für Agnes Hartlaub lebendig wird;192 manche sind jedoch beängstigend und verfolgen Mörike selbst, sind seine Gespenster. Mörikes Verhältnis zur Gespensterwelt und zu den Träumen ist der sichtbarste Ausdruck der Dämonie des Spiels. Die mythisdie Schau, die aus Hölderlins Kopf am Fenster den Feuerreiter und aus dem Namen Schön-Rohtraut eine Ballade formt, strahlt eine solche Kraft aus, daß wir nicht wissen, ob seine Spukgestalten nicht Fratzen sind, die er sich selbst im Scherz geformt hat und von denen er nun geängstigt wird. Mörikes Schilderungen von Träumen gleiten meist ins Spielerische hinüber. So erzählt er etwa Ernst Kurz die Traumfahrt in einer Diligence:

Es saß bereits ein Herr darin, der eine Kappe mit sehr breitem Stulz und einen abgetragenen grauen Mantel trug. Die Unterhaltung war gering. Er drehte den Kopf hin und her, ganz leise schnüffelnd, als wäre Unheimliches im Wagen, welches gar von einem oder dem andern Passagiere ausgehen könnte. Man lächelte und hätte sich beinahe beleidigt finden können. Ich überzeugte mich jedoch, daß in dieser Ängstlich-keit etwas Krankhaftes und Idiosynkrates zugrunde liegen müsse, und fing an, im Stillen ihn aufrichtig zu bedauern. Auf einmal nahm er einen herzhaften Anlauf und sagte: Verzeihen Sie, meine Herren, ich bin Korrektor und Faktor in der J. G. Cotta-schen Offizin und habe diese einträgliche Stellung einer sonderbaren Eigenschaft zu danken, die mir sehr beschwerlich fällt. Sobald sich irgendwo ein Druckfehler oder dergleichen in meiner Nähe befindet, so fühle ich es und bin dadurch aufs Un-angenehmste affiziert, bis ich ihn aufgedeckt und allenfalls beseitigt habe. Haben Sie daher doch die Güte, ein wenig bei sidi nadizusehen, ob Sie nicht irgendein erratum bei sich tragen. Sie werden mich dadurch äußerst erleichtern. Auf dieses zog jeder von uns aus der Tasche, was er etwa Gedrucktes haben mochte; er nahm die Papiere in die Hand, gab sie jedoch nach einem oberflächlichen Befühlen mit dem

1 9 0 Faksimile bei Wispel ed. Eggert Windegg 101 ff.; Text auch an Klara Mörike 9 .12 . 1868, Briefe 843 ff.

1 9 1 an Hartlaub 20./25. 3. 1826, Briefe 50 ff., Silpelit 57 f. 1 9 2 Zeichnungen ed. Meyer 35, 58 f.; W e r k e l 255.

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Bedauern zurück, daß hierin der Fehler nicht enthalten sei. Nun hatte ich zufällig ein Briefkuvert Ihres Herrn Bruders mit hervor gezogen. Sogleich gerieten die Finger des Korrektors in eine zitternde Bewegung, und ich gab ihm das Papier. Er drehte es um, besah sich das Siegel und seine Gesichtszüge erheiterten sich plötzlich. Nun sehen Sie, meine Herren, da stehen über dem Amor, der einen Vogel lockt, die Worte: C'est resister en vain; es wird jedoch en vin heißen müssen . .

Und Mörike fährt fort : „Ist das nicht ein musterhafter Traum? Man sollte meinen, er wäre wachend gemacht." 1 9 3 Dieser Zweifel steigt in jedem auf, der ihn liest. Z w a r ist man Unsinn im Traum gewöhnt; aber wenn er so spielerisch und folgerichtig durchgearbeitet ist wie hier, wird man mißtrauisch. Noch mißtrauisdier wird man, wenn Mörike bald darauf an Hartlaub schreibt: „Nachdem ich Dir kürzlich einen fingierten Traum geschickt . . . " 1 9 4 Der Druckfehlerriecher ist gar zu wispelisch, und man wird den Verdacht nicht los, Mörike habe aus einer Traum-situation einen kleinen Scherz gezogen. Audi der „wahrhafte" Traum, den er dann Hartlaub erzählt, spinnt sicher das Geträumte weiter aus: Hartlaub schickt im Stuttgarter Theater gegen den störenden Compromotionalen Treßler einen Zettel hinter die Bühne.

Nicht lange darauf — es war soeben der erste Akt zu ende — steigt ein schlidit-gekleideter Mann aus der Falltür hervor, sieht sich einen Augenblick unter den Zuschauern um, geht dann auf Treßler zu: ,Herr Pfarrer Treßler von Heslach (ein Dorf bei Stuttgart) — wenn ich nidit irre?' Aufzuwarten. ,Vorhin war jemand da, aus Ihrem Hause: Euer Hochwürden möchten sich heimbeeilen: die Frau Pfarrerin wollen niederkommen.' Die letzten Worte des Balkentreters erstickte der Angeredete in großer Verlegenheit durch ein geflissentliches Husten, indem er zugleich seinen Hut ergriff, dem Manne dankte und von dannen flog. ,Das hätten wir einmal gut gemacht', sagtest Du mit herzlicher Selbstzufriedenheit und ich bewunderte die List.195

Traumwirklichkeit und Spiel haben sich vermischt, ohne daß Mörike deshalb ein Vorwurf zu machen wäre.

Im Grunde sind ja alle Spielfiguren des Dichters spielerische Klecksographien. Aus dem Tintenfleck bildet sich durch Falten und Drücken eine geheimnisvolle Figur, vielleicht ein Gespenst. Deshalb liebt Mörike die Klecksographien Justinus Kerners, 1 9 6 die durchs Band weg Gespenster und Dämonen, Hades- und Höllen-bilder ergeben, und gedenkt ihrer in zwei Gedichten.1 9 7 Seine gezeichneten Träume, der Hebräischlehrer als Kamez, den er audi bedichtet hat , 1 9 8 das Gespenst des Mönchs mit dem Schlüssel199 oder die beiden Gespenster, die voreinander er-schrecken,200 sind spielerisch. Zum Spuk des wüsten Pfarrers Rabausch im Pfarr -

1 9 3 an Ernst Kurz 18 .2 .1838 , Briefe 445. 1 9 4 an Hartlaub 10. 3. 1838, Briefe 447. 1 9 5 ebda. 448. 1 9 6 Kledcsographien und Gedichte, Justinus Kerner, Stle. poet. Werke ed. Josef Gais-

maier, Leipzig o. J . , II 198 ff. 1 9 7 An Fräulein Luise von Breitschwert, Werke I 197 f.; In das Album einer Dame,

ebda. 253 f. 1 9 8 Zeichnungen ed. Güntter 29; Gedicht: Werke I 224 vgl. Anm. 443. 1 9 9 Zeichnungen ed. Meyer 26. 2 0 0 Krauß, Mörike als Gelegenheitsdichter 178.

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haus von Cleversulzbach, dessen Geistern er für Kerners „Magikon" genau auf-zeichnet,201 bemerkt er Hartlaub gegenüber ausdrücklich: „Ihr müßt aber nicht glauben, daß uns dies Zeug besonders alteriere oder beschäftige."202 Im Gegenteil, Mörike freut sich von ganzem Herzen darüber, daß er neben allen Phantasie-gestalten ein richtiges Gespenst zum Hausgenossen hat, und malt dessen sämtliche Erscheinungsformen mit breitem Behagen aus. Er sammelt neben den Petrefakten und Handschriften auch Äußerungen „seines" Gespenstes und bedauert sichtlich, daß seine Hausgenossen bedeutend mehr Umgang mit diesem haben als er selbst.203

Das kleinste Klopfen, der schwächste Lichtschein wird registriert und als Geistern des Rabausch gedeutet. Ob Rabausch wirklich gespenstert hat oder nicht, ist belanglos; nach dem Charakter der Aufzeichnungen gehört er auf jeden Fall zu Mörikes Welt des Spiels. Denn nicht solche äußere Spukgestalten verfolgen ihn, sondern die harmlosen heiteren Schnaken, die ihn bei der Klopstock-Lektüre stören,204 und die quälenden Gespenster, die aus seinem Innern hervorbrechen. So liest er einmal den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe:

Statt mich niederzuschlagen, hatte der Geist dieser beiden Männer eher die andere Wirkung auf midi. Gar mandie Idee — das darf ich Dir wohl gestehen — erkannte ich als mein selbst erworbenes Eigentum wieder, und ich schauderte oft vor Freuden über seine Begrüßung. Zuletzt geriet meine Phantasie auf ganz fremde Abwege; ich durchlief die benachbarten Zellen des Irrenhauses und wühlte in der nächtlichen Fratzen weit ihrer Träume; auf die schöne Tagesklarheit Deines Büchleins grinsten tausend Narrengesichter, die mit ihren tiefpfiffigen Augen mich fast überredeten, die Philosophen liegen in einem entsetzlichen Irrtum, und nur sie, die Narren, wären hinter die Gardine des göttlichen Verstandes gekommen, wo man sehe und fast platze vor Lachen, wie Herr Schiller und Herr Goethe sich mit wichtigen Mienen und Bücklingen über die Vergoldung von Nüssen und des mundus in nuce unter-halten. — Ich hatte viel zu tun, um der Demonstration des herrlichen Zirkels zu entrinnen — sie riefen und pfiffen mir noch lange aus Sprachrohren nach, als ich schon wieder in dem Büchlein weiter machte. Aber endlich wars doch wieder Frieden, und ich pries mich glücklich im blauen Tage der Poesie, deren Herz man in diesem Buche in abgemessenen, langsam vorgezählten Pulsen schlagen hören kann.205

Das sind die wirklichen Dämonen, die Mörike quälen und ihn an den Rand des Wahnsinns treiben20®: Fratzen seiner eigenen spielenden Schöpfung wie Wispel, der zuerst das Irrenhaus Marienthal als Drudtort der Sommersprossen einsetzen will. Mörike kann seine eigenen Geschöpfe nicht mehr beherrschen. Sie brechen in alles ein, machen sich über alles lustig und kichern mit entsetzlichem Lachen über die Sehrmänner Schiller und Goethe, bis sie endlich wieder Frieden geben. Seine eigenen Figuren erheben sich gegen ihn, schlagen um sich und fressen sich wie ein

201 Werke II 464 ff. 202 an Hartlaub ca. 19. 12. 1837, Briefe 439. 203 vgl. W e r k e l l 464 ff., Anm. 498 f.; Maync, Mörike 277 ff.; an Kerner 1 .2 .1841,

26.3.1841, 22.12.1841, Unveröffentlichte Briefe Nr. 83, 84, 90, S. 111 ff., 125 ff.; Cle-versulzbacher Briefe an Hartlaub passim.

204 Waldplage, Werke I 168 ff. 205 an Johannes Mährlein 7.5. 1829, Briefe 136 f. 206 vgl. auch Zemp aaO 19.

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Geschwür in ihn hinein.207 Das ist die eigentliche Dämonie von Mörikes Spiel, aber audi der Urgrund der mannigfachen Klagen des Dichters, daß er nidit mehr wisse, wer er sei: „Kurz, ich bin mir Du, Alles — ist mir ein Rätsel".

Sieh! dann fließt mein ganzes Wesen in eine Wehmut zusammen; und es ist, als sähe ich durch meine Tränen hindurch mein eigenes Bildnis doppelt, wüßte nicht, welches das rechte ist oder das gute kurz, ich bin mir Du, Alles — ist mir ein Rätsel — glaube mir bester Hartlaub! Ich habe in solchen Augenblicken der wunder-barsten Rührung allemal ordentlich laut lachen müssen, wie man im Schwindel tut, über mein eignes Geschick als über etwas Fremdes und über etwas, was sich seit meiner Geburt sonderbar und mit einem wie durch unsichtbare Geister immer wieder sanft aufgelösten Widerspruch in mir gemischt hat.208

So schreibt Mörike in jenem Kinderbrief an Hartlaub, der einige Zeilen vorher den herrlichen Satz „Meine Seele ist ganz voll von Kindern" enthält. Das ist nicht Bewußtseinsspaltung, nicht Doppelgängermotiv oder innerer Zwiespalt Mörikes, wie es manche Betrachter deuten, aber audi nicht „doppelte Seelen-tätigkeit", wie der Dichter es selbst erklärt: „Die Seele strahlt und wirkt von ihrer Nacht- oder Traumseite aus in das wahre Bewußtsein herüber, indem sie innerhalb der dunkeln Region die Anschauung von Dingen hat, die ihr sonst völlig unbekannt blieben",209 sondern Dämonie eines Spiels, das nicht mehr weiß, ob es gespielt wird oder ob es spielt, das sich gegen seinen Schöpfer kehrt und mit ihm spielt, wo er noch selbst zu spielen glaubt. Das „neckische Spiel der Traumseele"210 wendet sich gegen den Spieler, und dieser weiß nicht mehr, wer er ist. Garrick hört auf, „Garrick zu sein, und er ist einzig das, was er vorstellt", wie Mörike in der zweiten Fassung des Maler Nohen aus Friedrich Melchior Grimms Briefen zitiert.2103 Für Garrick ist es dabei gleichgültig, ob er Macbeth oder ein Kuchenbäckerjunge ist. Plötzlich kann es jedoch geschehen — so möchten wir hinzufügen —, daß der Kuchenbäckerjunge in den Macbeth hinein gerät, wie in Mörikes Begeisterung über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Fratzen hineinplatzen oder wie Nohen nach Larkens' Abschiedsbrief zerrissen wird:

In einer ihm selbst verwundersamen, traumähnlichen Gleichgültigkeit ritt er bald langsam, bald hitzig einen einsamen Feldweg, und statt daß er, wie er einigemale versuchte, wenigstens die Punkte, worauf es ankam, hätte nach der Reihe durch-denken können, sah er sich, wie eigen! immer nur von einer monotonen lächerlichen Melodie verfolgt, womit ihm irgendein Kobold zur höchsten Unzeit neckisch in den Ohren lag. Mochte er sich Gewalt antun so viel und wie er wollte, die ärmliche Leier kehrte immer wieder und schnurrte, vom Takte des Reitens unterstützt, unbarmherzig in ihm fort, weder im Zusammenhange zu denken noch lebhaft zu empfinden war ihm gegönnt; ein unerträglicher Zustand. ,Um Gottes willen, was ist doch das?' rief er zähneknirschend, indem er seinem Pferde die Sporen heftig in die

207 so auch Zemp aaO 71 zum „Spillner"-Fragment. 2 0 8 an Hartlaub 20./25. 3. 1826, Briefe 60 f. 209 Werke II 483. 2 1 0 ebda. 210aKlaiber-Ausgabe I 142.

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Seiten drückte, daß es schmerzhaft auffuhr und unaufhaltsam dahinsprengte. ,Bin ich's denn noch? Kann ich diesen Krampf nicht abschütteln, der mich so schnürt? Und was ist denn weiter? wie, darf diese Entdeckung so midi ganz vernichten? was ist mir denn verloren, seit ich alles weiß? Genau besehen — nichts, gewonnen — nichts ei ja doch, ein Mädchen, von dem man mir schreibt, sie sei ein wahres Gotteslamm, ein Sans-pareil, ein Angelus!' Er lachte herzlich über sich selbst, er jauchzte hell auf und lachte über seine eigenen Töne, die ein ganz anderes Ich aus ihm heraus-zustoßen schien.211

Die Welt der selbstgeschaffenen Dämonen ist frei und ledig geworden. Wir stehen am Abgrund des reinen Spiels. Mörikes Bekenntnis „Oft bin ich mir kaum bewußt", seine sich nach allen Seiten verströmende Kindlichkeit haben uns schönste Dichtungen geschenkt, eine Welt voll herrlichster, ins Göttliche hinüber-gleitender Gestalten, neue Mythen von berückendem Zauber, aber sie wecken audbt in ahnungslosem Spiel die Welt der Dämonen, die Menschenschicksale zer-bricht und Mörike an die Grenzen des Wahnsinns treibt.

Wenn er aber erkennen muß, daß sich mit der Welt nicht einfach spielen läßt, daß die entfesselten Dämonen ein eigenes Spiel beginnen, dann läuft er „wie ein Knabe, heftig schluchzend, zur verzeihenden Mutter N a t u r hin". Es ist bedeutungs-voll, daß er in einem undatierten Gedicht des Schmerzes über den Verlust von Maria Meyer — „Im Freien" — zu diesem Bild greift. D a ist das neckische Traumspiel zu Ende, der Sichere Mann hat das Spinnennetz zerrissen, das E n t -setzen über das Spiel der „Schatten" bricht durch:

An euch noch glaubt' ich Midi trösten zu können, Meine Sehnsucht — an eudi! Ihr Lüfte, webend über den Wiesen! Und ich eilte zu euch Unter die Weiden; Aber nun wehet ihr, Und, ich sehe, das stillet mich nicht!

Da ich ohne euch war, Unter dem Druck der Stadt, Mahnt's mich mit einmal an euch, Wunder — Hoffnung durchzüdct* mich, Tränen der Wonne schössen vom Auge mir Bei deinem langvergessenen Namen, Ruhige, gute Natur! Und wie ein Knabe, heftig schluchzend, Zur verzeihenden Mutter hinläuft, Also lief ich entgegen euch, Und nun seid ihr mir Lüfte nur! Jetzt verläßt mich alles!

Oder bin ich dir gestorben, Du unsterblicher Geist der Natur? Konnte die weibliche Pein Jener unseligen Liebe

2 1 1 Werke I I 237 f.

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Dich mir auf ewig entfremden? Und so verzweifT ich jetzt, Weil ich mein Herzblut gab Für einen Schatten?

Wühlt durch die Locken mir, Ihr Winde! Verbirg dein Antlitz, freundlicher Himmel, Mit dieser Wolken beruhigendem Grau! Laß dichter deine großen Tropfen fallen! Rolle donnernder durch die Wölbung! Daß es mich aufregt Aus dem unerquicklichen Matten Tod! Nur daß ich fühl': ich lebe! Und seh* einen Wandel, ein Geschäft der Natur! Die tot mir lag, Mir Einsamen.

Wie die beneidenswerten Käfer und Würmchen der Erde, Die im Gewitter In ihre heimlichen Wohnungen ducken, Will ich dann auch in Meines Herzens Wohnung Zu kehren meinen, Mit gleich ahnungsvoller Freude, Als fand' ich einen Tropfen Nahrung, Einen Lebensgedanken; Dein mahnend Schauspiel schaut' idi dann, Gott, aus ruhigem Winkel, Und Kräfte brütend, saugt' ich Zu eignem Tun! Heile mich, Mutter Natur, ach, an deinem Lautschlagenden Busen! Oder gefällt es dir, ja, so sende, Send' aus den Höhen auf meine Stirn Reine Blitze, Mein Leben zu scheiden!212

Das Grauen der Leere breitet sich um den Einsamen; nur Elementargewalt, nur ein Gewitter könnte den Bann brechen und ihn in des eigenen Herzens Wohnung sich selber finden lassen. Mörike ist entblößt, das Spielzeug ist zerbrochen. Hier ist Mörike völlig er selbst, so wie er wirklich ist, er offenbart sein innerstes Wesen ohne jedes Spiel. Deshalb ist das Gedicht zwar ergreifend als Zeugnis, aber keine große Dichtung; er selbst hat es in seine Sammlung nicht aufgenommen. Denn große Dichtung kann bei ihm erst entstehen, wo er sich wieder in seine Kindlich-keit zurückfindet, wo aus Maria Meyer Peregrina, w o aus dem Gedicht „Im Freien" der „Besuch in Urach" wird. Aber unauslöschlich hat sich dieses Heraus-fallen aus der Spielwelt in ihn eingegraben: Orplid ist untergegangen, es ist Ruine, leere steinerne Stadt; es ist nur noch Vergangenheit, verlorenes Paradies.

212 ebda. I 283 ff.

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Das dämonische Spiel 67

So breitet sich über alles wie ein Nebel jene wehmütig melancholische Stimmung, die von nun an über Orplid und manch anderer Dichtung liegt. Das Spiel ist vergänglich, man kann aus der Spielwelt herausfallen. Dies sehen zu müssen, ist die eigene Tragik Mörikes, die nichts mehr mit Dämonie des Spiels zu tun hat. Mörike ahnt, daß die Spielwelt vielleicht doch nicht das Letzte, daß sie nur Schatten, nur Vergänglichkeit vor einem unsagbaren Ewigen ist.

Der Schatten der Vergänglichkeit senkt sich über die letzte und schönste Schöpfung seiner Spielwelt, über „Mozart auf der Reise nach Prag". In dieser Dichtung ist jedoch die Tragik nicht mehr Herausfallen aus dem Spiel in eine Welt, wo jenes nur noch ein neckisches Spiel der Traumseele bedeutet. Mörike offenbart uns die größte Dämonie des Spiels: es verzehrt den Spielenden. Der Spielende selbst geht am Spiel zugrunde, weil das reine Spiel Erfüllung ist, die im Irdischen nicht dauern kann, welcher der irdische Teil des Menschen nicht gewachsen ist.

Im Gedicht „Im Freien" sehnt Mörike den Rausch eines Gewitters herbei, „daß es midi aufregt Aus dem unerquicklichen Matten Tod! Nur daß ich fühl ' : ich lebe!" Ähnlich schlägt eine Klage des kranken Mörike von 1832 in Jubel um:

Ich hätte heulen können, wie ein Mädchen. D a sah ich am Fenster ein Gewitter von der Teckseite herziehen, eine Minute drauf rollte der erste Donner, und alle meine Lebensgeister fingen an, heimlich vergnüglich aufzulauschen. In unglaublicher Schnelle stand uns das Wetter überm Kopf. Breite, gewaltige Blitze, wie ich sie nie bei Tag gesehen, fielen wie Regenschauer in unsre Stube, und Schlag auf Schlag. Der alte Mozart muß in diesen Augenblicken mit dem Kapellmeister-Stäbchen unsichtbar in meinem Rücken gestanden und mir die Schulter berührt haben, denn wie der Teufel fuhr die Ouvertüre zum Titus in meiner Seele los, so unaufhaltsam, so prächtig, so durchdringend mit jenem oft wiederholten ehernen Schrei der römischen Tuba, daß sich mir beide Fäuste vor Entzücken ballten.213

Mörike ist „besoffen". Das Gewitter führt ihn wieder in die Spielwelt, aber nun nicht in eine dämonisch verfolgende, fratzenhafte, wie sie als leiernde Melodie den Ritt Nohens begleitet, sondern in den befreienden Jubel der Welt Mozarts als in die höchste Region jeglichen schöpferischen Spiels. Denn das ist Mozart fü<: Mörike: Spiel in höchster Reinheit und Vollendung.

Mozart muß Mörike fasziniert haben, weil jener alles in sich verkörperte, was Mörike von sich selbst ahnend wünschte: höchsten Genius einer ungeheuren Kind-lichkeit. Sogar im Briefstil sind sich die beiden hie und da außerordentlich nahe, etwa dort, wo der zitierte Brief an Franz Bauer plötzlich in Reimereien übergeht: „Und du hast doch nicht das Fieber — schau so geht der Mund mir über, gelt mein Lieber, gilt mein Lieber?" Das könnte auch Mozart an das „Bäsle" /geschrie-ben haben, für das er ein ganzes Feuerwerk von Sprachspielen abbrennt:

Ich habe so viel zu thun gehabt, daß ich wohl Zeit hatte an das Bäsle zu denken, aber nicht zu schreiben, mithin habe ich es müssen lassen bleiben. N u n aber habe ich die Ehre sie zu fragen, wie sie sich befinden und sich tragen? — Ob Sie noch

2 1 3 an Johannes Mährlein 5 .6 . 1832, Briefe 353.

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offenes Leibs sind? — ob sie gar etwa haben den Grind? — ob sie mich noch können ein bischen leiden? — Ob Sie öfters schreiben mit einer Kreiden? Ob sie noch dann und wann an mich gedenken? Ob sie nicht zuweilen Lust haben sich aufzuhenken? ob sie etwa gar böse waren? auf mich armen Narren, ob sie nicht gutwillig wollen Fried machen, oder ich laß bei meiner Ehr einen krachen! Doch sie lachen — Victoria! — unsere Arsch sollen die Friedenszeichen sein, ich dachte wohl, daß Sie mir nicht länger wiederstehen könnten, ja ja ich bin meiner Sache gewiß, und sollt ich heut noch machen einen Schyss, obwohl ich in 14 Tagen gehe nach Paris. Wenn Sie mir also wollen antworten aus der Stadt Augsburg dorten, so schreiben sie mir bald damit ich den Brief erhalt, sonst wenn ich etwa schon bin wek, bekomm ich statt einen Brief einen Drek, — Drek! . . .214

Auch die kindlichen Derbheiten finden sich ja unter dem geistlichen Gewände Mörikes: „Horch! was scholl? Donnert's wohl? — Fritz sitzt auf dem Hafen!* Daß ein wispelisches Drauflosschwatzen bei Mozart nicht fehlt, dürfte bestätigen, daß Wispel nicht aus einer Bewußtseinsspaltung geboren ist, sondern ganz einfach zum Spiel gehört. Wie Wispel verdreht Mozart die Wörter und erzählt in gewichtigstem Ton die größten Banalitäten:

Ich muß Ihnen geschwind etwas erzehlen: ich habe heute nicht zu Hause gespeist, sondern bey einem gewissen Möns. Wendling; nun müssen Sie wissen, daß der allzeit um halb zwei ißt, er ist verheyrathet und hat auch eine Tochter, die aber immer kränklich ist. Seine Frau singt auf der zukünftigen Opera, und Er spielt die Flöte. Nun stellen Sie sich vor, wie es halb 2 Uhr war, setzten wir uns alle, bis auf die Tochter, welche im Bette blieb, zu Tisch und aßen.215

In seinem Mozartbild runden und vereinigen sich alle Spiele, die Mörike selbst gespielt hat. Sein Mozart ist der Rokokotändler Mörike, der Mörike der Gesell-schaffcspoesien und kalligraphischen Schnörkel. Mozart ist Wispel, der Sichere Mann, aber nun über alle zeitliche Bindung und Beschränkung hinausgehoben. Mozart ist der Mythos des Spiels.

Mozart ist Wispel. Man vergleiche nur die beiden Texte:

„,Mit Erlaubnis, mein Herr — wie kommen Sie dazu, an diesem Ort auf eine solche Weise zuzugreifen?' ,Was?' rief Mozart, .zugreifen? Zum Teufel, glaubt Er denn, ich wollte stehlen und das Ding da fressen?' ,Mein Herr, ich glaube, was ich sehe. Diese Früchte sind gezählt, ich bin dafür verantwortlich. Der Baum ist vom Herrn Grafen zu einem Fest bestimmt, soeben soll er weggebracht werden. Ich lasse Sie nicht fort, ehbevor ich die Sache gemeldet und Sie mir selbst bezeugten, wie das zugegangen ist."*21·

„Portier: ,Des ischt a saubere Arbeit! Kreuzschwerenot! Des gfallt mer!' Prof.: ,Es ist Ihnen vielleicht selbst interessant, die hier obschwebenden scienti-

fisdien Motive kennen zu lernen, sie lassen sich digitaliter aufzählen und ungefähr folgender Ma —'

214 Briefe Wolfgang Amadeus Mozarts, . . . hg. v. Erich H. Müller von Asow, Berlin 1942, II 338; vgl. auch ebda, alle „Bäsle"-Briefe II 333—345, ferner etwa I 137 f., 147, 179, 310; II 7, 19, 292, 458 oder Kanon KV Nr. 561. Dazu: Irma Hoesli, Wolfgang Amadeus Mozart, Briefstil eines Musikgenies, Zürich 1948; Otto Schneider, Mozart in Wirklichkeit, Wien 1955, 347 ff. (Mozart als Gelegenheitsdichter).

215 Briefe ed. Müller von Asow II 337. -216 Werke III 229 f.

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Das dämonische Spiel 69

Port.: ,Raus aus der Rabatt! Was brauch ich dia Faxa do! Raus! sag i Do naus goht der Weg auf d'Polizei!'"

Der zweite Text ist die Legende zur Illustration von Wispels elegischer Balla-diέre „Der Straefling" in den Sommersprossen von 1837; der erste stammt aus der Mozartnovelle von 1857. Die Übereinstimmung ist kein Zufall. Wispel „dräut den königlichen Zwiebeln", Mozart den gräflichen Pomeranzen (Mörike selbst stahl 1846 in „gottesdienstlidiem Gelüst" mit Hilfe seiner Schwester einen zier-lichen schmiedeeisernen Fuß für seine Sanduhr aus der Kirche von Unterschlüpf217) „Die Nemesis oder Der Straefling" heißt Wispels Balladiere, als Nemesis bezeich-net Mozart den Gärtner: „Mittlerweile hatten meine Hände das große Unheil angerichtet. Die Nemesis lauerte schon an der Hecke und trat jetzt hervor in Gestalt eines entsetzlichen Mannes im gallonierten blauen Rock." In der Balladiere wird erzählt:

Und schon bohrt* ich auf die Neige Und sdion gab sie nach,

Als aus nahem Lust-Gezweige Still ein Bosmann brach.

Und ich trat mit meinem Zweke Floskelnhaft hervor,

Doch der goldbordirte Reke Wismet' mir kein Ohr.218

Aber was ist aus dem gleichen Motiv auf dem Weg vom kleinen Dämon zum Genius des Spiels geworden! Während Wispel daran denkt, seinem Aquavit zärtern Schmelzling mitzuteilen und sein Kodvwerk auszubessern, ist bei Mozart der Diebstahl nur ein neckisches Spiel der Traumseele mit einer lieblichen Er-innerung der Knabenzeit und einer längst verwischten musikalischen Reminiszenz. So landet er nicht im Arrestantenwinkel des gräflichen Schlosses, nicht im Kerker wie Wispel. Aus der Zwiebel wird eine Pomeranze; schon diese symbolische Wandlung zur südlichen Schönheit und Kostbarkeit läßt erkennen, wie sehr sich das Spiel von aller Wirklichkeit gelöst hat.

In Mozart steckt audi der Sichere Mann. Er will mit Konstanze den „Mond und 's Mandl drin" betrachten. Im Fernrohr „soll man auf der ungeheuern Scheibe, hell und deutlich bis zum Greifen, Gebirger, Täler, Klüfte sehen und von der Seite, wo die Sonne nicht hinfällt, den Schatten, den die Berge werfen."219

Wenigstens mit dem Fernrohr kann Mozart zur Rautstrunsel und zum unnaitige Zinnteller, zu Sonne und Mond, greifen, mit denen der Sichere vergeblich spielen wollte. Sdiließlich aber ist Mozart jenes Kind, das Mörike sein möchte und letztlich auch ist, das sich nach allen Seiten hin verschwendet, bald ein kostbares Riechwasser oder, wie Mozart es wispelisch nennt, einen „Götter-Riechschnaps" ausleert, bald den böhmischen Wald bewundert, sich ohne Unterschied mit Sdima-rotzern und Kennern herumtreibt, dann wieder phantasiert „je toller desto

217 an Hartlaub 8. 7.1846, Briefe ed. Fischer-Krauß II 130. 218 Werke II 244. 219 ebda. III 216 f.

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besser", in einem bunten Spiel von Seifenblasen um die Zukunft, um die Ver-gangenheit des neapolitanisch-sizilianischen Wasserspiels, um ein Quodlibet von Melodien — „Ich glaubte wieder dieselbe Musik in den Ohren zu haben, ein ganzer Rosenkranz von fröhlichen Melodien zog innerlich an mir vorbei, fremdes und eigenes, Krethi und Plethi, eines immer das andere ablösend"220 — aus dem ein längst gesuchtes Tanzliedchen herausklingt. Mozart ist der bezauberndste Gesellschafter; leichten Herzens verschenkt er Küsse und Melodien nach allen Seiten, bis schließlich die ganze Runde in Versen zu sprechen anfängt und alles im tollen Wirbel eines Terzetts und Kanons von reinem Spielunsinn, in Tanz und Billard endet:

Mögen ihn die Götter stärken Zu den angenehmsten Werken —

Max (fortfahrend) Wovon der da Ponte weder Noch der große Schikaneder —

Mozart Nodi bi Gott der Komponist 's mindest weiß zu dieser Frist!

Graf Alle, alle soll sie jener Hauptspitzbub von Italiener Noch erleben, wünsch' ich sehr, Unser Signo Bonbonniere!

Max Gut, ich geb' ihm hundert Jahre —

Mozart Wenn ihn nicht samt seiner Ware —

Alle drei con forza Noch der Teufel holt vorher Unsern Monsieur Bonbonniere.221

Immer wieder hält uns Mörike Mozarts Kindlichkeit vor Augen. Er erzählt uns von dessen vergeblichem Versuch, mit dem Stock zu Würde und Ordnung zu kommen, von seiner Verletzlichkeit wegen des „piccolo grifo raso", wo die heitere Spielwelt für einen Augenblick in Frage gestellt wird, vom kindlichen Schmollen der Gatten und von ihrer Versöhnung im Fliegenfangen, die sich kaum von der Versöhnung Mörikes mit seiner Schwester in „An Klara — Als sie ein wenig kurz angebunden war"222 unterscheidet, von Mozarts Güte gegenüber der Kellne-rin und deren Liebstem und so weiter. Alles, was hier lebendig wird, ist jedoch nicht mehr nur Mörike, nicht mehr Gesellschaftsspiel, nidit mehr Rokoko und nicht mehr Mozart, sondern ist allein der Mythus von Mozart, der Mythus des Spiels in seiner herrlichsten Vollkommenheit, der Mythus von der ungeheuren Kind-lichkeit von Kunst und Welt. Diese Kindlichkeit aber ist völlig dämonischen Ursprungs; sie ist vergänglich, weil sie immer weiter treibt und den Leib des Menschen aufzehrt. Nirgends ist die Herrlichkeit des Spiels so dargestellt wie in

220 ebda. II 243. 221 ebda. III 252. 2 2 2 ebda. I 254 f.

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Das dämonische Spiel 71

Mörikes Mozart, nirgends ist aber auch die Dämonie des Spiels in ihrer unerbitt-lichen Schicksalhaftigkeit so tief gesehen. Das Spiel treibt Mozart immer weiter: „O pfui, ich darf nicht daran denken, was man verpaßt, verschiebt und hängen läßt! — von Pflichten gegen Gott und Menschen gar nicht zu reden — ich sage, von purem Genuß, von den kleinen unschuldigen Freuden, die einem täglich vor den Füßen liegen."223 — „Ward ich denn je nur meiner Kindchen ein volles Stündchen froh? Wie halb ist das bei mir und immer en passant! Die Buben ein-mal rittlings auf das Knie gesetzt, midi zwei Minuten mit ihnen durchs Zimmer gejagt, und damit basta, wieder abgeschüttelt. Es denkt mir nicht, daß wir uns auf dem Lande zusammen einen schönen Tag (gemacht hätten, an Ostern oder an Pfingsten, in einem Garten oder Wäldel, auf der Wiese, wir unter uns allein, bei Kinderscherz und Blumenspiel, um selber wieder einmal Kind zu werden. All-mittelst geht und rennt und saust das Leben hin — Herr Gott! bedenkt man's recht, es möcht einem der Angstschweiß ausbrechen!"224 Ein Leben en passant, in dem man sich selbst zu finden hofft — so ist das „Kindwerden" hier zu ver-stehen —, ist dem Spielenden nidit vergönnt, er jagt von einem Gegenstand zum andern; er kann nicht verweilen; will er es, wird er sofort wieder vom Spiel ergriffen; es gibt kein Verschnaufen, nur ein Genießen und Schaffen „ohne Maß und Ziel".225 Kein Maß und kein Ziel: darin liegt die Dämonie des reinen Spiels. Und Mozart weiß, was das Ende eines solchen Verströmens sein wird; er verfolgt „den einen traurigen Gedanken, zu sterben, wie eine endlose Schraube".226 Seine Versuche, den Zwang zu lösen, sind kindlich rührend und hoffnungslos: der Spazierstock verschwindet nach dem dritten Ausgang. So erwacht in ihm das Grauen vor dem Ende, das zugleich Wissen ist, daß das Werk nie enden, der Dämon schöpferischen Spiels ihn immer weiter treiben wird, bis er ihn zerstört hat: „Dein Lachen endet vor der Morgenröte!"

„Rosee d'Aurore" heißt das kostbare Riechwasser, das Mozart am Anfang der Novelle so verschwenderisch über alles ausgießt, rosee d'Aurore ist auf mannig-fache Weise das Werk Mozarts für Mörike. „Dein Lachen endet vor der Morgen-röte!", vor der Morgenröte einer neuen Zeit, die nicht mehr die Zeit des Spiels ist, nicht mehr die Zeit des Pomeranzenbäumchens vom Hofe Ludwigs XIV., „die schon die unheilvolle Zukunft" in sich trägt.227,,,Dein Lachen endet vor der Morgenröte!' erklang durch die Totenstille des Zimmers. Wie von entlegenen Sternen fallen die Töne aus silbernen Posaiunen, eiskalt, Mark und Seele durch-schneidend, herunter durch die blaue Nacht." Dem Lachen Don Juans, des Spielers, dem Lachen Mozarts, des schöpferisch Spielenden, setzt das eherne Schicksal eine Grenze: den Tod. Der Tod ist die Grenze des Spiels. Das Jenseits „fordert schleunigen Entschluß zur Buße. Kurz ist dem Geist die Zeit gemessen;

223 ebda. III 217. 224 ebda. 225 ebda. 219. 226 ebda. 221. 227 ebda. 247.

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weit, weit, weit ist der Weg!"228 Don Juan trotzt in ungeheurem Eigenwillen den ewigen Ordnungen, er setzt seine Welt des Spiels dem Jenseits entgegen; aber die Dämonen sind lebendig geworden und stellen sidi gegen ihn. „Unter dem wachsenden Andrang der höllischen Mächte" ringt er ratlos, sträubt, windet sich und geht schließlich unter, „noch mit dem vollen Ausdruck der Erhabenheit in jeder Gebärde."229 Der Dämon des Spiels hat gesiegt: es gibt keine Reue und keine Buße. „Es ist ein Gefühl, ähnlich dem, womit man das prächtige Schauspiel einer unbändigen Naturkraft, den Brand eines herrlichen Schiffes anstaunt. Wir nehmen wider Willen gleichsam Partei für diese blinde Größe und teilen knir-schend ihren Schmerz im reißenden Verlauf ihrer Selbstvernichtung".230 Blinde Größe ist Mozarts Kindlichkeit nicht, er ahnt die Selbstvernichtung und kann doch den reißenden Verlauf nicht aufhalten. Kaum sind die letzten Akkorde des Grauens verklungen, erzählt er wieder von häuslidien Lügen und Scherzen; er vergeht vor Freude über den geschenkten Wagen: das Spiel geht weiter, nur leise untermalt von den trauernden Tönen des angeblichen böhmischen Volkslieds „Ein Tännlein grünet wo."

Mörike ist nicht Mozart — schon allein der frühe Tod Mozarts schafft von selbst eine Distanz vom Komponisten zum Dichter —, Mörike ist Ulmon, der Uberlebende des verlorenen Paradieses, der in einer leeren steinernen Stadt der Ruinen des Spiels müde ist und nicht sterben kann. Nur in der Dichtung hat Ulmon-Mörike das Feenkind Silpelitt gefunden, das ihn erlöst. Die Dichtung ist das „Stückdien alten Gesteins von der geliebten Ruine",231 ein Stückchen von Orplid.

Kein Zwiespalt in Mörikes Seele trennt Wispel und seine Gesellen von Mozart: beide unterliegen auf ihre Art den gleichen Gesetzen des Spiels. Damit hat sich unsere Betrachtung auf eine Weise vertieft, wie es nur aus dem Blick auf einen großen Dichter möglich war, der Glück und Tragik des Spiels an sich selbst erfahren hat.

2 2 8 ebda. 270. 2 2 9 ebda. 2 3 0 ebda. 271. 231 ebda. II 103.

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2. D A S K O S M I S C H E S P I E L

Paul Scheerbart

Von Paul Scheerbart wissen wir heute noch wenig. Eine Gesamtausgabe fehlt, von seinem Briefwechsel sind nur Brudistücke veröffentlicht,1 und die Erinnerun-gen der Zeitgenossen sind nicht ergiebig. Das schönste Denkmal haben ihm bis jetzt Richard Dehmel und Erich Mühsam gesetzt, Dehmel mit einem Brief an seine Frau vom 20. Oktober 1915: „Ich kann nicht trauern über Paul Sdieerbarts Tod. Wir waren niemals traurig zusammen, ich habe nur immer mit ihm gelacht, und so lebt er in mir, bis ich selber sterbe",2 Mühsam in seinen unpolitischen Er-innerungen „Namen und Menschen", wo er im Kapitel „Scheerbartiana" seine Begegnungen mit dem Diditer erzählt:

Wer Paul Scheerbart persönlich nahe stand, der sah, wie einheitlich diese Persön-lichkeit war. Seine unbändige Lustigkeit war ein Bestandteil seiner Weltanschauung, und seine Weltanschauung bejahte das Weltall in seiner unfaßbaren Größe, Schön-heit und Mannigfaltigkeit, die der dichterischen Phantasie schrankenlose Möglichkeiten öffnete, während das Widitignehmen der irdischen Absonderlichkeiten Sdieerbarts Freude am Lachen immer neue Nahrung gab. „Antierotiker" nannte er sich, weil ihm die Feierlichkeit, mit der seine alten Freunde Dehmel und Przybyszewski die Geschlechtsbeziehungen der Menschen als poetisch zu glorifizierende Angelegenheit behandelten, ungeheuer komisch zu sein schien. Das gesamte Gebaren der Erd-bewohner, in ihrer natürlichen Beschaffenheit, wie sie sich in den Dingen der Liebe und in den Vorgängen der Ernährung und des Stoffwechsels offenbart, und erst recht ihr Verhalten gegeneinander, das er vor allem in jeder Art Staatsherrschart und in der Einrichtung des Krieges charakterisiert sah, war ihm ein unversieglicher Quell donnernden Gelächters . . .3 Sdieerbarts Bücher und Sdieerbarts Persönlichkeit hatten ganz die gleichen Eigenschaften. Er überschlug sich in grotesken Einfällen, über die er maßlos lachte und die trotzdem niemals ausschließlich als Spaß zu nehmen waren. Am bezeichnendsten für ihn, der sein Lebtag nie aus dem qual-vollsten Geldmangel und ganz selten aus buchstäblicher Not herausgekommen ist, scheint mir der jahrelang verfolgte Plan, durch die Konstruktion eines Perpetuum mobile mit einem Schlag Multimillionär zu werden. Scheerbart — und außer ihm noch sein prächtiger ,Bär', die rührendste Gestalt unter allen Dichterfrauen, dieser weiblidie Sancho Pansa, der, der Realität des Daseins in resoluter Nüchternheit

1 Paul Scheerbart, Von Zimmer zu Zimmer, 70 Schmoll- und Liebesbriefe des Dichters an seine Frau, Berlin-Wilmersdorf 1921 [Scherze].

2 Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902 bis 1920, Berlin 1923, Nr. 806, S. 384 f. (Unvollständige) Bibliographie: Kurt Lubasch und Alfred Richard Meyer, Paul-Scheerbart-Bibliographie, Privatdruck Berlin 1930. Nach der ersten Aus-wahl der Werke, hg. v. Carl Mumm, Wiesbaden 1955, hat der Verlag Rowohlt auf Veranlassung von Hellmut Draws-Tychsen, der die Witwe des Dichters „laufend mate-riell und ideell" unterstützte und in dessen Händen sich auch der Nachlaß befindet, alle Restauflagen Scheerbartsdier Bücher aufgekauft (S. 15).

3 Erich Mühsam, Namen und Menschen, Unpolitische Erinnerungen, Leipzig 1949, 72 f.

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74 Die geistigen Grundlagen des Spiels

gewachsen, acht Jahre älter als sein von Bier und Phantasien ewig angesäuselter Don Quichote, die dicke Zigarre im Munde, alle Verrücktheiten des Dichters geduldig und gläubig anhörte — Scheerbart und der Bär waren völlig davon über-zeugt, daß das Problem gelöst sei, und was immer nur an kleiner Münze zusammen-zukratzen war, wanderte zum Patentamt. Zu den Rädern und Gewichten, zu seiner von früh bis spät betreuten Bastelarbeit gewann aber Scheerbart eine immer persön-lichere Beziehung. ,Perpeh' nannte er sein Werk, und idi bekam Postkarten nach München mit dem Postskriptum: ,Perpeh läßt Dich schön grüßen.' Einmal teilte mir Scheerbart mit: ,Perpeh ist fertig; es bewegt sich nur noch nicht' — für ein Perpetuum mobile offenbar ein Nachteil.4

Scheerbarts Kindlichkeit tritt in allen Einzelerlebnissen zutage, mit denen Mühsam dieses Bild ergänzt, etwa wenn er erzählt, wie Scheerbart einem zufällig hereinplatzenden Versicherungsagenten den von ihm neu entdeckten Aluminium-ring um den Saturn erklärt, wie Scheerbart und er eine Tageszeitung gründen wollen, die als etwas ganz Neues nur Lügen enthalten soll, „Lügen mit Hinter-grund", wie die beiden für ihr „Vaterland" einen Verleger finden und sich der Plan nur dadurch zerschlägt, daß dieser Verleger bald darauf zwei Soldaten-blätter kauft und deshalb auf das antimilitaristische „Vaterland" verzichtet, sie aber mit dem Verlegen zweier Bücher — Scheerbarts „Machtspäße" und Mühsams „Wüste" — entschädigt. Otto Julius Bierbaum porträtiert in seinem „Stilpe" den Dichter als „Bärenführer" :

Ein wunderlicher Mensch, der mitten in Berlin mit dem Gleichmut eines orientalischen Weisen lebte und, arm wie ein persischer Bettelmönch, sich mit einer köstlichen Grazie des Geistes aushalten ließ. Sein Reich war nicht von dieser Welt, aber wer sein Reich kannte, diese weiten kosmischen Räume voll unerhörter Phantasien und diese bunten Fabelstädte mit den intimsten Winkeln genießender Ruhe nach rasen-dem Rauschen, der wußte, daß seine Welt beträchtlich schöner war als unsere. Ein Fakir mit Humor. In der Heimat seines Geistes, in Indien, wäre er wohl auch ohne Alkohol weise und heiter gewesen; in Berlin aber mußte er sehr viel trinken. Es schien, als ob er wirklich die Fakirkunst besäße, sich durch seelische Kräfte gegen alles Giftige immun zu machen.5

Mühsams Erinnerungen schließen:

Während des Krieges ist Paul Scheerbart gestorben;6 er hat sein Leben lang zu wenig gegessen und zu viel getrunken. Das herrliche, mächtige, Leib und Seele erschütternde Lachen des einzigen großen Humoristen der modernen deutschen Literatur ist stumm geworden. Ich denke an eine öffentliche Vorlesung, die er aus seinen Werken halten sollte. Er las brillant, aber plötzlich übermannte ihn sein eigener Humor. Er fing zu wackeln an, er fing zu prusten an, und dann brach das Lachen mit einer solchen Urgewalt hervor, daß an kein Lesen mehr zu denken war. Da stand ein deutscher Dichter auf dem Podium und lachte, schüttelte sich, brüllte vor Lachen und der ganze Zuhörerraum war angesteckt von dem lachenden Dichter, bog sich und krähte. Die Zeit wird kommen, die Scheerbarts Lachen wieder lernen wird, das große freie

4 ebda. 74. 5 Otto Julius Bierbaum, Stilpe, 19.—22. Aufl. Berlin o. J . , 330 ff.; vgl. audi Ο. J . Bier-

baum, Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer, 16.—17. Taus. Stuttgart 1925, 230 ff.

6 Scheerbart starb 1915.

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Das kosmische Spiel 75

und befreiende Lachen, das aus dem weiten glücklichen Weltall stammt, wo es keine Not und keine Kriege gibt. Es wird die Zeit sein, die auch Scheerbarts Bücher wieder drucken, lesen und mit ernsthafter Heiterkeit genießen wird.7

Unwillkürlich erinnert man sich an Börnes Worte über Jean Paul: „Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme. Dann führt er die Müden und Hungrigen ein, in die Stadt seiner Liebe."8 Für beide ist die Prophezeiung noch nicht in Erfüllung gegangen. Während sich mit Jean Paul wenigstens Kenner und Literaturwissen-schaftler auseinandersetzen, wird Scheerbart völlig übergangen. So ist unsere kurze Betrachtung auch in dieser Beziehung nicht überflüssig.

Aus den wenigen Angaben Mühsams erkennen wir den Spielenden. Seine Hingabe an die Bastelei des Perpetuum mobile erinnert stark an Mörikes Ver-suche, Zeichnungen auf Glas zu vervielfältigen; beide hoffen mit einer Erfindung aus der täglichen Misere herauszukommen, beiden ist der Versuch mißlungen. Doch schon hier zeigt sich der Unterschied: Mörike hält sich wenigstens an das Mög-liche, Scheerbart schweift ins Unmögliche. Auch <sonst sind die beiden wesenhaft verschieden. Im dichterischen Werk trennen Sdieerbant vor allem zwei Elemente von Mörike und werden zugleich auch seinem Ruhm zum Verhängnis: seine astralen Dichtungen und seine Sprache.

Dadurch daß Scheerbart sein Spiel zu einem großen Teil in den Kosmos ver-legt, von der Geburt von Sternen, dem Leben auf diesen und von einem kos-mischen Theater träumt, löst er es völlig von sich selbst und allen Gegebenheiten irdischen Daseins. In dieser Entfernung ist ein Einfluß des Spiels auf den Menschen kaum möglich; Scheerbart schwelgt in Kometentänzen und Sternenwesen. So schweben viele seiner astralen Novelletten im leeren Räume. Sein Astero'iden-Roman „Lesabendio",9 die geschlossenste Dichtung, fast die einzige, die einen deutlicheren Aufbau erkennen läßt, erzählt die Wandlung eines Pallasbewohners zum Stern. Er ist ein Rausch völlig freier Spiele und Assoziationen, ein prächtiges Feuerwerk, das schnell verpufft und bei dessen Wiederholung wir trotz aller phantastischen Ausmalung eines solchen Sternenlebens ein leichtes Gähnen nicht unterdrücken können. Der Lesabendio ist kaum eine Dichtung im üblichen Sinne, auch kaum eine Dichtung an den Grenzen der Sprache, weil er völlig abseits von allem Irdischen in einer eigenen Welt eigenen Gesetzen .gehorcht. Er ist kindliches Spiel in absoluter Freiheit. Damit nähert sich Scheerbart, ohne es zu wissen, der erlösten Welt, von der Novalis träumt, und tatsächlich findet sich bei diesem Dichter ein Satz, der als Motto für Scheerbarts ganze Dichtung dienen kann: „Die Kometen sind wahrhaft exzentrische Wesen, der höchsten Erleuchtung und der höchsten Verdunkelung fähig — ein wahres Ginnistan —, bewohnt von mächtigen, guten und bösen Geistern, erfüllt mit organischen Körpern, die sich zu

7 Mühsam aaO 80 f. 8 Ludwig Börne, Denkrede auf Jean Paul, Ges. Schriften, Hamburg Hoffmann und

Campe 1829—34, IV 47. 9 Paul Scheerbart, Astrale Novelletten, 2. Aufl. München-Leipzig 1912; Lesabendio,

Ein Asteroiden-Roman, München Leipzig 1913.

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Gas ausdehnen — und zu Gold verdichten können."10 In den meisten Werken berichtet Scheerbart vom exzentrischen Leben der Sterne und ihrer Bewohner. Ist der Lesabέndio ein Pallasroman, so enthalten die „Astralen Novelletten" Venus-, Vesta-, Juno-, Ceres-, Jupitermond-, Sonnenring- und Merkurgeschichten. Die Formen und das Leben der Sterne unterscheiden sich auf alle möglichen Arten. Es gibt trichterförmige11 oder Eierkuchensterne, die von Riesenbaumwesen bewohnt sind,12 farbige Monde13 und ganze Feuerwerke von Sternen und Sternen-nebeln. Ihre Bewohner sind ebenso seltsam. Die von Pallas und Quikko im Lesab£ndio soll Kubin „wie Molche, mit recht kleinen Augen und einem Schneckenfuß" zeichnen, was dem Maler den Stoßseufzer entlockt: „Als wenn Molche so aussähen!",14 die des Neptun sind dünner als edn Spinngewebe.15 Es gibt sogar astrale Pantomimen usw.18 Da alle diese Geschöpfe nichts mehr mit dem Irdischen zu tun haben, verlieren sie die Kraft, die sie nur aus dem Irdischen schöpfen könnten, und bleiben blasse gestaltlose Schemen.

Die Flucht in den Kosmos wirkt sich auch auf die Sprache aus. Scheerbarts Sternenwelt ist so weit entfernt, daß sie nicht einmal mehr im Pathos beschworen werden kann. Die Sprache der astralen Dichtungen besitzt nicht die geringste Ausdruckskraft, sodaß man von „mühelos schwadronierendem Plauderton" sprechen kann.17 Sie ist dem Dichter völlig gleichgültig und ergießt sich in banalste und trivialste Worte, die das Lesen zeitweise unerträglich machen. Scheerbarts Sprache zeigt, daß die Grenzen der Sprache auch die Grenzen der Dichtung sind. Seine Kindlichkeit ist am Unsagbaren angestoßen und läuft nun in ein hemmungs-loses Geschwätz über grenzenlose Vorstellungen aus. Wo den Mystiker die Gren-zen der Sprache ins Schweigen führen, lenken sie diesen Dichter ins Schwadro-nieren des Kindes. Der Versuch, so die Grenzen der Sprache zu überwinden, muß dem Leser als saloppe Sudelei erscheinen. Erich Mühsam kommt jedoch der Sache näher, wenn er Scheerbarts Sprache „eigentümlich" nennt und von ihr schreibt, daß sie „mit äußerstem stilistischen Feingefühl jeden Anschein von Pathetik durch salopp klingende Wortanordnung zu vermeiden wußte."18 Man kann nicht von einem Unvermögen des Dichters, höchstens von einem Irrweg sprechen, da die astrale Welt ohne Zusammenhang mit der irdischen sich auch dem Symbol entzieht, das ja aus dem Irdischen allein Gestalt gewinnt. Die astrale Dichtung Scheerbarts ist eine völlig symbollose Kunst und steht auch dadurch gänzlich im leeren Räume. Sie ist hemmungsloser Erzählrausch eines Kindes, dem die Sprache

10 Novalis Schriften ed. Samuel und Kluckhohn, Leipzig 1929, II 401 Nr. 436. 11 Pallas in „Lesab&idio". 12 Juno-Novellette, Astrale Novelletten 65 ff.; ebenso in: Paul Scheerbart, Das große

Licht, Leipzig 1912, 22 ff. 13 farbige Monde: Paul Scheerbart, Ich liebe Dich! Ein Eisenbahnroman mit 66 Inter-

mezzos, Berlin 1897, 74 ff. 14 Alfred Kubin, Vom Schreibtisch eines Zeichners, Berlin 1939, 96. 15 Professor Kienbeins Abenteuer, Astrale Novelletten 107 ff. 16 Paul Scheerbart, Kometentanz, Astrale Pantomime, Leipzig 1902. 17 Auswahl Mumm 13. 18 Mühsam aaO 73.

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Das kosmische Spiel 77

nicht mehr gewachsen ist. Man kann diesen Diditer nur bewundern und genießen, wenn man das Organ für planetarische Phantasie besitzt.

Erst in den astral-tellurischen Dichtungen, wo Scheerbart unsern Planeten in sein Spiel einbezieht, müssen wir aufhorchen. Die Stellung der astralen Wesen zu den Erdbewohnern ist eindeutig: wir sind für sie Wesen der niedrigsten Entwick-lungsstufe. Was sie auf der Erde sehen, ist seltsam und wenig erfeulich: „Die Menschen vernichteten nicht nur die weniger intelligenten Lebewesen auf der Erd-rinde, sie vernichteten sich sogar gegenseitig um der Nahrung willen. Und wenn ich auch nicht gesehen habe, daß sie sich gegenseitig auffraßen, so mußte ich doch sehen, wie sie in großen Horden zu Tausenden aufeinander losgingen und sich mit Schußwaffen und scharfen Eisenstücken die entsetzlichsten Wunden beibrachten, an denen die meisten nach kurzer Zeit starben."19 Ein Neptunwesen stellt fest: „Ich finde das irdische Menschenleben, obschon es sehr grob ist, durchaus nicht uninteressant."20 Die „große Revolution" bei den Mondbewohnern endet mit einem Sieg der Erdgegner; die Erde wird von der Forschung boykottiert, bis die Erdmenschen aufhören, das Weltall mit Kriegen zu schänden.21 Entsetzt ist der Pallasbewohner über die Ernährungsart der Menschen: „Diese nehmen die Nahrung durch den Mund auf, bis ihr Leib aufquillt, und das Furchtbarste war, daß sie andre Lebewesen töteten und zerhackten und dann stück- und kloßweise in ihren Mund steckten; im Munde hatten sie steinharte Zähne, mit denen sie alles zermalmten."22 Das Gelächter über unsere Art des Lebens und vor allem des Essens ist eine der tiefsten Quellen von Scheerbarts Träumen: „Peinlich berührt es mich immer, daß man sich auf dem Stern Erde in so lächerlicher Form .ernährt*. Das soll wohl nur eine Verspottung des Menschen sein. Und ich glaube, daß man später einmal Oblaten fabrizieren könnte, die uns alle Nahrungsstoffe in konzentriertester Form bieten. Reines Eiweiß haben wir doch schon. Bedauer-lich bleibt es ja immer, daß wir nicht einfach von Luft leben können. Aber — dieses Unbequeme hat doch wohl einen Grund: uns soll es nicht so gut gehen auf der Erdhaut, daß wir darüber die Existenz der andern Sterne vergessen."23

Scheerbarts Dichtung ist aber nicht etwa eine Satire auf die Zeit und die Zeit-genossen, er spottet nicht, sondern lacht frei aus der Tiefe einer unstillbaren Sehnsucht nach einer andern Welt. Das ist die Wurzel seines Spiels: „Merkwürdig ist doch, daß auf dem Stern Erde eigentlich Alles immer auf etwas sehr Komisches hinausläuft."24

In diesem Lachen weiß er sidi mit jener mythischen Gestalt einig, in die er alles hineinlegt, was ihm selbst das Spiel bedeutet, und die er aus hundertjährigem

19 Lesab&idio 16. 20 Astrale Novelletten 124. 21 Paul Scheerbart, Die große Revolution, Ein Mondroman, Leipzig 1902. 22 Lesabendio 16. 23 Paul Scheerbart, Das Perpetuum mobile, Die Geschichte einer Erfindung, 3. Aufl.

Leipzig 1910, 33; vgl. auch Paul Scheerbart, Münchhausen und Clarissa, Ein Berliner Roman, Berlin 1906, 58.

24 Perpetuum mobile 43.

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Schlaf wieder aufweckt: Münchhausen. Der sagenhafte Lügenbaron ist der Mittler zwischen den kosmischen Wundern neuer Welten und uns Erdbewohnern. Eine glühende Bewunderin, Gräfin Clarissa von Rabenstein, ruft ihn aus unbekannten Fernen herbei, damit er die Welt ändere: „Im vorigen Jahrhundert sind so viele Dinge umgekrempelt worden. Und so passen alle Menschen eigentlich nicht in unsre Zeit hinein. Der alte Münchhausen müßte kommen und die Menschen um-krempeln."25 Er erscheint, aber die Menschen wundern sich nicht einmal darüber, denn ein „bellender Stumpfsinn" beherrscht Europa: „Man könnte sich ja über all die maulaufsperrende Idiotie einfach schwach lachen — man könnte sich aber auch angegähnt vorkommen".26 Deshalb macht Münchhausen die Menschen Europas mit der Zukunft bekannt. Er verlangt in Paraphrasierung Nietzsches die „Um-krempelung aller Dinge"27 durch einen genialen Neuschaff enden: „Wie grandios ist es in der Erdrindennatur ausgesprochen, daß viele Billionen ,Kreaturen* ruhig qualvoll zugrunde gehen können, wenn nur ein einziger Neuschaffender ent-steht."28 Der Lügenbaron kämpft gegen das „ewige Nochmalmachen", das „ein etwas umständlicher Idiotenspaß der Erdrinde" is,t.29 Er ist der Neuschaffende, er vermag „das Andere" zu geben, „ob dieses Andere besser ist als das Bekannte — das ist mir ganz egal; wenns nur anders ist."30 Wie er einst seine Lügengesdiichten erzählte, so berichtet er nun in den sieben Wochentagen von „Münchhausen und Clarissa" von den Wundern der Weltausstellung in Melbourne als der ersten irdischen Verwirklichung kosmischer Träume. Er beschreibt die Wunderarchitektur, welche die kosmische Drehung auf die Erdoberfläche überträgt,31 „damit alle Lebewesen auf der Erdrinde immer wieder neue Bilder von der unendlichen Welt empfangen. Die Erde selbst will auch immer wieder neue Weltbilder empfangen — es geht doch so viel in der großen Welt vor."32 Er erzählt von der Linien-architektur elektrischer Lichtspiele und von der Automatisierung des Haushalts, unternimmt eine Reise ins Erdinnere, eine Fahrt zur Sonne und durch diese hindurch. Dabei entwickelt er erschreckend tiefsinnige Gedanken, etwa den, daß die Architekten die Tyrannen unserer Zeit seien und dem Menschen seinen Lebensstil, ja seine Weltanschauung aufzwängen33: das australische Haus erzeugt neue Gedanken in den Köpfen der Bewohner.34 Die Technik steht in Australien im Dienste der Kunst, durch chemische Parfüms wird den ganz stupiden Menschen eine „weltgestaltende Phantasiekraft" eingeimpft.35 Wie Frau Wanda Neumann

2 5 Mündihausen und Clarissa 8. Über Scheerbarts Mündihausen vgl. Werner Schweizer, Die Wandlungen Mündihausens, Leipzig 1931, 146 ff.

2 8 Münchhausen und Clarissa 10 f . 27 ebda. 2 8 ebda. 70. 29 ebda. 68. 3 0 Das große Licht 61. 31 Münchhausen und Clarissa 25. 3 2 Astrale Novel le t ten 124 f. 3 3 Münchhausen und Clarissa 34. 3 4 ebda. 42. 3 5 ebda. 44.

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im „Großen Licht"30 besitzen die Australier ein kosmisches Theater, in dem Werke aus andern Weltregionen aufgeführt werden.37 Ihrer Plastik kann nicht der unbeholfene Mensch als Modell dienen,38 sie steht über den scheinbaren Gegen-ständlichkeitsempfindungen, die dem Menschen nur durch fünf Sinne vermittelt werden, und stellt Wesen anderer Welten dar. Man kann zwar kein intimeres Verhältnis im Sinne von „Erinnerungen gemütlicher Art" zu diesen Werken bekommen, doch wird dieses durch andere Assoziationen aufgewogen, „die nicht gemütsartig sind und doch sehr scharf wirken — durch neue Gedankenreihen, die audi durch ihre Neuheit einen komplizierten Gefühlseindruck auslösen".39

Die Kunst darf eben nicht ängstlich sein: „Gerade die Ängstlichkeit sollte man sich in der Kunst abgewöhnen — wenn auch da und dort durch ein allzu lebhaftes Vorwärtsstürmen etwas zerstört wird — nur nicht ängstlich werden — das Zerstörte kann auch leicht wieder rekonstruiert werden."40 „Schaffen heißt für den Australiaten: Neues schaffen!"41

Das zweite Münchhausenbuch Scheerbarts, „Das große Licht", schwelgt in ähnlichen Phantasien aus außereuropäischen Ländern, die sich noch wundern und noch das Wunderbare verehren.42 Es erzählt vom Glasblumenzüchter Mr. Weller in Melbourne, der sich zu Geschäftszwecken eine nüchterne Europäerin als Kontrastfigur hält, von der Reise des Lügenbarons als Kugelstern ins Weltall, von Glasgärten, Perlmutter- und Glasstädten, von Luftforschern, Glasarchitekten und kosmischen Gespensternächten. Alles ist „immer anders als das Natürliche",43

denn, was anders ist, „bereichert uns".44 Münchhausen verkündet die Religion vom großen Licht: „Das große Licht macht den Menschen gut . . . Darum baut Glas-paläste . . . Das große Licht soll der Erlöser der Menschheit sein."45 Scheerbart hat diese Glasarchitektur auch sonst öfters gepriesen; eine Schrift „Glasarchitektur" ist im Sturm-Verlag erschienen,46 Architekten wie Bruno Taut haben sie geschätzt.47 Das geschlossenste Bild von ihr gibt der Damenroman „Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß".48 Der seltsame Titel entspringt dem Einfall, daß der Held des Buches, der Glasarchitekt Edgar Kurz, seine Frau unter der Bedingung heiratet, daß sie als Kontrast zu seinen Schöpfungen immer ein graues Kleid mit zehn Prozent Weiß trägt. Der Roman schildert dann das Bauen

3 8 Die kosmischen Postillione, Das große Licht 14 ff. 37 Münchhausen und Clarissa 45 f. 38 ebda. 51 ff. 39 ebda. 54 f. 4 0 ebda. 56. 4 1 ebda. 117. 4 2 Das große Licht 34. 4 3 ebda. 47. 4 4 ebda. 65. 4 5 ebda. 144. 4 6 Paul Scheerbart, Glasarchitektur in 111 Kapiteln, Berlin 1914. 4 7 Bruno Taut, Der Weltbaumeister, Architektur-Schauspiel für symphonische Musik,

Hagen i. "W. 1920, „Dem Geiste Paul Scheerbarts gewidmet". 4 8 Paul Scheerbart, Das graue Tuch und zehn Prozent "Weiß, München-Berlin 1914.

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dieses Glasarchitekten, von Chicago über die Fidschi-Inseln zum Südpol, von Borneo über Japan, vom Himalaya über Ceylon zum Aralsee, von den Kurian-Murian-Inseln über Babylon und Zypern nach Sardinien und auf die Isola Grande im Lago Maggiore. Holz gibt Behaglichkeit, aber „die Holzkiste ist nur eine Gewohnheitskiste",49 der Glasarchitekt liebt das schreiend Bunte: „Und doch ist alles sehr angenehm, wenn man von dem Bunten weiter absitzt. Es kommt also bei Farben und Tönen auf die Distanz an. Ich kann mir sogar ein Konzert mit Explosivstoffen denken; Schüsse können in der Ferne vielleicht sehr angenehm wirken. Idi bin ja so heftig für das Bunte — auch für das unferne Bunte — das sogenannte <unferne Bunte — eingenommen, daß ich meine Leidensdiaft maskieren muß."50 Nicht bewegt genug, nicht bunt genug kann es auf der Erde sein51: „Libellenflügel, Paradiesvögel, Leuchtkäfer, Liditfische, Orchideen, Muscheln, Perlen, Brillanten usw. usw. — alles das zusammen ist das Herrlichste auf der Erdoberfläche — und das finden wir alles in der Glasarchitektur wieder. Sie ist das Höchste — ein Kulcurgipfel.b2

Diese Skizzierung einiger Übergänge vom Kosmos zum Menschen muß unsere Erwartungen enttäuschen: wohl sind Erde und Mensch in das Spiel einbezogen, aber nur in fernen unbekannten Traumländern. Abgesehen von den Klagen über den europäischen Stumpfsinn ist auch hier das Spiel von allem Irdischen gelöst und darum ohne inner« Kraft. Leo Spitzer sagt einmal, zur Groteske gehöre nicht nur der Salto mortale ins Phantastische, sondern audi der feste Grund und Boden einer konkreten Wirklichkeit;53 an Scheerbarts astralen und astral-tellurischen Dichtungen erweist sich, daß ein reines Spiel ohne Wirklichkeit verpuffen muß. Scheerbarts astrale Wesen und Australier können nie über ihren Schöpfer Gewalt bekommen wie die Gestalten Mörikes, denn Scheerbart setzt weder sich noch den Menschen „aufs Spiel". Er baut sich in seinem Wortsandkasten neue Welten und wählt sich das Zwischenwesen Münchhausen zum Propheten. Dieser aber ist ein kindlich phantasiereicher Lügner. Sollten also die Zukunftsprophezeiungen nicht eintreffen, dann geschähe kein Unglück, dann wäre eben alles ein phantastisches Lügennetz des Barons, auf das man Scheerbart selbst nicht festlegen dürfte. Das Spiel bleibt unverpflichtend.

Deshalb fehlt in diesen Dichtungen das Leiden am eigenen Spiel. Clarissa von Rabenstein verzweifelt zwar über das Unverständnis der Menschen für die Melbourne-Kunst und über die stereotype Antwort der Künstler: „Wir möchten das ja so gerne entzückend finden. Aber wir verstehens doch nicht. Das geht uns zu weit. Wie gerne würden wir's begreifen wollen, wenn wir's nur könnten".54

Doch Münchhausen kann sie leidit auf eine verständnisvollere Zukunft ver-

4 9 ebda. 68. 5 0 ebda. 180 f. 51 ebda. 222. 6 2 ebda. 246. 6 3 Leo Spitzer, Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Christian Morgensterns,

Motiv und Wort, Leipzig 1918, 88. 6 4 Münchhausen und Clarissa 140 f.

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Das kosmische Spiel 81

trösten. N u r selten hören wir eine leise Selbstkritik, so wenn Flora Mohr aus Graudenz die Glasblumenzucht des Herrn Weller betrachtet und dazu bemerkt: „Wenn Sie glauben, daß mir diese Spielerei irgendwie imponieren könnte, so irren Sie sich gründlich. Wo ist denn hier das Leben? Sind diese Spielereien nicht einfach tot? Können Sie leugnen, daß sie tot sind? Und — ist es nicht immer wieder dasselbe, was man hier sieht? Immer nur Farben! Und immer nur wieder Formen!"55 Der Züchter gibt ihr beinahe recht: „Ich gebe zu, daß immer nur Farben und Formen kommen. Aber — ist es nicht ein bischen anspruchsvoll, wenn man immer gleich den Kern der Na tur entdecken w i l l ? . . .5e Aber ich, der ich neue Formen und Farben in ganz neuen Blumen geben will, werde so behandelt, als wenn ich alles Seelenleben dadurch vernichte. Rede nicht! Es ist so! Das macht die Gewohnheit! Als wenn ich nicht die genügende Begeisterung fü r die lebendigen Blumen der großen Na tu r habe! ob dieses Andere besser ist als das Bekannte — das ist mir ganz egal; wenns nur anders ist."57 Diese kindliche Selbstgenügsamkeit macht Scheerbart liebenswert, wenn auch sein Spiel oft außerhalb der Kunst steht. Das schönste Bekenntnis legt er Münchhausen in den Mund: „Mir war das Lachen niemals unangenehm, auch wenns nur wie ein Auslachen klang."5 8

Dieses Lachen hören wir in seinen Titeln: „Das graue Tuch oder zehn Prozent Weiß. Ein Damenroman", „Immer mutig! Ein phantastischer Ni lpferdroman", „Idi liebe dich! Ein Eisenbahnroman" und allen ähnlichen Uberschriften, in den Untertiteln „Angststück", „Sorgenvision", „Nervöses Capriccio", „Kosmoso-phisches Scherzo", „Gaunersilhouette", „Erlösungsburleske", „Ein Unauflösbares" usw., die er gewiß Jean Paul abgeschaut hat. Es ist die Quelle seiner skurrilen Einfälle: den Pallasbewohner nennt er Lesab£ndio; bei einem Licht- und Luftfest wird auf einer Vierziigturmorgel gespielt und bengalische Tiger werden bengalisch beleuchtet;59 ein reicher Chinese will die Häuser an Galgen aufhängen, um das Majolikaparkett , mit dem seine ganze Insel belegt ist, zu schonen;80 in Sibirien wird ein lebendiges Mastodon in einem Ballon entdeckt und gefangen; es wächst dann ins Überdimensionale, wird sieben Meter lang und schließlich nach seinem Tode in Spiritus gelegt usw.61 Auch das Lachen über sich selbst fehlt nicht, nicht von ungefähr tr i t t Scheerbart als Münchhausen auf und baut der Glasarchitekt für sich selbst kein Glashaus. Die äußere Misere des Dichters macht dieses Lachen groß. In ruhiger Heiterkeit stellt er ihr sein Glaubensbekenntnis entgegen: „Je größer die Verzweiflung — um so näher ist man den Göttern. Die Götter wollen uns zwingen, dem Grandiosen immer näher zu kommen. Und sie haben kein anderes Mittel zum Zwingen als die Misere. N u r in der Misere wachsen die großen Zukunftspläne."62 Selbst in „Perpetuum mobile. Die Geschichte einer

55 Das große Licht 49. 66 ebda. 59. 57 ebda. 61. 58 ebda. 152. 59 Das graue Tuch 105. 00 ebda. 136. 61 Das große Licht 99 ff. C1! Perpetuum mobile 5.

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Erfindung", wo er tagebuchartig von seiner Erfindung berichtet, überlegt er sich immer wieder, ob er dem Mensdien sdiade oder nütze, wenn er ihn durch sie vom Stumpfsinn der Arbeit83 erlöse und den Stern Erde für ihn arbeiten lasse,64 ob nicht die Kunst dadurch gefährdet wäre: „Fast möchte ich wünschen, daß das Rad nicht geht. Die Literatur wird durch das Nichtgehen des Rades mehr gefördert als durch das Gehen des Rades — das weiß ich ganz genau."®5

Manche von Scheerbarts Prophezeiungen sind in unserer Zeit in Erfüllung gegangen und besitzen darum für uns eine gewisse Aktualität. Seine Glas-architektur und seine Ernährungstabletten haben wir; der Luftkrieg seiner Flug-schrift „Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der euro-päischen Landheere, Festungen und Seeflotten"60 ist unser Grauen geworden. Manches hat er vorausgesehen, nichts davon hat er wirklich durchschaut. Scheer-barts Bücher sind keine wirklichen Prophezeiungen, er malt sich bloß richtig aus, was alles geschehen könnte, etwa in der Vision vom barbarischen General:

Im Jahr 2050 p. Chr. n. lebte im Lande Germania ein General, der bösartiger war als alle Generale seiner Zeit zusammen. Damals führten gerade die Europäer mit den Amerikanern einen großen Bomben-krieg. Es gab da viele Bombenerfolge für die allermodernste Kriegswissenschaft. Und trotzdem lebten die Amerikaner ruhig weiter. Dieses ärgerte natürlich den bösartigsten General seiner Zeit, der in Germania den Oberbefehl inne hatte. Was tat dieser Grausame, der den Namen Kuhlmann führte? Kuhlmann arbeitete einen Plan aus, der ganz Amerika überschwemmen sollte . . .β7

Vor soldien Gefahren schließt man natürlich sofort Frieden. Nach Scheerbarts Perpetuum mobile sind Vaterländer nicht mehr lebensfähig, der Militarismus hat nur noch Witzblattbedeutung, und Kuhlmann geht auf Vortragstournee nach Amerika. Ähnlich löst sich der Knoten in „Rakkox, der Billionär. Ein Protzen-roman",68 in dem der mehrfache Billionär die „Genies und Obergenies" der Erde in seinen Diensten hält und von einem seiner Obergenies, einem Wüterich voll tückischen Jähzorns, überwunden wird. Tyrannei des Geldes über den Geist, Mordlust der höchsten Genialität: alles ist angetönt, was zu den Gefahren unserer Zeit gehört; aber alles zerfließt. Den Propheten Scheerbart quält keine Zukunftsvision, er ist im tiefsten ahnungslos. Wie Wispel auf Orplid hält er das Schicksal unserer Zeit in Händen, doch dieses rinnt ihm zwischen den Fingern durch. So schwingt bei der Lektüre seiner Werke ein Grauen über seine Ahnungs-

6 3 ebda. 29. 64 ebda. 7. «5 ebda. 13. 66 Paul Scheerbart, Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der euro-

päischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten, Berlin 1909; teilweise abgedruckt in Aus-wahl Mumm 36 ff.

67 Perpetuum mobile 18. 68 Paul Scheerbart, Rakkox, der Billionär, Ein Protzenroman, Leipzig 1901; abgedruckt

in Auswahl Mumm 19 ff.

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losigkeit mit. Es ist falsch, wenn man Scheerbart wieder lebendig machen will, indem man wie Carl Mumm seine Aktualität betont:

Die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte ist nicht so reidi an kompromißlos freien Dichtern und Denkern, daß Kritiker und Leser es sich leisten können, an dem vorbeizusehen, was Scheerbart, einer von den wirklich Unbedingten, in seinen kulturkritischen und dichterischen Werken ausgesagt hat. Unter Verzicht auf den Versudi, die vielgestaltige Fülle seiner Phantasie aufzuzeigen, greift daher unsre Auswahl entschiedene Äußerungen dieses Dichterdenkers heraus, die in einem hohen Sinne dieses "Wortes .aktuell' sind. Sein prophetisch warnendes Pamphlet gegen den ,Luftmilitarismus' zeigt jedem Lernwilligen, wie nötig .Phantasten' sind, wenn es darum geht, das Kommende und Drohende zu prognostizieren. Es erschien im Jahre 1909 (!) M .

Man könnte höchstens sagen: Die Wirklichkeit hat den grauenhaften Kommentar zu Scheerbarts Spielen geschrieben.

Wir haben bis jetzt absichtlich nur von den astralen und astral-tellurischen Dichtungen Sdieerbarts gesprochen; denn in denjenigen, die sich stärker dem irdischen Leben und der Wirklichkeit nähern, tritt eine neue Seite an ihm zu-tage. Sie lassen uns ahnen, daß Scheerbarts Raketenflug in den Kosmos eine Flucht vor der Dämonie des Spiels bedeutet. Ansätze zu einem bedeutungs-volleren Spiel treten vereinzelt schon in den astralen Novellen auf. In der Welt-untergangsnovellette „Das kosmische Theater"70 führt das Zerschneiden der runden roten Kugel eines Edamer Käses einen Weltuntergang herbei, weil auch „die kleinsten Dinge verhängnisvoll in unser Leben"71 eingreifen können:

Das größte Geheimnis unsrer sichtbaren Welt ist jedenfalls das Gesellschaftsleben der Lebewesen untereinander. Die unzähligen Fäden, die die Sterne und die Bewohner der Sterne mit einander und mit den Sternen verbinden, bilden ein so kompliziertes Gewebe, daß unser Geist vorläufig noch nicht reich genug erscheint, dieses Gewebe stellenweise übersichtlich zu gliedern und geordnet vor uns erscheinen zu lassen. Das ist aber die Kardinalaufgabe unsrer Literatur.72

Justus vom Treckenbrock schneidet trotz den Warnungen seiner Frau Justina den Käse an; das kosmische Theater gerät in Brand; Justina stirbt und Just baut sein neues kosmisches Theater nicht mehr, sondern läßt die Weltkörper planlos umherliegen und verstauben.73 Hier gerät Scheerbart in die Nähe des Symbols, eine geheimnisvolle magische Beziehung zwischen den irdischen Dingen und dem Kosmos leuchtet auf, wie sonst nie bei ihm. Zweifellos ist „Das kosmische Theater" in seiner knappen Kürze die beste astral-tellurische Dichtung Scheerbarts. Wenn wir dem Zauber seines Lachens verfallen wollen, müssen wir uns ohnehin an seine kleinen und kleinsten Skizzen halten. In ihnen ist auch der Reiz seiner eigentümlich banalen Sprache am wirksamsten, welche die Trivialität sucht, um die Beziehungs-losigkeit seiner Welt zu der unsern sichtbar zu machen. In ihrer kindlichen Einfalt

69 Auswahl Mumm 15. 70 Astrale Novelletten 11 ff. 71 ebda. 13 f. 72 Münchhausen und Clarissa 129 f. 73 Astrale Novelletten 30.

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erinnert sie an die Bilder der Peintres nai'fs, aber auch an edit kindliche Erzäh-lungen. Die folgende Stelle könnte — abgesehen von den Fremdwörtern — von einem Kinde stammen:

Und auf der Spitze des Kinibalo sah man den großartigen Sternenhimmel. Alle Sterne leuchteten ganz klar auf dem dunklen Himmelsgrunde. Und die Sterne spiegelten sich in den Fluten des Ozeans, der wie eine große Schüssel sich nach allen Seiten aufreckte. Ein paar Aeroplane fuhren mit Scheinwerfern durch den Nachthimmel. Es war sehr still oben auf dem Berge; von der Meeresbrandung hörte man nicht einen Ton. Frau Clara fröstelte, und ihr Gatte hing ihr ein großes Tuch um und ließ ihr ein Glas Grog bringen. Die Herren tranken ebenfalls Grog auf Frau Claras Wohl. Man saß bis Mitternacht oben in dem großen Spitzenlokal. Nur bunte Laternen leuditeten da oben und die Sterne des Himmels. Der Mond ließ sich nicht sehen. Meteore zogen in Parabelbahnen durch den Sternenhimmel. Am Horizonte strahlte die Venus.74

Niemand kann sich nach einigem Einlesen ganz dem Zauber dieser naiven Sprech-weise entziehen.

„Ich liebe Dich! Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermezzos" ist die Geschichte der Flucht vor der Erotik, eine Eisenbahnfahrt Scheerharts mit dem Rechtsanwalt Müller von Berlin nach Nowaja Semlja, in die er 66 Skizzen einflicht, darunter die Lautdichtung „Kikakoku! Ekoralaps!".75 Die Erotik ist das Reich der ewigen Qual,70 das Reich der „Fleischermeisterphantasie"77 der modernen Dichter, auf die es böse Hiebe regnet. Scheerbarts „Ich liebe Dich" ist an den Weltgeist gerichtet. Auch „Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferdroman mit dreiundachtzig merkwürdigen Geschichten", die er sieben Nilpferden — ehemaligen ägyptischen Königen — erzählt, preist das „Sternenglück statt Spießerglüdc"78 und ist für Leute bestimmt, die noch nicht ganz tot sind, die sich noch wundern können. Bei beiden Romanen fällt jedoch auf, daß sie eine Fülle von Angstvisionen enthalten. Scheerbart erschrickt plötzlich vor seinem Lachen, und dieses verzerrt sich zur Grimasse. Er ist nicht mehr völlig Herr über seine Geschöpfe, die ihn als „lächerlichen thranköpfigen Herrn und Meister"79 anbeten; sie beginnen sich von ihm zu lösen. Aus der Freude an Buntheit wächst der „Dämon des Glanz-rausches" mit tiefblauen Flügeln, tiefschwarzem Körper und elfenbeinweißem Kopf; „seine rothen Feueraugen brennen durch die Dämmerung",80 wie er unheimlich dicht unter dem Himmel liegt. Die Sterne beginnen den Dichter aus-

71 Das graue Tuch 83 f. 75 Ich liebe Dich 248 f. 76 ebda. 117 ff.; vgl. auch 13 f., 54, 72, 151 ff., 166 ff., 210 f f . 77 ebda. 121. 78 Paul Scheerbart, Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferderoman mit dreiund-

.achtzig merkwürdigen Geschichten, Minden i. W. 1902, I 38. 79 ebda. II 211. 80 Ich liebe Dich 21.

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Das kosmische Spiel 85

zulachen; sie „lachten im Chor so schrecklich laut und so gräßlich höhnisch, daß ich verrückt zu werden glaubte",81 oder Scheerbart flieht in entsetzlicher Pein vor einem grauenhaften Tier.82 Die Welt gerät aus den Fugen; etwas ist beim Spiel schief gegangen, wie im „Romantischen Symbolistengesang" die überraschende Wendung des Schlusses verrät:

Da tönten von allen Bergen So seltsam und wunderschön Die Lieder von tausend Zwergen, Die nie ein Mensch gesehn.

Es klang wie ein alter Reigen Wohl über Feld und Thal. Dann aber begann ein Schweigen, Das erfüllte das ganze All.

Wir standen und sahen träumend Die Berge und Zwerge an. Das Bächlein aber lief schäumend Plötzlich zum Himmel hinan.83

Plötzlich ist etwas in den Bildern ver-rückt, und eine Stimme spricht: „,Die Kunst, die Du erträumtest, ist immer tot. Die Paläste haben kein Leben. Bäume leben — Tiere leben — aber Paläste leben nicht.' ,Demnach', versetz' ich, ,will ich das Tote!' Jawohl!' hör' ich rufen — aber ich weiß nicht, wer das sagt. ,Ich wollte die Ruhe — den Frieden!' schrei' ich wild in grausigem Ekel."84 Scheerbarts kosmische Planetenwunder platzen als Kometen über der Erde und säen dem Leben Untergang, bloß ein bestaubter Erdball dreht sich allein weiter.85 Das Lachen wird zum tödlichen Lachen: seine Freundin Elogifana gibt ihm ein Fläsch-chen voll herrlichsten Gelächters, und er trinkt jeden Tag dreimal daraus, obwohl er weiß, daß er sterben muß, wenn die Flasche leer ist.86 Sdheerbart muß Ge-lächter trinken, obwohl er weiß, daß er sich an seinem Gelächter verzehrt, daß er — wie in einer andern Skizze dargestellt ist — seine eigene giftige Tinte trinken muß, bis sein Ich entzweiplatzt.87 So fällt auch er einen Augenblick lang aus der Welt des Spiels hinaus in Grauen und Müdigkeit: „Alles ist bloß ein Schatten-spiel". — „Kann man's sehr geistreich nennen, wenn uns die Welt immer bloß als ein müßiges Spiel erscheint?" — „Schließlich ist mir Alles ganz egal. Und das macht mich nicht heiter."88

Die schwarze Nacht durchschritt die Welt Und die schwarze Nacht zertrat Alles,

was licht erglänzte.

81 ebda. 33. 82 ebda. 40 ff. (Angststück). 8 3 ebda. 71. 84 Immer mutig I 107. 85 ebda. 56 ff. 8β Ich liebe Dich 47 ff. 87 Immer mutig II 53 ff. 88 ebda. I 189.

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86 Die geistigen Grundlagen des Spiels

Ich warf mich der schwarzen Nacht wüthend entgegen und wollte mit ihr kämpfen.

Aber die schwarze Nacht zertrat auch mich.89

Scheerbart wird der astralen Dichtung müde:

Weiß nicht, aber ich glaube doch, Daß die Welt ein faules Loch, Drinn die vielen großen Sterne Nichts als Phosphorschimmer sind.

Lieblich tönt, ja das weiß ich schon, Nur ein toller Weltenhohn. Freundlich wären wir so gerne . . . Aber lacht denn noch ein Kind?

Wundersam, ja nun glaub' ich fast: Uns zerklemmt die Weltlochlast. Ach, die vielen großen Sterne Sind verweht wie müder Wind.80

„Und dann fallen alle meine tiefphilosophischen Theorien wie Kartenhäuser durcheinander — und ich kann wieder in wüstester Gesellschaft im Unsinn sdiwelgen — und kann mir tausend Frauen kaufen wie König Salomo — und kann wie mancher andre Prophet blödsinnig konstatiren, daß Alles — Alles Unsinn ist."9 1 Übrig bleiben der Unsinn und die Einsamkeit. Rettung aus dieser Verzweiflung gewährt nur der T r a u m vom Kind und dessen Lachen:

In dieser Nacht sah ich ein Kind, Das lachte mich an. Es hat das Lachen in dieser Nacht Mir wohlgethan. Über die Haide wogten Große bläuliche Flammen, Die haben den Himmel ganz hell gemacht, Dazu hat das Kind noch viel mehr gelacht, Uber die bläulichen Flammen.®2

Noch einen Erlöser aus Einsamkeit und Leere kennt er freilich: den Alkohol.

Weißt Du, wie es kommt, Daß die Menschen so viel trinken? Daß sie dabei oft versinken? Weißt Du, wie es kommt? Hör's! Ich weiß es ganz genau: Wir, die wahren großen Menschen, Sind vom Stamm der großen Löwen, Die da immer einsam leben Und sich ledern in Gesellschaft — Wir, die wahren großen Menschen,

89 Ich liebe Dich 204. 9 0 ebda. 171. 9 1 ebda. 274. 9 2 ebda. 157.

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Das kosmische Spiel 87

Sehn uns aber viel zu häufig! Müssen drum gewaltig trinken! Könnten uns sonst nie ertragen.93

In dieser Stimmung entsteht Alkohol- und Katerpoesie v o n der A r t :

Putz mir meine Krone, Denn ich will spazieren gehn! Sei mein Leibhurone! Aller Welt zum Hohne Gehn wir auf den kleinen Zehn. Putz mir meine Krone! Putz sie mir recht blank! Kriegst auch eine Feder Und ein Ei zum Dank — 9 4

Darin aber ist schon Mörike Scheerbart vorangegangen:

Einmal nach einer lustigen Nacht War ich am Morgen seltsam aufgewacht: Durst, Wasserscheu, ungleich Geblüt, Dabei gerührt und weichlich im Gemüt, Beinah' poetisch, ja, ich bat die Muse um ein Lied. Sie, mit verstelltem Pathos spottet' mein, Gab mir den schnöden Bafel ein:

,Es schlagt eine Nachtigall Am Wasserfall; Und ein Vogel ebenfalls, Der schreibt sich Wendehals, Johann Jakob Wendehals; Der tut tanzen Bei den Pflanzen Obbemeld'ten Wasserfalls —

So ging es fort; mir wurde immer bänger, Jetzt sprang ich auf: zum Wein! Der war denn audi mein Retter. — Merkt's euch, ihr thränenreichen Sänger Im Katzenjammer ruft man — keine Götter.9 5

Mörike hängt seinem Katzenjammer noch das Mäntelchen literarisdier Satire um, in Scheerbarts „Katerpoesie" 9 8 tritt das Elend unverhüllt auf. Die Spielwelt ist zusammengebrochen; alles ist Unsinn, „Delirium! D e l i r i u m ! " :

Alte Knaben sitzen auf den leersten Tonnen, Und die Nädite siegen über alle Sonnen. Hinten nagen unsichtbare weiße Mäuse An dem bös zerbeulten großen Hirngehäuse. Hör doch, wie die ganze Schädelhöhle quarrt! Ist die alte Rinde »wirklich* nodi so hart? Alles geht zu Ende — audi der dickste Kopf ! Ach, die weißen Mäuse haben dich am Schöpf!

9 5 ebda. 292. 9 4 ebda. 140. 9 5 W e r k e l 222 f. (Warnung). 9 6 Paul Scheerbart, Katerpoesie, hier zitiert nach 2.—4. Aufl. Berlin o. J .

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88 Die geistigen Grundlagen des Spiels

Glaubst du, Läuse sitzen bloß in deinem Puder? Nein, du bist ein unverschämtes dummes Luder, Und die Frechheit kommt in erster Reihe ran.97

Wut und Verzweiflung schreit aus jedem dieser Katerlieder:

Reimerei und Schweinerei! Mir ist alles einerlei! Alte Katzen sind nicht blöde. Aber jene Untermenschen, Die ich täglich braten möchte, Machen mir die Welt so öde. Mir ist alles einerlei!

Mensch sei frei!98

ο ο ο

Reich mir meine Platzpatronen, Denn mich packt die Raserei! Keinen Menschen will ich schonen, Alles schlag ich jetzt entzwei. Hunderttausend Köpfe reiß ich Heute nodi von ihrem Rumpf! Hei! Das wilde Morden preis ich, Denn das ist der letzte Trumpf!

Welt, verschrumpf!"

Aus dieser höchsten Verzweiflung wächst das Lachen dessen, der „aus Wut sogar Humorist geworden ist, nicht aus Liebenswürdigkeit".1 0 0 Die Maske der fröhlichen Betrunkenheit fällt:

Die Maske der Betrunkenheit hab ich nun abgelegt! Ich bin allein — und tue, was ich wollte. Wer jemals über Albernes sich kindlich aufgeregt, Der weiß nun endlich, daß ich stets ihm grollte. Ich lächle nur und lächle immer wieder — wieder! Mir hängt die Luft voll kreischend-toller Jubellieder!101

Noch einmal versucht Scheerbart sich aus der Verstrickung der Finsternis zu lösen:

So nehm' ich denn die Finsternis Und balle sie zusammen Und werfe sie, so weit ich kann, Bis in die großen Flammen, Die i<h noch nicht gesehen habe Und die doch da sind — irgendwo Lichterloh . . ,102

Noch einmal beschreitet er den Weg zur astralen Dichtung, zum Kosmos:

9 7 Delirium! Delirium! Katerpoesie 8. 9 8 ebda. 19. 9 9 Donnerkarl der Schreckliche, ebda. 29. 1 0 0 Rakkox, der Billionär, Auswahl Mumm 27. 1 0 1 Ermitage, Katerpoesie 33. 1 0 2 Die großen Flammen, ebda. 43.

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Das kosmische Spiel 89

Eine wilde Fratze Muß ich schneiden, Denn dies Leben Macht mir keinen Spaß. O, ich möchte nur Ein altes Rabenaas Mit verrückter Wollust In zehntausend Stücke reißen, Und dann möcht ich Hübsche Mädchenköpfe Balsamieren mit verfaultem Tran Oder andrer ekler Flüssigkeit. Und dann möcht ich In den Himmel springen Und die Sterne fressen Und zuletzt: Den ganzen Lebensunsinn Ohne weiteres vergessen Und als Ätherwolke Traumlos weiterschweben. Dieses glaub ich, wird mir Noch einmal gelingen.103

Doch nein, die Auffahrt mißglückt und läßt ihm nur Sehnsucht und Alkohol zurück:

Wenn die große Sehnsucht wieder kommt, Wird mein ganzes Wesen wieder weich. Und ich möchte weinend niedersinken — Und dann möcht ich wieder maßlos trinken.104

In den astralen und astral-tellurischen Dichtungen schwebt Scheerbart empor, aber um den Preis der dichterischen Kraft, die sich in unverpflichtendes Spiel auflöst; aus der Verzweiflung am Irdischen aber entfalten sich die schönsten Blüten seiner Erzählkunst, die kleinen Skizzen von „Ich liebe Dich!" und „Immer mutig!", in denen der Dichter versucht, sich wieder in die Spielwelt hineinzufinden. Eigent-liche Wispeliaden entstehen, die von Mörike stammen könnten:

Kühn Eine Morgenstudie

Ich wandelte gedankenvoll durch die große Stube, dachte an die alten Götter der alten Indianer, an ihre Tempel und an ihre Liebesopfer . . .

Da sperrt' ich den Mund zu weit auf. Und was geschah da? Eine Fliege flog mir in meinen Mund. Unglaublich! Aber wahr! Ich dachte lange Zeit darüber nach, was das wohl

zu bedeuten haben könnte.

103 Ingrimm, ebda. 47 f. 104 Die große Sehnsucht, ebda. 9.

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90 Die geistigen Grundlagen des Spiels

Indes den Rebus löst' ich nicht. Kühn war die Fliege. Sie starb in meinem Rachen.105

Die Butterblume

Eine große gelbe Butterblume wuchs in den blauen Himmel hinein und leuchtete wie eine große gelbe Sonne. Die gelben Blütenblätter glänzten und kräuselten sich. Und in den Blütenblättern bauten Störche mit langen roten Schnäbeln und langen roten Beinen ihre Nester. Und die Störche flogen täglich mit ihren langen weiß und schwarz gefärbten Flügeln um die große gelbe Butterblume rum.

Die Butterblume wurde nicht welk, und die Störche wurden nicht krank.

Im blauen Himmel leuchtete die gelbe glänzende Butter-blume wie eine große gelbe Sonne.

Die Menschen schauten das Wunder an. Es war aber gar kein Wunder —

es war nur ein lächerliches Symbol.106

Die gebratene Flunder Tanz-Poem der .tiefen' Richtung

Die gebratene Flunder sitzt auf dem gelbseidenen Familiensopha und sinnt — sinnt lange.

Plötzlich springt sie auf und schaut den heiligen Nepomuk, der sich im Schaukelstuhl ein bischen schaukelt, durchdringend an.

Dann ruft sie, während sie auf ihrem knusprigen Schwänze in der Stube herumhopst:

,Nepomuk, Du solltest Kaiser von Pangermanien werden — wahrhaftig! wirklich!'

,Du hast wohl', erwidert Nepomuk, ,zu viel gebratne Butter im Kopp!'

Die gebratne Flunder springt auf den Tisch und singt die Marseillaise.

Da wird der heilige Nepomuk wüthend und schlägt mit der Faust auf den Tisch.

Was geschieht? Die Lampe fällt runter und explodirt. Alles verbrennt und stirbt. Die Asche giebt kein einziges Lebenszeichen von sich. Hieraus erkennt man wieder, wieviel der Zorn zerstören kann.1 0 7

Wenn man mit Schlagworten späterer Zeit operieren will, kann man das Surrealis-mus nennen; H a n s Arp, der einzige deutsche dadaistische Surrealist, ist ja auch zweifellos von Scheerbart beeinflußt. Aber eine solche Bezeichnung ist sinnlos, Scheerbart ist ebensosehr ein Nachläufer Wispels. Seine berauschte Kegeische Weltgeistliebe könnte auch aus der Trunkenheitspoesie von Heines „Im H a f e n " herrühren:

1 0 5 Ich liebe Dich 69. 1 0 6 Immer mutig II 65 f.

Ich liebe Dich 129 f.

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Das kosmische Spiel 91

Du braver Kellermeister von Bremen! Siehst du, auf den Dächern der Häuser sitzen Die Engel und sind betrunken und singen, Die glühende Sonne dort oben Ist nur eine rote betrunkne Nase, Und um die rote Weltgeistnase Dreht sich die ganze, betrunkne Welt.108

Die Formen des Spiels sind eben an kein modisches Sdilagwort gebunden. Die Lautdichtungen109 und die Flundergesdiichte machen einen Einfluß auf Morgen-stern wahrscheinlich; diie Katerpoesien leben mit Versen wie

Meine ganze Welt ist kantig, Und die Bäume sind verrückt. Sage, Wilhelm, sage Sauhirt, Warum gehst du so gebückt?110

in den Gedichten von Joachim Ringelnatz weiter. Aber nicht das ist der eigentliche Reiz Scheerbarts, daß er manchem Vorbild

und Vorläufer war, denn im Vergleich zu seinen Nachfolgern wirken die astralen Visionen bürgerlich harmlos. Er liegt darin, daß er dort, wo ihm die Flucht in den Kosmos nicht gelingt, unvermutet in die Dämonie des Spiels gerät und sich dann auch der geheimnisvollen Region nähert, wo sich seine Formen mit denen der Unsinnspoesie anderer Weltgefühle vereinigen. Sein „Meerglück" steht unerwartet in der Nähe von Mailands „Un Coup de D^s jamais n'abolira le Hasard":

Das alte Meer tobt. Und langsam steigen aus den schäumenden Wogen Geister

heraus — maßlos riesige Geister! Mit wildem Trotz kommen sie höher und höher. Ihre Fäuste sind geballt. Sie drohen mit ihren geballten Fäusten. Und plötzlich schlagen sie mit ihren Fäusten aufs tobende Meer,

daß die schäumenden Wasser hoch aufspritzen — bis an die Sterne. Unergründliche smaragdgrüne Augen starren aus den

Geisterköpfen heraus — in die Welt hinein. Verzehrende Wehmut und maßloser Zorn kreischt — in diesen

grünen Augen. Das alte Meer tobt. Und langsam taudien die Geister des Meeres wieder hinab —

ins alte kalte Wogenbett. Gurgelnd schließt sich das Wasser über den haarigen Köpfen,

in denen die smaragdgrünen Augen verlöschen. Und wieder tobt das Meer — einsam — einsam — und groß!111

„Ich träume eigentlich zu allen Zeiten — auch mit offenen Augen am hellen lich-ten Tage. Sehr oft spiele ich mit den Sternen, klebe dem Monde lange Ohren an

108 Heine, Stle. Werke ed. Walzel, Leipzig 1911—15, I 225. 109 Kikakoku! Ekoralips! Ich liebe Dich 248; Monolog des verrückten Mastodons, Im-

mer mutig II 85 f. 110 Katerpoesie 13. 111 Immer mutig I 132 f.

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92 Die geistigen Grundlagen des Spiels

und knipse der Sonne die Nase ab, verspeise ein paar Kometen und reiße die Milchstraße entzwei."112 Ist das nidit das Weltgefühl des Sichern Mannes?

In einer Zeit, die das freie Lachen und Träumen verlernt hat, blicken wir mit Sehnsucht und Trauer auf ein solches Spiel zurück. Die Einheit seines Lebens, Dichtens und Denkens macht uns Scheerbart liebenswert. Schon in einer seiner ersten Schriften hat er ihr mit einem einfachen programmatischen Gedicht Ausdruck gegeben:

Laß die Erde! Laß die Erde! Laß sie liegen, bis sie fault! Uber schwarze Wiesentriften Fliegen große Purpurengel, Ihre Scharlachlocken leuchten

In dem grünen Himmel Meiner Welt.

Laß die Erde! Laß die Erde! Laßt sie schlafen, bis sie fault! Über weißen Bernsteinkuppeln Flattern blaue Turteltauben, Ihre Saphirflügel flimmern

In den grünen Himmel Meiner Welt.

Laßt die Erde! Laßt die Erde! Laßt sie, laßt sie, bis sie fault! Uber goldnen Sdiaumgewässern Spielen zahme Silberfische, Ihre langen Flossen zittern

In den grünen Himmel Meiner Welt.

Haßt die Erde! Haßt die Erde!113

112 ebda. 207. 113 Paul Scheerbart, Ja . . . was . . . möchten wir nicht Alles! Ein Wunderfabelbudi, Erstes

Heft, Berlin 1893, 3.

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3. D A S G Ö T T L I C H E S P I E L

Gilbert Keith Chesterton

Zu Mörikes dämonischem und Scheerbarts kosmischcm gesellt sich das im

Religiösen v e r w u r z e l t e Spiel G . K . Chestertons. E r ist elf J a h r e jünger als Scheer-

b a r t und h a t ihn u m vol le e inundzwanzig J a h r e überlebt . I n vielem sind sie

Zeitgenossen und sich innerlich ähnlich — an den P h o t o g r a p h i e n läßt sich sogar

eine gewisse äußere Ähnlichkeit feststellen.1 A b e r es ist, w i e wenn die N a t u r mi t

Scheerbart e twas versucht hät te , was ihr erst in C h e s t e r t o n gelang : einen Menschen

sein ganzes Lehen lang glückliches K i n d bleiben zu lassen.

Chester ton h a t nie astrale Dichtungen geschrieben, aber er ha t in k n a p p e n

Z ü g e n eine Vision dieser Dichtung hingeworfen, die alles, was Scheerbart p h a n t a -

siert, zu E n d e spielt :

Ein einziges Gedicht oder eine einzige, von dem Kopernikanischen Gedanken wirk-lich durchdrungene Geschichte wäre ein wahrer Alp. Können wir uns eine Bergland-schaft in feierlicher Stille und einen in Verzückung emporblickenden Propheten ver-anschaulichen und gleichzeitig uns vergegenwärtigen, daß dies alles mit höchster Geschwindigkeit wie ein Kreisel im Herumschwirren begriffen ist? Können wir uns einen mächtigen König vorstellen, der einen wichtigen Beschluß verkündet und zugleich eingedenk ist, daß er tatsächlich mit dem K o p f nach unten in den leeren Raum hinausragt? Es ließe sich eine gar seltsame Fabel von einem Mann erdichten, der, mit den Augen des Kopernikus gesegnet oder verflucht, alle Menschen auf der Erde als einem Magneten zustrebende Eisenstäbe sähe. Es wäre kurios, sich vor-zustellen, wie sehr verschieden eine aggressive Rede über die Selbstherrlichkeit und Göttlichkeit des Menschen erklänge, wenn man ihn zugleich mit seinen Schuhsohlen am Planeten hängen sähe . . .2 „Du hast die Welt auf nichts gebaut", sagt der Ver-fasser des Buches Hiob, und in diesem Ausspruch ist die ganze furditbare Poesie der modernen Astronomie enthalten. Das Gefühl, daß sie von einem Moment zum andern zerstört werden kann, wird uns durch die runde und sich drehende Erde auf das mächtigste zum Bewußtsein gebracht . . .3

In früheren Zeiten folgte der Entdeckung einer naturgeschichtlichen Tatsache sofort deren Vergegenwärtigung als einer poetischen Tatsache. Als der Mensch zu seinem wahren Bewußtsein erwachte und zu erkennen anfing, daß der Himmel blau und das Gras grün ist, wurde ihm diese Erkenntnis alsbald zum Symbol . . . Infolge irgendeines geheimnisvollen Grundes fand diese Gewohnheit, wissenschaftliche T a t -sachen ins Poetische umzusetzen, mit dem Fortschritt der Wissenschaft ein plötzliches Ende, und all die überwältigenden Verkündigungen, die ein Galilei und ein Newton

1 vgl. G. K . Chesterton, Der Mann mit dem goldenen Schlüssel, Freiburg 1952, Fron-tispiz, mit Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit, Leipzig 1911, 583.

2 G. K. Chesterton, Verteidigung, Ölten 1945, 64 f . Im folgenden sind alle Schriften Chestertons, für die eine erträgliche Übersetzung vorliegt, in dieser zitiert (oft mit kleinen Verbesserungen nach dem englischen Original) , die andern nach dem Original von mir übersetzt.

3 Verteidigung 65.

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94 Die geistigen Grundlagen des Spiels

verkündeten, klangen an taube Ohren. Und dennoch malten sie eine Welt, mit der verglichen die Apokalypse mit ihren niederstürzenden Sternen die reine Idylle war. Sie stellten fest, daß alle, an eine Kanonenkugel geklammert, im Saus durch den leeren Raum dahinwirbeln; und die Dichter ignorierten dies, als wäre es eine Bemerkung über das Wetter. Sie teilten mit, daß eine unsichtbare Macht uns in unsre Lehnstühle bannt, während die Erde in heftigsten Schwingungen dahinbraust wie ein Wurfgeschoß; . . . zu welchen hohen dichterischen Schilderungen würden wir es nicht gebracht haben, wenn wir die Naturgeschichte audi weiterhin poetisch verwertet hätten, und die menschliche Phantasie mit den Planeten ein ebenso natür-liches Spiel getrieben hätte wie zuvor mit den Blumen! Es wäre uns ein planetarer Patriotismus entstanden, in dem das grüne Blatt die Rolle der Kokarde übernommen hätte, und die See zur immerwirbelnden Trommel geworden wäre. Wir würden stolz sein auf alle Phasen, durch welche unser Planet sich emporrang, und würden sein Banner in dem blinden Turnier der Sphären pietätvoll aufrechterhalten. Dies alles können wir ja jederzeit noch tun; denn bei all unserem angehäuften Wissen ist doch eins, was zum Glück keiner weiß: ob die Welt alt ist oder jung.4

Spiel mit Planeten wie mit Blumen ist Scheerbarts Dichtung. Doch mit welch heiterer Überlegenheit und welch saftigem Spott malt Chesterton das alles aus und führt es schließlich ad absurdum! Die Kraft Chestertons verliert sich im Gegensatz zu der Scheerbarts nie in Phantasien von irgendwelchen Welten; er steht mit beiden Beinen fest auf der Erde ; seine Kraft wächst aus dem Menschen und aus der Kindlichkeit des Menschen. Chesterton selbst wäre der letzte, der diese Wurzel seines Wesens nicht gekannt hätte. So steht seine kurz nach dem Tode erschienene Autobiographie unter dem Symbol des Mannes mit dem goldenen Schlüssel,5 einer Figur aus dem Puppentheater, die in seiner Erinnerung „wie ein Schimmer aus einem unwahrscheinlichen Paradies"® glüht:

Das Wundervolle an der Kindheit ist, daß alles in ihr ein Wunder war. Sie war nidit nur eine Welt voller Wunder, sie war eine Wunderwelt. Fast alles, woran ich midi wirklich erinnere, fügt mir diesen Schock zu, nicht jene Dinge, die ich für würdig geachtet hätte, midi ihrer zu erinnern. Dies ist es, worin sidi die Kindheit von der andern großen Erschütterung der Vergangenheit unterscheidet, nämlich von allem, was mit der ersten Liebe und der romantischen Leidenschaft verknüpft ist; denn dieses sticht zwar ebenso, trifft aber immer nur auf einen einzigen Punkt und ist schmal wie ein Stoßdegen, der das Herz durchbohrt, während das andere eher hundert Fenstern glich, die auf allen Seiten des Kopfes offenstanden . . .7 Unter Nr. 999 des ungeheuren Verzeichnisses der Bücher, die ich nie geschrieben habe (die alle soviel glänzender sind als die Bücher, die ich geschrieben), findet sich die Geschichte von einem erfolgreichen Großstadtmenschen, der ein dunkles Geheimnis in seinem Leben zu haben schien und von dem die Detektive schließlich heraus-brachten, daß er noch mit Puppen oder Zinnsoldaten oder sonst einer albernen

4 ebda. 66 ff. 5 vgl. auch Mrs. Cecil Chesterton, The Chestertons, London Chapman & Hall 1941;

Maisie Ward, G. K. Chesterton, London-New York Sheed & Ward 1944 (deutsch: Regens-burg 1956); Michael Mason, The Centre of Hilarity, New York Sheed & Ward I960, 168 ff.; Garry Wills, Chesterton, Man and Mask, New York Sheed & Ward 1961; Biblio-graphie: John Sullivan, G. K. Chesterton, A Bibliography, London University of London Press 1958.

6 Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 27. 7 ebda. 34 f.

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Das göttliche Spiel 95

Kinderei spielte. Ich möchte bei aller Bescheidenheit sagen, daß ich ganz und gar dieser Mann bin, abgesehen von der Gediegenheit seines Rufes und seiner erfolg-reichen kaufmännischen Laufbahn. Es trifft dies vielleicht in diesem Sinne noch mehr auf meinen Vater zu als auf mich, denn, was midi angeht, so habe ich nie zu spielen aufgehört, und ich wünschte, ich hätte mehr Zeit dazu. Ich wünschte, wir müßten unsere Zeit nicht mit albernen Dingen wie mit Vorträgen und mit Literatur vergeuden, — die Zeit, die wir auf ernste, solide und konstruktive Arbeit verwenden könnten, etwa Pappfiguren auszuschneiden und mit bunten Füttern zu bekleben . . .8

Entscheidend ist, daß ich das Puppentheater liebte, selbst als ich wußte, daß es ein Puppentheater war. Ich liebte die Pappdeckelfiguren auch dann noch, als ich heraus-fand, daß sie von Pappdeckel waren.·

Zahllos sind die Anekdoten, die sich um Chestertons „türrahmenfüllende" Gestalt schlingen, v o n der er selbst sagt, daß sich die Gassenjungen an ihr belustig-ten, weil sie unbewußt den Maßstab griechischer Bildhauer anlegten und an die Marmorstatue Apollos dächten.1 0 Die schönsten Geschichten sind aber die, welche er selbst erzählt . 1 1 Rührend ist seine Hilflosigkeit: so schickt er einmal seiner F r a u das Telegramm: „Bin in Market Harborough. W o müßte ich sein?" ' 2

Chesterton ist kein eigentlicher Dichter; er selbst hat sich einen Journalisten genannt. Doch erhält dieses W o r t durch ihn den Klang wieder, den es als „Schrift-steller" in der Aufklärung besitzt. E r reiht sich würdig an jene lange Liste von Namen, die der englischen Literatur in dieser Befciehung eine eigene G r ö ß e geben. E r ist ein Mensch, der alle Möglichkeiten menschlichen Ausdrucks in den Dienst einer großen Idee stellt. Sein ganzes Lebenswerk ist der Bewahrung der Kindlich-keit gewidmet; er ist ihr Polemiker gegen eine Welt, die sie verloren hat :

Die zwei Dinge, die beinahe jeden normalen Menschen bei Kindern anziehen, sind: erstens, daß sie sehr ernst, und zweitens, daß sie infolgedessen sehr glücklich sind. Sie sind so restlos lustig, wie es nur möglich ist, wenn der Humor aus dem Spiel bleibt. Die unergründlichsten Schulen und weise Männer haben niemals die Tiefe erreicht, die in den Augen eines drei Monate alten Kindes wohnt. Es ist die Tiefe des Staunens über die Welt, und Staunen über die Welt ist nicht Mystizismus, sondern verklärter Menschenverstand. Darin liegt das Berückende an Kindern, daß mit jedem von ihnen alle Dinge neu erschaffen werden und daß das Weltall auf die Probe gestellt wird . . .13 Der komische Anblick der Kinder ist vielleicht das teuerste aller Bande, die den Kosmos zusammenhalten. Ihre schwerköpfige Würde ist rührender als die Demut; ihre Tiefe gibt uns mehr Hoffnung zu allem als tausend Karnevale des Optimismus; ihre großen und glänzenden Augen scheinen in ihrem Staunen alle Sterne zu enthalten; die bezaubernde Abwesenheit ihrer Nase scheint uns der deutlichste Hinweis auf die Freude, die unser im Himmelreich harrt.14

8 ebda. 42. 9 ebda. 47. 1 0 Orthodoxie, Das Abenteuer des Glaubens, Ölten o. J . , 69. 1 1 vgl. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel bes. 33, 165 f. 1 2 ebda. 356; einige Briefe Chestertons in: G. K . Chesterton, An Anthology, Selected

with an Introduction by Lewis D. B. Wyndham, The World's Classics 554, London Oxford UP 1957.

1 3 Verteidigung 151. 1 4 ebda. 156.

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Mit den Augen des Kindes entdeckt Chesterton die Welt neu, und diese entpuppt sich als ein Märchenland. E r verliert sich jedoch nie in Phantasmagorien, die keine symbolische Beziehung zu unserm Dasein haben; denn er erkennt klar, daß er sein Spiel unter feste Regeln stellen muß. So ist er ein vollkommenes Beispiel für Huizingas Spielbegriff:

Es ist eine Tatsache, daß das Kind in Grenzen verliebt ist. Es gebraucht seine Einbildungskraft, um eingebildete Grenzen zu finden. Das Kindermädchen und die Erzieherin haben ihm nie erzählt, daß es seine moralische Pflicht sei, immer nur auf den zweiten Pflasterstein zu treten. Es beraubt mit Überlegenheit diese Welt der Hälfte ihrer Pflastersteine, um über eine Herausforderung zu triumphieren, die es gegen sich selbst gerichtet hat . . . In diesem Sinne habe ich beharrlich versucht, den wirklichen, zu meiner Verfügung stehenden Raum zu zerlegen und das Haus, in dem ich in voller Freiheit herumrennen durfte, in diese beglückenden Gefängnisse zu teilen und zu unterteilen. Ich glaube, daß in dieser psychologischen Grille eine Wahrheit liegt, ohne welche die ganze moderne Welt ihre günstigste Gelegenheit verpaßt . . .15 Dieses Spiel der Selbstbegrenzung ist eines der geheimen Vergnügen des Lebens . . . Stets wird das Spiel beherrscht von diesem Prinzip der Teilung und Begrenzung, das mit jenem Spiel des Kindes mit den Pflastersteinen beginnt.19

Mit dem schönsten von vielen Bildern dieser Selbstbegrenzung setzt Chestertons „Orthodoxie" ein:

Ich hatte oft Lust, einen Roman zu schreiben, in dem ein englischer Seefahrer seine Richtung falsch berechnet hat und England entdeckte, in der Meinung, es handle sich um eine neue Insel in der Südsee . . . Wahrscheinlich wird jedermann der Meinung sein, daß der Mann, der, bis an die Zähne bewaffnet und in Zeichensprache redend, landete, um die britische Flagge auf jenem barbarischen Tempel zu hissen, der sich in der Folge als der Pavillon von Brighton herausstellte, sich recht dumm vorkam. Ich will nicht leugnen, daß er ein redit dummes Gesicht machte. Wer sich aber vorstellt, daß er sich für einen Toren hielt oder daß das Gefühl der Torheit seine einzige und vorherrschende Empfindung war, der hat die romantische Natur des Helden dieser Geschichte durchaus verkannt. Sein Irrtum war in Wirklichkeit ein höchst beneidenswerter, und darüber war er sich klar, sofern er der Mann war, für den ich ihn halte. Was könnte es Erfreulicheres geben, als innerhalb weniger Minuten all die spannenden Schrecken der Fremde und das warme Sicherheitsgefühl der Heimkehr zu erleben? Was könnte herrlicher sein, als den Spaß einer Entdeckung Südafrikas zu empfinden, ohne die widerliche Notwendigkeit, dort zu landen? Was könnte es Glorreicheres geben, als sich zur Entdeckung von Neu-Südwales auf-zumachen und dann mit einem Strom von Freudentränen herauszufinden, daß es das alte Südwales war? Wie kann diese sonderbare Weltstadt mit ihren vielbeinigen Einwohnern, mit ihren monströsen alten Lampen, wie kann diese Welt in uns gleichzeitig die faszinierende Empfindung einer fremden Stadt und das Behagen und die Ehre, unsere eigene Stadt zu sein, hervorrufen?17

Selbst wo Chesterton das Spiel sehr weit über die Grenzen des Sinns und des Möglichen hinaustreibt, hütet er sich, den irdischen Schauplatz zu verlassen. Wie Scheerbart lacht er etwa über die Komik des Essens,18 nie würde er jedodi eine

1 5 Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 112 f. 1 6 ebda. 113 f. 1 7 Abenteuer des Glaubens 16 f. 1 8 G. K. Chesterton, Essays, Selected with a Preface by John Guest, Library of Classics,

London Collins 1939, 43.

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Das göttliche Spiel 97

Überwindung dieser Komik durch Tabletten wünschen, im Gegenteil: die ungeheure Komik, das heißt die ungeheure Kindlichkeit, macht die eigentliche Größe des Menschen aus. Aus ihr gewinnt dieser Dichter eine sdiier unbeschreibliche Fülle von neuer Poesie des Lebens. In den veraditetsten Dingen erkennt er verborgene Schätze, die er als Schatzgräber des Wunders hebt: im Schundroman, in unüber-legten Gelübden, Gerippen, Kitschfiguren, häßlichen Dingen, im Kriminalroman, in Tageszeitungen, im Patriotismus19 und in nodh viel Geringerem: „Beinahe alle besten und kostbarsten Dinge des Universums bekommt man für einen Halfpenny, mit Ausnahme natürlich von Sonne, Mond, Erde, Menschen, Sternen, Gewittern und solchen Kleinigkeiten, die bekommt man umsonst . . . Aber für einen Half-penny kann man zum Beispiel auf der Straße hinter mir Tram fahren, und die elektrische Straßenbahn ist das fliegende Schloß des Märdiens. Für einen Half-penny erhält man eine recht große Menge buntfarbiger Süßigkeiten."20

Chesterton liebt alles Ursprüngliche. Der Alkohol ist zum Beispiel keine Medizin, er soll frohen Herzens und sorglos getrunken werden; nur Trinker und Mohammedaner können nicht leichtsinnig trinken.21 Deshalb ist sein Spott auf die Wassertrinker fürchterlich, er hält ihnen die ganze absurde Romantik der Abstinenz vor Augen:

Ich kann einfach nicht verstehen, daß der Wassertrinker übersieht, welche Faszination der Regen auf ihn ausüben müßte. Der enthusiastische Wassertrinker muß einen Platzregen für eine Art Weltbankett und eine Schwelgerei in seinem Lieblings-getränk halten. Man stelle sich doch einen Weintrinker vor, über den karmesinrote Wolken roten und goldenen weißen Wein schütten würden. Man male doch einmal auf den Hintergrund der ursprünglichen Finsternis apokalyptische Szenen, turmhohe und gewaltige Himmelslandschaften, auf denen Champagner wie Feuer vom Himmel fällt oder die schrecklichen Farben des Portweins, die den dunkeln Himmel purpurrot und lohfarben aufglühen lassen. So muß der wilde Abstinenzler fühlen, sich ins tiefsaufende Gras werfen und die Beine verzückt gegen den Himmel strecken, wenn er dem Rauschen des Regens lausdit.22

Er predigt, man solle im Bett liegen bleiben und träumen: „Wenn ein gesunder Mann im Bett liegt, so laßt ihn liegen und verlangt keine Entschuldigung";23 das Bett hat nur den einzigen Nachteil, daß es noch keine Pinsel gibt, lang genug, die wunderbar weiße Zimmerdecke zu bemalen. Chesterton preist das Nichtstun; die edle Gewohnheit des Nichtstuns wird auf eine Art vernachlässigt, daß die Dege-neration einer ganzen Rasse droht.24 Wie weit der moderne Mensch von aller Ursprünglichkeit entfernt ist, zeigt sich daran, daß seine Berufe keine Lieder mehr haben.25 Deshalb dichtet Chesterton für die Bankangestellten einen „Chorus in Praise of Simple Addition":

19 Kapitel in Verteidigung. 20 The Shop of Ghosts, Essays 147. 21 Wine when it is red, Essays 69. 22 The Romantic in the Rain, Essays 211. 2 3 On Lying in Bed, ebda. 106. 24 On Leisure, ebda. 291. 25 Little Birds who won't sing, ebda. 123 ff.

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Up, my lads, and lift the ledgers, sleep and ease are o'er.

Hear the Stars of Morning shouting: ,Two and Two are Four/

Though the creeds and realms are reeling, though the sophists roar,

Though we weep and pawn our watches, Two and Two are Four.2®

Und je mehr ich darüber nachdachte, umso gewisser schien mir, daß die wichtigsten und typischsten modernen Dinge nicht von einem Lied begleitet werden können. Man kann zum Beispiel nicht ein großer Finanzmann sein und singen, weil man nur ein großer Finanzmann werden kann, wenn man still ist. Man kann nicht einmal in vielen modernen Kreisen ein Mann der Öffentlichkeit sein und singen, weil es in diesen Kreisen zum Wesen des Mannes der Öffentlichkeit gehört, daß er beinahe alles privat erledigt. Niemand kann sich ein Lied der Geldgeber vor-stellen . . . Auf unserm Leben lastet etwas, das den Geist erstickt. Bankangestellte haben keine Lieder, nicht weil sie arm sind — Seeleute sind viel ärmer —, sondern weil sie traurig sind. Auf dem Heimweg kam ich an einem winzigen kirchlichen Gebäude vorbei, das von Gesang geschüttelt wurde. Hier sang man jedenfalls, und es kam mir in den Sinn, was ich schon oft gedacht hatte: daß bei uns das Ubermenschliche der einzige Ort ist, wo man noch Menschliches findet. Man hat die menschliche Natur gejagt, und sie hat sich in das Heiligtum geflüchtet.27

Mit einem Stüde Kreide in der Tasche wandert das Kind Chesterton durch diese verrückte Welt und schreibt an die Hauswände:

James Harrogate, thank God for meat, Then eat and eat and eat and eat.28

Alle Dinge, denen er begegnet, sind Bruchstücke von etwas anderem, „das äußerst erregend sein würde, wenn es nicht zu groß wäre, um .gesehen zu werden. Die Verworrenheit unseres Lebens entsteht dadurch, daß es zu viele interessante Dinge in ihm gibt, sodaß wir uns nicht mehr ernsthaft für irgendetwas inter-essieren können. Was wir seine Trivialität nennen, sind in Wirklichkeit nur die äußersten Endchen zahlloser Märchen."29 Im schönsten seiner Essays30 zieht der Dichter mit braunem Packpapier und farbigen Kreiden bewaffnet in die Natur hinaus, um zu malen:

Ich wollte Teufel und Seraphim zeichnen, blinde alte Götter, wie sie die Menschen vor der Morgendämmerung des Rechten verehrten, Heilige in hochroten Gewändern, seltsam grüne Meere, und alle heiligen oder monströsen Symbole, die in hellen Farben auf braunem Papier so gut aussehen. Sie verdienen viel eher gezeichnet zu werden als die Natur, zugleich sind sie auch viel leichter zu zeichnen. Ein gewöhn-licher Künstler hätte vielleicht die Kuh gemalt, die mit hängendem Kopf auf das benachbarte Feld kam; aber ich zeichne die Hinterbeine von Vierfüßlern immer falsch. So malte ich die Seele der Kuh, die ich im Sonnenlicht dort klar vor mir

26 ebda. 125. 27 ebda. 127 f. 28 The Hypothetical Householder, Essays 197. 29 The Secret of a Train, ebda. 75. 30 A Piece of Chalk, ebda. 70 ff.

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sah; und die Seele war ganz von Purpur und Silber; sie hatte sieben Hörner und besaß das Geheimnis aller Tiere.31

Chesterton hat die weiße Kreide zu Hause vergessen. Weiß jedoch ist auf braunem Papier Farbe und nicht bloßes Fehlen von Farbe. Weiß ist mehr: Gott malt in Weiß. Chesterton ist verzweifelt. „Da stand ich plötzlich auf und brüllte vor Lathen, sodaß die Kühe mich anstarrten und eine Kommission w ä h l t e n . . . Ich stand auf einem gewaltigen Lager weißen Kalks."32 Chesterton entdeckt, daß Südengland nicht nur eine große Halbinsel, sondern „noch etwas viel Bewunderns-werteres ist". Das Große wird zum Kleinen, das Kleine zum Großen, alles steckt voll Wunder. Der Mensch sitzt auf einem Kreidefelsen und findet keine weiße Kreide. Das ist Chestertons Welt- und Lebensgefühl.

Jemandem, der das Spiel nicht liebt, mögen alle diese Zitate als belanglose Spielereien eines Kindskopfs erscheinen; aber dieser Jemand wird wenigstens zugeben müssen, daß Chesterton in einigen Werken trotz des Unsinns zu beacht-lichen Erkenntnissen gekommen ist. Er wird zwar sagen: „Trotz des Unsinns", wir halten dem entgegen: „Wegen des Unsinns". Denn das kindliche Spiel erweist sich als ein Hebel, mit dem eine ganze falsche Welt aus den Angeln gehoben werden kann. Wo Chesterton mit den Dingen zu spielen beginnt, bekommen diese ein neues Gesicht und eine neue Weihe. Und wiederum ist es für das Spiel völlig belanglos, ob es sich um „Kleinigkeiten" des Alltags oder um „große" Fragen handelt. Mit Kleinigkeiten beginnt Chestertons Kampf gegen alles, was Unrecht ist an der Welt, gegen jene ungeheure moderne Ketzerei, welche die Menschenseele den Bedingungen der Zeit anpassen will, statt diese der Menschenseele anzu-passen :

Ich beginne mit dem Haar eines kleinen Mädchens. Das ist, was idi bestimmt weiß, auf jeden Fall eine gute Sadie. Was immer sonst schlecht sein mag, der Stolz einer guten Mutter auf die Schönheit ihrer Tochter ist gut. Es ist eine jener adamantischen Zärtlichkeiten, die der Prüfstein jedes Zeitalters und jeder Rasse sind. Wenn andere Dinge dagegen sprechen, müssen die andern Dinge weichen. Wenn Gutsherren und Gesetze und Wissenschaften dagegen sind, müssen Gutsherren und Gesetze und Wissenschaften weichen. Mit den roten Locken einer kleinen Schelmin aus der Gosse will ich an die ganze moderne Zivilisation Feuer legen. Weil ein Mädchen langes Haar haben soll, soll sie eine freie und ausgeruhte Mutter haben; weil sie eine freie Mutter haben soll, sollte sie keinen wucherischen Gutsherrn haben; weil es keinen wucherischen Gutsherrn geben soll, sollte eine neue Vermögensaufteilung stattfinden; weil eine neue Vermögensaufteilung stattfinden soll, muß Revolution sein! Diese kleine Schelmin mit dem goldroten Haar (der ich eben zugesehen habe, wie sie an meinem Haus vorbeigeschlendert ist), an ihr soll nicht gezwackt und geschnitten und geändert werden; ihr Haar soll nicht kurz geschnitten werden wie das einer Nonne. Nein! Alle Königreiche der Erde sollen ihr zulieb verwüstet und verstümmelt werden. Die Stürme der Welt sollen um dieses ungeschorenen Lammes willen besänftigt werden. Alle Kronen, die ihrem Haupte nicht passen, sollen zerbrochen werden, alles Zier- und Bauwerk, das mit ihrer Glorie nicht harmoniert, soll \ e r -

31 ebda. 72. 32 ebda. 74. 33 What's Wrong with the World? London Cassell 1910. Deutsch: Was Unrecht ist

an der Welt, München 1924, 119.

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gehen! Ihre Mutter mag ihr befehlen, ihr Haar aufzubinden; denn das ist natürliche Autorität; aber der Kaiser des Planeten soll ihr nicht gebieten, es abzuschneiden. Sie ist das geheiligte Menschenbildnis; rings um sie soll aller soziale Bau ver-schwinden und bersten und fallen; es soll an den Grundpfeilern der Gesellschaft gerüttelt werden; die Dächer des Zeitalters mögen einstürzen; und nicht ein Haar ihres Hauptes soll fallen! — 3 4

Man hat Chesterton schon den „Abenteurer des Glaubens" genannt; 3 5 dieser N a m e ist ebenso oberflächlich wie der vom „Sänger und Propheten des Durch-schnittsmenschen".38 Denn Abenteuer und Poesie des Durchschnittsmenschen gründen auf der Kindlichkeit, diese aber steht auf der Gotteskindsdiaft des Men-schen. Das ist die letzte metaphysische Begründung des Spiels. „Die Welt war [für das Kind] ein Erschrecken, das nichts Schreckliches an sich hatte. Das Dasein war eine Überraschung, aber eine angenehme Überraschung. Eigentlich sind meine ersten Ansichten genau in einem Rätsel ausgedrückt, das mir seit meiner Knabenzeit im Gedächtnis haften blieb. Die Frage hieß: ,Was sagt der erste Frosch?' Und die Antwort w a r : ,Gott, wie lassest du midi hüpfen!' Das sagt in Kürze alles aus, was ich selber sage. Gott ließ den Frosch hüpfen; der Frosch aber tut nidits lieber als das." 3 7 Der geistige Ruin der Zeit ist für Chesterton durch verwilderte Vernunft herbeigeführt worden, nicht durch verwilderte Phantasie.3 8

Denn der Wahnsinnige ist für ihn der Mensch, der alles verloren hat, ausgenom-men seinen Verstand, indem er nach seiner eigenen Meinung keine sinnlosen Dinge mehr tut. 3 9 Der Glückliche und Gesunde vollbringt Sinnloses, nur dem Kranken fehlt die Kraft, müßig zu sein.40 Für Chesterton erzeugt die Vernunft den Wahnsinn der Zeit — , 4 1 das Christentum dagegen befreit von dem Irrsinn verwilderter Vernunft; es ist ein Märchen von der sonnigen Landschaft des gesunden Menschenverstands:42

Der äußere Ring des Christentums bildet eine starre Mauer von ethischen Abtötungen und berufsmäßigen Priestern; doch innerhalb dieser unmenschlichen Mauer wird man das alte menschliche Leben finden, reigentanzend wie Kinder und zechend wie Männer; denn das Christentum ist der einzige Rahmen für heidnische Freiheit. Aber in der modernen Philosophie liegt der Fall gerade umgekehrt: in ihrem äußern Ring geht es künstlerisch und ausgelassen zu; die Verzweiflung aber wohnt innen. — Und ihre letzte Verzweiflung besteht darin, daß sie nicht an einen Sinn des Universums glaubt; daher besteht für sie keine Hoffnung auf Romantik; ihre Romane entbehren der eigentlichen Handlung. Man kann im Lande der Anarchie keine Abenteuer erwarten. Aber man kann sich auf jede beliebige Anzahl von Abenteuern gefaßt machen, wenn man in das Land der Autorität zieht. In einem Dickicht von Skeptizismus ist kein Sinn zu entdecken; aber einem Menschen, der

3 4 ebda. 299 f . 3 5 so Karl Pfleger, Geister, die um Christus ringen, 6. Aufl. Heidelberg 1951, 179 ff. 3 0 ebda. 184 ff. 37 Abenteuer des Glaubens 91. 3 8 ebda. 63. 3 9 ebda. 32. 4 0 ebda. 31. 4 1 ebda. 28. 4 2 ebda. 81.

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durch den Wald der sichern Lehrsätze und festen Pläne geht, wird eine Bedeutung nach der andern aufgehen. Hier hängt an jedem Ding eine Geschichte wie an den Werkzeugen oder Bildern im Hause meines Vaters. Ich höre auf, wo ich angefangen habe — am rechten Ende. Endlich bin ich durch das Tor aller guten Philosophie getreten. Ich bin in meiner zweiten Kindheit angelangt.43

Die Konversion von der Anglikanischen zur Römisch-Katholischen Kirche von 1922 ist nur eine letzte Konsequenz von Chestertons eigenen Spielregeln der Umgrenzung;44 er geht nun darauf aus, das Märchen des Glaubens zu entdecken, im Wunder eines Franziskus von Assisi, eines Thomas von Aquin und in Christus selbst.45 Das Christentum gibt dem Unsinn der Welt einen neuen Sinn: „Das ist es, was das Leben so großartig und so seltsam zugleich macht. Wir sind in der falschen Welt . . . Der falsche Optimismus, das moderne Glück, macht uns müde, weil er uns sagt, wir paßten in diese Welt. Das wirkliche Glück ist, daß wir nicht in diese Welt gehören. Wir kommen anderswo her. Wir haben uns verirrt."46 Die menschliche Tragödie ist uns vielleicht „als eine Art mitleidsvoller Komödie bewilligt, weil das Ungestüm göttlicher Dinge uns wie eine trunkene Posse über-rumpeln würde. Wir können unsere eigenen Tränen leichter nehmen als den kolossalen Leichtsinn der Engel. So sitzen wir vielleicht in einem schweigenden Sternenraum,während das Lachen des Himmels zu laut ist, als daß wir es hören könnten."47

Das große befreiende Lachen Gottes trennt Chesterton von Mörike wie von Scheerbart. Mörike muß, wie ein Kind weinend, zur Mutter Natur fliehen, doch diese schenkt ihm keine Erlösung vom Zwang des Spiels — im Gegenteil: erst die Flucht zur Natur schafft jene echten Dämonen, die ihren Schöpfer zu zerstören drohen, erst aus ihr wächst die mythenbildende Kraft. Scheerbarts Gelächter dagegen verhallt im Kosmos ohne Echo. Chesterton ordnet das Spiel in die Gotteskindschaft des Menschen ein. Der Mensch muß Kind sein, weil er ein Kind Gottes ist. Das gibt dem Spiel ein verhältnismäßig sicheres Fundament. Die großen Romane Chestertons zeigen uns freilich, daß selbst die Gotteskindschaft den Menschen nicht völlig vor den Dämonen des Spiels bewahrt, daß das Urgelächter Gottes auch ein unheimliches Gelächter ist.

Als Dichter ist Chesterton vor allem durch seinen Father Brown bekannt geworden, einen hilflos kindlichen und schäbigen Priester, der Kraft seines Amtes mehr vom Wesen des Verbrechens weiß als der Verbrecher selbst und deshalb den Schlüssel zu allen Untaten findet.48 Chesterton hat der Kriminalgeschichte —

43 Abenteuer des Glaubens 261. 44 „He had dwelt so long in a spiritual uncertainty that he yearned to find himself

anchored to a definite belief", The Chestertons 264 f. 45 St. Francis of Assisi, London Hodder & Stoughton 1923 u. ö. (deutsch: Freiburg

1. Br. 1959); St. Thomas Aquinas, London Hodder & Stoughton 1933 u. ö. (deutsch: 2. Aufl. Heidelberg 1957) etc.

40 The Ballade of a Strange Town, Essays 158. 47 Abenteuer des Glaubens 265. 48 zuletzt gesammelt in: G. K. Chesterton, The Father Brown Stories, 5. Aufl. London

Cassell 1951.

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der „frühesten und einzigen Form volkstümlicher Literatur, in der sich etwas Sinn für die Poesie des modernen Lebens geltend macht"49 — Impulse gegeben, die bis ins Bekenntnishafte gehen, indem er Father Brown mit jener ins Absolute weisenden Kindlichkeit umgibt. Seine schönsten Schöpfungen sind aber die Romane „The Napoleon of Notting Hill", „The Man who was Thursday", „The Flying Inn" und „The Return of Don Quixote".

„The Napoleon of Notting Hill" ist die Geschichte eines Jugendtraums, der Wirklichkeit wird, die Geschichte vom Wasserturm auf Campden Hill in London-Kensington gegenüber der Kirche, in der Chesterton getauft wurde.50 Der Roman spielt im London des Jahres 1984 und ist die Erzählung vom Kind gebliebenen Mann Adam Wayne, der mit der Ernsthaftigkeit, deren nur ein Kind fähig ist, einen clownesken Einfall des Königs von England — eines zu dieser Zeit durch Zufallsmehr erkorenen Beamten — verwirklicht. Wie der König auf Notting Hill von einem Knaben, der sein Schloß mit einem Holz,schwert verteidigt, angehalten wird, bestimmt er, daß die Quartiere Londons geschlossene Städte mit Banner und Wappen werden sollen. Was für ihn eine Laune phantastischen Humors ist und was seine geschäftstüchtigen Untertanen nur widerwillig ertragen, indem sie Erdarbeiter und Sandwichmänner als Herolde und Stadtwachen an-stellen, nimmt der Knabe Adam Wayne für Wirklichkeit. Er wird später Bürger-meister von Notting Hill, verteidigt seine Pumpenstraße gegen das Projekt einer Durchgangsstraße und wirft dem König und Spaßmacher, als dieser vor einem Blutvergießen warnt, voll Verachtung ins Gesicht:

Oh, ihr Könige, ihr Könige, wie menschlich seid ihr, wie empfindlich, wie bedacht! Ihr macht Kriege einer Grenze wegen oder wegen der Einfuhr aus einem ausländischen Hafen. Ihr vergießt Blut wegen eines bestimmten Zolls auf Spitzen oder für den einem Admiral schuldigen Gruß. Aber für das, was das Leben wert oder unwert macht — wie menschlich seid ihr da. Ich behaupte hier und weiß sehr gut, was ich sage, es hat niemals notwendige Kriege gegeben außer den Religionskriegen. Die Religionskriege waren die einzigen gerechten Kriege, sie waren die einzigen menschlichen Kriege. Denn diese Männer fochten für etwas, das wenigstens den Anspruch darauf erheben konnte, Glück und Kraft des Menschen auszumachen. Ein Kreuzzügler glaubte doch immerhin, daß der Islam der Seele jedes Menschen, sei es eines Königs oder Kesselflickers, schaden müsse, ja, daß er sie Gott wegkapere. Ich glaube nun, daß Buck und Barker und alle diese reichen Geier der Seele jedes Menschen schaden, jeden Zoll der Erde, ja, jeden Ziegelstein der Häuser schänden, daß sie wirklich Seelenfang treiben. Glauben Sie wirklich, ich hätte kein Recht für Notting Hill zu kämpfen, Sie, dessen englische Regierung so oft für reine Narrens-possen gekämpft hat? Wenn es, wie ihre reichen Freunde sagen, keine Götter gibt und der Himmel über uns leer und dunkel ist, wofür sollte dann ein Mann kämpfen, wenn nicht für den Ort, wo er das Paradies seiner Kindheit und den kurzen Himmel seiner ersten Liebe erlebte? Wenn Tempel und Bibel nicht heilig sind, was ist dann heilig, wenn nicht eines Mannes eigenste Jugend?51

49 Verteidigung 158. 50 vgl. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 114 f., 119. 51 G. K. Chesterton, Napoleon of Notting Hill, London John Lane 1904. Deutsch:

Der Held von Notting Hill, Berlin o. J., 95 f.

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So kommt es zum blutigen Kampf; mit Hilfe eines Spielwarenhändlers, der im Hinterstübchen an Bleisoldaten schon jahrzehntelang über der Verteidigung von Notting Hill gebrütet hat, gelingt es Wayne, Notting Hill gegen tausendfache Obermacht zu halten und schließlich seine Feinde — die Armee von South Kensington — mit der Drohung, die Reservoire des Wasserturms in die Stadt auslaufen zu lassen, zur Kapitulation zu zwingen. Adam Wayne erreicht noch mehr: er zwingt den Geschäftsleuten der andern Viertel nicht nur seinen Kampf, sondern audi seine Ideale auf. Sie kämpfen und sterben nun für Bayswater oder South Kensington wie er für Notting Hill. Die Eintönigkeit der modernen Zivilisation wird durch den Kampf um ein unsinniges Ideal zerstört. Zwanzig Jahre nach seinem Sieg fällt Adam Wayne im Aufstand South Kensingtons und der andern Quartiere gegen die Tyrannei Notting Hills. So werden jene Urdinge wiedergeboren, die den Menschen jung machen und die ewig sind:

Es gibt keinen Anbeter des Fortschritts, der nicht auf seinem Nacken das ungeheure Gewicht des müden Weltalls spürt. Aber wir, die wir das Alte vollbringen, sind von der Natur mit dauernder Unmündigkeit gesegnet. Kein Mann, der liebt, glaubt, daß vor ihm schon jemand geliebt habe. Keine Frau, die ein Kind hat, glaubt, daß es audi nodi andere Kinder gibt. Kein Volk , das für sein Land fidit, wird von dem Gedanken an zusammengebrochene Reiche belastet . . . die Welt ist sich immer gleich, denn sie ist immer voller Überraschungen.52

Auf dem Schlachtfeld nach der letzten Schlacht von Notting Hill sprechen die Stimme des toten Königs Auberon Quin, der den Scherz von den Quartierstädten erfunden hat, und die des toten Adam Wayne als die Stimme des Gelächters und der Ehrfurcht einen metaphysischen Dialog:

,Wenn ich nun Gott wäre', sagte die Stimme [des Königs] , ,und wenn ich die Welt aus Laune erschaffen hätte. Wenn nun die Sterne, die für dich Ewigkeiten sind, nur das dumme Feuerwerk eines unsterblichen Schulbuben wären? Wenn nun Sonne und Mond, die du besingst, nur die beiden Augen eines ungeheuren und höhnischen Riesen wären, die er abwechselnd schließt und öffnet in einem unendlichen Blinzeln? Wenn die Bäume in meinen Augen nichts wären als lächerliche enorme Giftpilze, und wenn Sokrates und Kar l der Große für mich nur Viecher wären, die darum spaßhafter sind, weil sie auf den Hinterfüßen gehen? Nimm an, ich sei Gott und hätte dies alles geschaffen, um darüber zu lachen.' ,Und nimm an, ich sei ein Mensch,' antwortete der andere [Adam Wayne] , ,und höre, daß ich dir eine Antwort gebe, die selbst ein Lachen übertönt. Nimm an, daß ich dich nicht lästere, dir nicht fluche. Aber vernimm, daß ich, hochaufgerichtet unter dem Himmel, dir mit aller Kraft meines Wesens danke für das Paradies der Narren, das du geschaffen hast. Nimm an, ich preise dich mit einer wirklich schmerzhaften Begeisterung für den Scherz, der für mich eine so ungeheure Freude gewesen ist. Wenn wir einem Kinderspiel den Ernst eines Kreuzzuges verliehen, wenn wir deinen grotesken Blumengarten mit dem Blut von Märtyrern gekrönt haben, so haben wir eine Kinderstube in einen Tempel verwandelt. Ich frage dich im Namen des Himmels: Wer hat gewonnen?53

Der Roman endet, indem das Gelächter des Gottes und die Ehrfurcht des Kindes gemeinsam über die Welt wandern: „Wir sind nur die beiden Teile eines un-

5 2 ebda. 229 f . 5 3 ebda. 232 f .

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gebrochenen Gemütes. Gelächter und Liebe sind überall. Die großen Kathedralen, die in den Jahrhunderten der Gottesverehrung gebaut wurden, sind voll von lästerlichen Grotesken. Die Mutter lacht ständig über ihr Kind, der Liebhaber lacht immer über die Geliebte, die Frau über den Mann, der Freund über den Freund."54

In „The Return of Don Quixote""3 hat Chesterton das gleiche Thema nochmals zu gestalten versucht. Der Bibliothekar Michael Herne wird durch eine Theater-auffährung aus seinen Büchern herausgerissen. Mit ihm aufersteht die mittelalter-liche Welt, und die feudalen und reaktionären Mächte glauben, ihn dem Gewerk-schaftsführer John Braintree entgegenstellen zu können. Herne zwingt wie Wayne seine Umgebung zu „konservativen Revolution" eines neuen Rittertums. Wie Wayne besiegt er seinen modernen Gegner und sitzt über ihn zu Gericht. Er muß jedoch mit seinem fanatischen Wahrheitsdrang erkennen, daß die adelige Ritter-welt nicht zu erneuern ist; die heutigen Adeligen sind keine wahren Ritter mehr. Die Adeligen, die sich um ihn geschart haben, sind Seifensieder und Farbfabrikan-ten mit gekauften Titeln, die im Mittelalter nicht einmal in eine Zunft aufgenom-men worden wären. Der Arbeiterführer John Braintree dagegen verkörpert das mit-telalterliche Ideal, „daß jene die Herrschaft über das Gewerbe ausüben sollten, die allein und in gehöriger Weise dieses Gewerbe betreiben".56 Die Arbeiter sind die wahren Erben der Tradition. Michael Herne, die Ehrfurcht, zieht, begleitet von Douglas Murrel, seinem Gelächter, mit einer altersschwachen Droschke in die Welt hinaus:

Im Augenblick, ehe vernichtendes Gelächter donnergleich niederscholl, sahen die Zuschauer, wie von einem Blitzstrahl erhellt, klar und scharf, gleich einer momentanen Wiederauferstehung aus dem Schattenreiche, eine Vision und ein Erinnerungsbild. Die Backenknochen des hageren, scharf geschnittenen Antlitzes, der flammenähnliche Gabelbart, die eingesunkenen, fast immer irrsinnigen Augen blickten aus einem erschreckend bekannten Rahmen. Starr über dem Sattel der Rosinante, hochauf-geschossen und in zerbeulter Rüstung, hob dieses Bild jene ohnmächtige Lanze, die uns drei Jahrhunderte hindurch gelehrt hat, über das Speereschwenken zu lachen. Und hinter ihm ragte, ein riesiger gähnender Schatten, gleich der Vision jenes Leviathans von Gelächter, das groteske Hansom, an die Kiefer eines hämischen Drachens gemahnend, ihn ständig verfolgend — wie der Schatten der Karikatur unsere verzweifelte Würde und Schönheit verfolgt — ewig ihn überschattend, dräuend wie die Woge der Welt; und über allem schwebte der einfältigere und schwächere menschliche Geist und schaute — nicht unfreundlich — hinab auf alles, was das Höchste ist. — Und doch — trotz jenes hochgetürmten und überragenden Anhängsels der Lächerlichkeit, das gleich einer überwältigenden Last hinter ihm dreinschleppte, war alles in jenem Augenblick ausgelöscht und vergessen angesichts der Kraft und erschreckenden Leidenschaftlichkeit seines Antlitzes.57

Damit legt sich über diese Geschichte eine leise Resignation, die dem „Napoleon of Notting Hill" fehlt. Wenn der neue Don Quixote und sein Sancho Pansa später

64 ebda. 236. 55 G. K. Chesterton, The Return of Don Quixote, London Chatto & Windus 1927.

Deutsch: Don Quijotes Wiederkehr, Leipzig o. J., 285. 56 ebda. 274. 57 ebda. 291 f.

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wieder zu den Frauen zurückkehren, die ihnen bestimmt sind, und Michael Herne in die Kirche als die einzige Heimstatt für eine Heiligkeit wie die seine eingeht, so kann das nicht den Eindruck verwischen, daß Chesterton in diesem Roman an der Kraft seiner Spielwelt zweifelt. Jedoch nur dort, wo der Mensch völlig an sein Spiel glaubt, gibt es ihm alles überwindende Stärke; deshalb verrät der Roman auch künstlerische Schwächen.

In „The Flying Inn"58 stemmt sich der irische Abenteurer Kapitän Dalroy mit seiner kraftvollen Ursprünglichkeit, mit Rum und Gesang gegen eine Welt von Verirrungen, gegen Abstinenzler, Vegetarier, Sektenprediger, Futuristen und Heuchler. Er siegt mit unsinnigen Scherzen und Streichen über Lord Philipp Ivywood, den Übermenschen, der alle diese „orientalischen Genüsse" nach England einführen will. Am Ende des Romans stellt sich heraus, daß Dalroy mehr ist als ein bloßer Mensch. In einer visionären Schlacht zwischen Morgen- und Abendland wird er zum Mythus der Ursprünglichkeit des christlichen Westens; sein Gegenspieler enthüllt sich als Helfeslielfer Osman Paschas, der mythischen Verkörperung Asiens. Nicht zufällig jedoch ist Dalroy Ire, denn Chestertons trunkene Spielfreude ist im Grunde heidnisch-magischen Ursprungs und findet im Christentum bloß ihre neue beglückende Rechtfertigung, wie wir das von der irischen Religiosität her kennen. Der heidnische Ursprung im christlichen Gewand zeigt sich vor allem in den beiden Romanen „Manalive" und „The Man who was Thursday".

Mit „Manalive" — wofür „Menschenskind" eine nicht ungeschickte Übersetzung ist — hat Chesterton einen wahren Dämon des Spiels geschaffen. Wie bei Rumpel-stilzchen kennt niemand seinen Namen. Immer wieder wird er gefragt, wer er sei:

„Sie müssen sich doch irgendwie benennen." „Mich irgendwie benennen," donnerte der Verborgene und schüttelte den Baum so, daß alle seine zehntausend Blätter auf einmal zu sprechen schienen: „Ich nenne mich Roland Oliver Jesajah Charlemagne Arthur Hildebrand Homer Danton Michelangelo Shakespeare Brakespeare . . „Aber Menschenskind!" begann Inglewood verärgert. „Sie haben es getroffen!" brüllte es aus dem schaukelnden Baum, „das ist mein richtiger Name." Und er brach einen Zweig ab, und ein oder zwei Herbstblätter flatterten über den Mond hinweg.59

Diese Antwort ist keine Antwort; Manalive bleibt ein rätselhaftes Wesen, das die Welt wieder einrenkt, indem es sie auf den Kopf stellt. Geheimnisvoll weht der Sturm die riesenhafte Gestalt mit dem seltsam unnatürlich kleinen Kopf und dem leuchtend blonden Haar in die Pension „Haus Leuchtfeuer".60 Auf dem Kopfe stehend führt sich Manalive in die Gesellschaft ein, wie Auberon Quin in „Napoleon of Notting Hill" auf dem Kopfe stehend die Königswürde angenom-men hat. Aller Unsinn, den Manalive treibt, besitzt einen dunklen Sinn: „Es

58 G. K. Chesterton, The Flying Inn, London Methuen 1914. Deutsch: Das fliegende Wirtshaus, München 1922.

59 G. K. Chesterton, Manalive, London Nelson 1912. Deutsch: Menschenskind, Mün-chen 1926, 123 f.

6 0 ebda. 20.

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sieht so aus, als ob er nur einen Schritt von der gewöhnlichen Straße abzuweichen brauchte, um jede Minute in ein Wunderland zu gelangen".61 Unverständlich dunkel und doch rätselhaft sinnvoll sind seine Worte. So spricht er beim Aus-packen einer riesigen, mit sinnlosen Dingen gefüllten Reisetasche vor sich hin:

Die lieben Leute sprechen vom unendlichen Weltall . . . von Unendlichkeit und Astronomie; nicht sicher, . . . ich glaube, die Sachen liegen zu dicht beisammen . . . eingepackt, für die Reise . . . die Sterne liegen auch zu dicht nebeneinander . . . die Sonne ist ein Stern, zu dicht, um überhaupt gesehen zu werden . . . zu viele Kieselsteine am Strand, sie müßten alle im Kreise gelegt werden; zu viele Gras-halme, um sie betrachten zu können . . . es sind so viele Federn auf einem Vogel, daß das Gehirn es nicht faßt; warten, bis die große Tasche ausgepackt ist . . . so kommen wir dann alle auf unsern richtigen Platz.®2

In soldi en Augenblicken ist Manalive Gott selbst, der spielt und seine große Tasche auspackt. Alter heidnischer Gott ist er, wenn eine „Flamme heidnischen Goldes"63 auf seinen Haaren liegt oder wenn er so im Garten steht: „Wie in Stein gehauen war er unbeweglich geblieben; der Gott des Gartens. Ein Sperling hatte eich auf eine seiner breiten Schultern gesetzt und war, nachdem er sein Federkleid in Ordnung gebracht hatte, weggeflogen."64 Aber er ist ein eigenartiger Gott, denn er ist ein Kind: „Unbewußt war er mit einem Riesenschritt von der Kindheit zum Mannesalter gelangt, und auf diese Weise hatte er die Krisenzeit der Jugend, in der die meisten von uns alt werden, übersprungen."65 Seine Un-heimlichkeit verdichtet sich immer mehr, sodaß ihn einzelne Pensionäre für irrsinnig halten und einen Arzt herbeirufen. Manalive schießt auf diesen mit einem Revolver, von dem er behauptet, er streue nicht Tod, sondern Leben aus.66

Der Arzt als Vertreter rationalster Wissenschaft klagt ihn an. Er nennt ihn einen der grausamsten und schrecklichsten Feinde der Menschheit, dessen Raffiniertheit und Erbarmungslosigkeit noch nie ihresgleichen gehabt hätten:

Er hat schon viele Namen geführt, aber nicht einen, an dem nicht Verwünschungen haften. Dieser Mann . . . hat auf seinem Weg durch die Welt eine Spur von Blut und Tränen hinterlassen . . . Die Irrenanstalt, in die er eingesperrt wird, muß wie eine Festung mit dicken Mauern und Kanonen umgeben werden, sonst wird er wieder ausbrechen und von neuem Gemetzel und Entsetzen in die Welt bringen.67

Freilich werden in der Folge alle konkreten Anklagen widerlegt: der Philosoph und absolute Lebensverneiner, dem er mit der Pistole in der Hand versprochen hat, ihn von seinem Leiden am Leben endgültig zu erlösen, und den er so zwang, zwischen einer Lobpreisung des Lebens oder dem Tod zu wählen, ist ihm für diese Tat ewig dankbar, ebenso der idealistische Hilfsgeistliche, den er zu „prak-tischem Sozialismus", dh. zum Einbruch zwang, aber zu einem Einbruch in

6 1 ebda. 44. 6 2 ebda. 35. 6 3 ebda. 60. 6 4 ebda. 113 f. 6 5 ebda. 37. 6 6 ebda. 47. 6 7 ebda. 88.

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Manalives Haus. Die Anklage wegen böswilligen Verlassens seiner Gattin fällt in sich zusammen, als sich herausstellt, daß Manalive von Croydon über Dünkirchen, durch die russische Steppe, durch China und Kalifornien um die ganze Erde gewandert ist, um sein eigenes Haus von der andern Seite her zu betreten, um über die Hecke springen, gelassen Tee trinken und sagen zu können: „Ach, was für einen schönen Platz habt ihr hier", gerade so, als ob er ihn noch nie gesehen hätte.68 Polygamie hat er nur mit seiner eigenen Frau getrieben, die er als einsame Schneiderin, alleinstehende Stenotypistin, Seminaristin immer wieder entführt, wie er sie nun hier als Gouvernante fortlocken will. Alle seine angeblichen Verbrechen sind nichts als Übermut, überschäumende Kraft, Ausgelassenheit und lärmende Fröhlichkeit. Manalive ist die „unschuldige Seele, und darum ist er so merk-würdig",69 er ist das Sternenkind, die eigene zurückgekehrte Jugend der Mensch-heit.70 Er ist wie ein Mann, der wie wahnsinnig in einer Spielhölle spielt und nachher entdeckt, 'daß er um Hosenknöpfe spielt."71 Geheimnisvoll, wie er gekom-men ist, verschwindet er, nachdem er die Bewohner der Pension glücklich gemacht hat:

Während der Sturm wie mit Trompetenstößen den Himmel zerriß, wurde ein Fenster nach dem andern im Hause hell. Ehe die kleine Gesellschaft zwischen Lachen und Windstößen sich wieder ins Haus zurückgetastet hatte, sah sie die große, affenartige Gestalt von Innozenz Smith auf dem Dach. Er war aus einem Mansardenfenster herausgeklettert, und nun brüllte er immer wieder: ,Haus Leucht-feuer' und sdiwenkte dabei um seinen Kopf einen riesigen Holzscheit oder Klotz von dem Herdfeuer unten. Von diesem brennenden Scheit strömte eine leuchtende rote Flamme und ein violetter Rauchstreifen in die lärmende Luft hinaus.

Innozenz war so deutlich sichtbar, daß man ihn von drei Grafschaften aus hätte erblicken können; aber als sich der Wind legte und die Gesellschaft auf dem Gipfel ihrer Fröhlichkeit wieder nach Mary und Smith suchte, waren die beiden nicht zu finden.72

Trotz aller rationalen Erklärung seiner Streiche bleibt Manalive so unheimlich wie zuvor. Ist er „heilig, heilig, heilig", wie ihn Moses Gould nennt?73 Ist er Mensch, Dämon oder Gott? Das Buch gibt keine Antwort auf diese Frage. Doch hat sie Chesterton schon beantwortet, denn Manalive ist eine dämonischere Form von Auberon Quin, und der hat gesagt: „Wenn ich nun Gott wäre, und wenn ich die Welt aus Laune erschaffen hätte, wenn nun die Sterne, die für dich Ewigkeiten sind, nur das dumme Feuerwerk eines unsterblichen Schulbuben wären? . . . Nimm an, ich sei Gott und hätte dies alles geschaffen, um darüber zu lachen."74 Manalive ist dieser Gott des Gelächters über die Welt, eines Lachens der Freude.

Manalive ist jedoch nicht das letzte Wort Chestertons. Die wirkliche Tiefe dieser Figur offenbart sich erst in seinem besten Werk, in „The Man who was

C8 ebda. 242. 6 9 ebda. 82. 70 ebda. 83. 71 ebda. 270. 7 2 ebda. 278 f. 73 ebda. 210. 74 Der Held von Notting Hill 232.

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Thursday". Zu der Gestalt Sonntags in diesem Roman kennen wir nur eine ebenbürtige mythische Verkörperung des Spiels, Mörikes Sicheren Mann. Sonntag und der Sichere Mann sind ein Wesen, das bei Mörike das Gewand des Märdiens und der Sage, bei Chesterton ein modernes Kostüm angezogen hat, Dämon oder Gott des absolut sinnlosen und darum sinnvollen Spiels. Mörikes Riese bleibt ein Naturwesen, audi deshalb haben wir dieses Dichters Spiel dämonisch genannt; Chestertons Sonntag dagegen vertieft sich zum christlichen Gott; das göttliche Spiel hat Manalives dämonisches Gelächter der Freude in sich laufgenommen, aber es entquillt einem noch tieferen Born: dem Leiden Gottes an dem und für den Menschen.

„The Man who was Thursday", „ Der Mann, der Donnerstag war", verblüfft schon durch seinen Titel, der Erinnerungen an den Freitag des „Robinson Crusoe" weckt und bei den Zeitgenossen Parodien wie „The Man who was thirsty" (als Anspielung auf Chestertons Trinkfreude), „Die Frau, die halb neun Uhr war", „Die Kuh, die morgen abend war" usw. auslöste.75 Mit Recht trägt der Roman den Untertitel „Ein Nachtmahr", denn mit Sonntag verglichen ist etwa Manalive harmlos. Sonntag verbreitet bleibendes Entsetzen um sich. Er ist der Präsident des Zentralen Anarchistenrates, „der mächtigste Mann von ganz Europa". Seinen wahren Namen kennt niemand; Sonntag heißt er nur, weil sich die sieben Mit-glieder des Rats nach den sieben Wochentagen nennen; manche seiner Bewunderer sprechen vom Blutsonntag. Der Roman ist dem Titel gemäß zuerst die Geschichte Donnerstags, des Dichters Gabriel Syme, der von einem massiv gebauten Menschen in einem düstern Raum der Londoner Kriminalpolizei mit den seltsamen Worten „Ich verurteile sie hiermit zum Tode" als Detektiv für die Anti-Anarchisten-Abteilung angeworben wird.76 Syme gelingt es, als Donnerstag, dh. als Vertreter der Londoner Filiale, in den Zentralen Anarchistenrat gewählt zu werden, indem er in der Wahlversammlung den eigentlichen Kandidaten zum humanen Sonntags-schulprediger stempelt und ihn mit der Härte und Erbarmungslosigkeit eines anarchistischen Scharfrichters aussticht. Am Essen des Zentralrats lernt er Sonntag kennen, eine Kolossalstatue von absoluten Proportionen, entsetzlich traumhaft groß wie die Memnonmaske im Britischen Museum, die der Schrecken seiner Jugend war.77 In einer Fülle von Abenteuern enthüllen sich — das ist der Inhalt des Romans — die sechs Wochentage voreinander, indem sie sich durch London und Frankreich jagen und gegenseitig bekämpfen. Es stellt sich heraus, daß sie samt und sonders verkleidete Bürger und Detektive der Kriminalpolizei sind. So würde sich alles in Gelächter und Wohlbehagen auflösen, wenn Sonntag nicht wäre: „Die bloße Nennung dieses Namens machte Syme frieren und verstummen. Und sein Lachen erstarb ihm in seinem Herzen, bevor es noch auf seinen Lippen erstarrte."78 Die Wochentage wollen den Kampf mit Sonntag aufnehmen nadi dem

75 vgl. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 165. 78 G. K. Chesterton, The Man who was Thursday, Bristol Arrowsmith-London Simpkin

& Marshall 1908. Deutsch: Der Mann der Donnerstag war, München 1924, 74. 77 ebda. 83 ff. 78 ebda. 129; vgl. audi 159, 192 ff., 237 ff.

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wunderbaren Wort Symes: „Kein Mensch soll in der Welt das belassen, was er fürchtet."79 Sie glauben ihn zu überwinden, wenn sie ihm die Rumpelstilzchen-frage stellen, der Name soll die magische Gewalt Sonntags bredien. Sonntag antwortet im Tone biblischer Verkündigung: „Ich aber sage euch, eher findet ihr die Wahrheit über den geringsten Baum und über die höchste Wolke, als daß ihr die Wahrheit über mich findet. Ihr werdet das Meer ergründen — und ich werde euch immer nodi ein Rätsel sein."80 Nur eines verrät er: er hat sie alle als Polizisten angeworben. Damit bricht wieder die Spielfreude durch. Sonntag flieht, und es beginnt die großartig unsinnige Jagd durch London. Zuerst fährt er in einer Droschke, dann reißt er die Peitsche des Kutschers an sich und lenkt selbst. Er schwingt .sich auf ein dahinrasendes Feuerwehrauto, geht mit einem Elephanten aus dem Zoo durch und verbreitet Terror in den Straßen, bis er schließlich den Fesselballon einer Ausstellung löst und mit ihm in den Himmel aufsteigt. Wäh-rend der ganzen Jagd schneidet er den in Droschken nachhetzenden Detektiven Grimassen oder zeigt ihnen seine „unmeßbare, unübersehbare Hinteransicht". Er bombardiert sie mit Papierknäueln voll unsinniger Botschaften. Die Jagd endet außerhalb Londons auf den grünen Hügeln von Surrey, wo die sechs müden und verschmutzten Wochentage das Rätsel des in den Himmel gestiegenen Sonntags zu lösen versuchen.81 Da hebt einer von ihnen wie im Traum zu singen an: „Pan, Pan war ein Gott und ein Tier";82 „die Natur, zu einem mysteriösen Jokus auf-gelegt", hat schon vorher ein zweiter empfunden,83 ein „ins Riesenhafte über-setztes Baby", hat ihn ein dritter genannt. „Pan ist alles", und mit gesenktem Blick fügt einer hinzu: „Sie dürfen nicht vergessen, daß man auch panisch sagt."84

Wie wenn er auf dieses Stichwort gewartet hätte, landet der Ballon. Die Pseudo-anarchisten werden in sechs Equipagen mit prunkvollem Zeremoniell und blitzen-den Degen zu einem langen niedrigen Haus geleitet, das jeden „auf irgendeine unsagbare Weise an seine Knabenzeit erinnert", an eine Zeit, „aus der er sich nicht einmal seiner Mutter erinnern konnte."85 Im Auftrage des „Meisters" werden sie in Gewänder für einen Kostümball gekleidet, die mit Symbolen bestickt sind. Diese entsprechen dem Geschehen der biblischen Schöpfungsgeschichte an ihrem Wochentag und — wie sich jetzt zeigt — ihrem ureigensten Wesen. Am Abend spielt sich im Garten ein riesiger Karneval ab, indem zuerst alle Gegenstände, die in der abenteuerlichen Erzählung vorgekommen sind, miteinander tanzen. Daraus entwickelt sich eine ungeheure Menschheitsmaskerade zu triumphierender Marsch-musik: „Und jedes tanzende Paar schien ein Roman für sidi. Ob nun eine Nymphe mit einem Briefkasten oder ein Bauernmädchen mit dem Mond tanzte, es war immer irgendwie so absurd wie ,Alice im Wunderland' und doch so tiefsinnig und

79 ebda. 130. 80 ebda. 242 f . 81 ebda. 256 ff. 82 ebda. 265. 8 3 ebda. 251. 84 ebda. 268. 85 ebda. 272.

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zärtlich wie eine Liebesgeschichte."88 Sonntag tritt auf: „Er war ganz und gar in pures, gewaltiges Weiß gekleidet, und das Haar züngelte wie eine silberne Flamme ihm aus der Stirn."87 Nochmals erhebt sich die Frage: „Und wer und was bist du?" Sonntag antwortet voll unendlicher Ruhe: „Ich bin der Sabbat. Ich bin der Gottesfriede."88 D a erschallen die Klagen der "Wochentage: „Wenn Sie der Mann in dem dunklen Zimmer waren, warum sind Sie dann zugleich Sonntag — das Ärgernis des Sonnenlichts? Wenn Sie von Anbeginn unser Vater und unser Freund waren, warum waren Sie zugleich unser größter Feind? Wir weinten, wir flohen vor Schrecken; Schwerter durchbohrten unsere Seelen — und Sie sind der Friede Gottes! GOTTES Zorn kann ich IHM vergeben, obwohl ganze Völker durch die Schale des Zorns ertranken. Aber GOTTES Frieden vergeb ich IHM nie."89

Schließlich erscheint der letzte Ankläger: „Das ersterbende Feuer in der .großen Pechpfanne lohte ein letztes Mal auf — wie glühend Gold — und warf einen Schein übers dunkle Gras hin. Und auf diesem feurigen Band schritten tiefschwarz die Beine einer schwarzgekleideten Gestalt her."90 Dieser absolut Schwarze ist der wahre Donnertag, der echte Anarchist, dessen Wahl Syme verhindert hatte, um selbst Donnerstag zu werden. Er ist der wirkliche Zerstörer, und aus diesem Unbegreiflichen donnert allgewaltiger letzter Donner hervor:

,Ihr habt niemals gehaßt, weil ihr nie geliebt habt! Ich weiß, was ihr alle zusammen seid, vom ersten bis zum letzten — ihr seid Leute, die die Gewalt haben! Ihr seid die Polizei — die großen, fetten, lächelnden Männer in Blau und mit Uniform-knöpfen! Ihr seid das Gesetz — und ihr wart noch nie gebrochen! Aber ist wo eine freie, lebende Seele, die's nicht gelüsten sollte, euch zu brechen, nur weil ihr niemals gebrochen wart? Wir Revolutionäre quatschen allen Unsinn zusammen — wie daß Regierung ein Verbrechen sei, ein solches und ein solches . . . Einfach blödsinnig! Das einzige Verbrechen der Regierung ist, daß sie das Höchste ist. Ich fluche euch nicht (obwohl ich möchte), daß ihr gütig seid. Ich fluche euch nur darum, daß ihr sicher seid! Ihr sitzt in euern steinernen Sesseln und seid nie aus ihnen aufgestanden. Ihr seid die sieben Engel des Himmels — und ihr habt noch keine unruhige Minute gehabt. Oh — oh, ich könnte euch alles und jedes verzeihen, ihr, die ihr die ganze Menschheit beherrscht, wenn ich mit einmal gewiß wüßte, daß ihr eine einzige Stunde einmal so in Seelenängsten und Todeskämpfen gerungen habt wie ich ' Syme sprang auf. Zitternd von Kopf bis zu den Füßen — ,Ich sehe ein jedes Ding, das ist. Warum besiegt ein Ding das andere auf der Erde? Warum kämpft jedes kleine Ding in der Welt gegen die Welt selber? Warum streitet jede Fliege gegen das ganze Universum? Aus demselben Grund, aus dem ich in dem schrecklichen Rat der Tage allein stand! So daß jedes Ding, das dem Gesetz gehorcht, die Gloriole und die Isolation eines Anarchisten verdient. So daß jeder-mann, der für Ordnung ficht, ein so guter und braver Mann wie jeder Dynamitheld genannt zu werden verdient. Also daß die Satanslüge in den Schlund dieses Gottes-lästerers zurückfahren muß, also daß wir durch Tränen mannigfach und durdi Torturen das Recht uns erworben haben, zu diesem Mann zu sagen ,Du lügst!' . . . Es ist keine Angst, und es ist kein Tod, womit wir nicht gerungen hätten, also daß

86 ebda. 281. 8T ebda. 88 ebda. 283. 89 ebda. 284. 90 ebda. 285.

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wir gegen diesen Kläger die Widerklage erheben können: ,Wir haben so sehr gelitten wie du!' Es ist nicht wahr, daß wir niemals gebrochen worden sind. Wir sind durchs Rad gebrochen worden. Es ist nicht wahr, daß wir nie von diesen Sesseln heruntergestiegen sind. Wir sind bis vor die Tore der Hölle hinabgestiegen. Wir beklagten und bejammerten unvergeßliches Elend — in demselben Augenblicke noch, da dieser Unverschämte auftrat, uns um unseres Glückes willen zu verklagen. Ich weise den Schimpf zurück: wir waren nicht glücklich! Ich stehe ein für jeden der großen Hüter des Gesetzes, die da verklagt sind. Und nun — —' Und er richtete seine Augen auf das große Gesicht Sonntags, das seltsam lächelte. ,Hast du —' schrie er mit schrecklicher Stimme, ,hast du jemals gelitten?' Und wie er es anstarrte, wuchs das Gesicht zu einer scheußlichen Größe an und wurde immer größer und größer — größer sogar als die kolossale Memmonmaske, die ihn als Kind aufschreien machte. Und wurde schließlich so groß, daß es den ganzen Himmel füllte und alles unter Dunkelheit setzte. Und gerade eh' die Dunkelheit ihm die Augen und alles Gehirn aushackte, hörte er eine Stimme — fernher — und die sang einen Gemeinplatz, den er irgendwo schon gehört hatte: .Vermagst du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?'91

Bis zu Sonntags Antwort auf die Frage nach seinem Namen vor der Jagd durch London sieht der Roman wie eine harmlos-heitere Kriminalgeschichte aus. Sonntag ist ein gewaltiger Verbrecher, den sechs Detektive unter allerlei Miß-verständnissen verfolgen. Die feierliche Antwort führt in eine unerwartete Tiefe. Scheinbar wird diese durch die folgende Jagd durch London wieder zunichte gemacht, wobei freilich der unwahrscheinliche Ballonaufstieg eine noch unverständ-liche Symbolik andeutet. Erst mit dem Gespräch der Verfolger, in dem diese Sonntag für eine Maske Pans halten, beginnt sich das Dunkel zu lichten. Die sieben Wochentage erleben in einem unsinnigen Karneval die ganze trunkene Spielfreude Sonntags noch einmal. Es tönt dann wie Hohn, wenn der Meister verkündet, er sei der Gottesfriede. Deshalb treten die Verfolger als die sieben Erzengel stellvertretend für die ganze Menschheit auf. Sie klagen Sonntag wegen seiner unbegreiflichen Ruhe gegenüber den entsetzlichen Leiden des Menschen an, sie werfen ihm vor, mit ihrer Not und ihrem Leid zu spielen. Die heftigste An-klage erhebt jedodi der Schwarze, der gefallene Engel. Er wendet sich nicht nur gegen Gott, sondern auch gegen die Selbstsicherheit der sieben Wochentage. Sein Haß ist der Haß enttäuschter Liebe, die Verzweiflung dessen, der an eine absolute Gerechtigkeit glaubt und erleben muß, daß es immer ein Unten und ein Oben gibt. Doch Donnerstag nimmt die Anklage dieses wahren Revolutionärs auf und steigert sie noch im Namen all derer, die scheinbar oben sind, die Gesetz und Ordnung bewahren wollen und um des Gesetzes willen noch mehr leiden, noch unglücklicher sind als der Revolutionär. Und weil sich so enthüllt, daß alle leiden und alle unglücklich sind, erhebt Syme die letzte Frage und Klage: „Hast du jemals gelitten?" Die Spielfreude des Kind-Gottes hat mit der Jagd durch London und dem unsinnigen Karneval absichtlich die Antwort Sonntags auf Symes erste Frage: „Wer bist du?" unterbrochen, um noch einmal das unbegreif-liche und unlösbare Rätsel seiner Gestalt in ihrer ganzen Unsinnigkeit vor Augen zu führen. Denn Sonntag ist Pan und der Sichere Mann. Der Mensch leidet unter

91 ebda. 286 ff.

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der trunkenen Posse dieses heidnischen Gottes, der ihn nur als Spielzeug benützt und als Gottesfriede alle menschlichen Leiden scheinbar verhöhnt. Auberon Quins „Nimm an, ich sei Gott und hätte dies alles geschaffen, um darüber zu ladien"92

wird zur Frage nach den letzten Dingen. Sonntag ist der Gott, der panischen Schrecken sät, um über den Erschreckten zu ladien. Symes letzte Frage ist die Anklage gegen das Spiel, das Pan mit dem Menschen treibt. Syme fragt, ob das Leben des Menschen sinnlos, ob dieser ein Spielball des Schicksals sei. Da ver-wandelt sich Pan-Sonntag in den christlichen Gott, denn seine Antwort ist die Antwort des Christentums. In ihr wird aller heidnische Spuk zwar nicht sinnvoll, aber erträglich. Der Heide Chesterton — denn seine magisch-dämonischen Züge sind heidnisches Erbe — kann das Spiel, das Gott mit der Welt treibt, ertragen, weil er als Christ weiß: auch Gott hat gelitten, nicht nur 'der Mensch, ja, Gott hat gelitten, wie kein Mensch je leiden kann, und spielt trotzdem mit dem Menschen. Das ist der Sinn der letzten biblisdien Worte: „Vermagst du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?" Das Geheimnis des Leidens Gottes in Christo ist der Urgrund des Spiels. Weil Gott noch mehr gelitten hat als der Mensch, muß der Mensch sein Spiel geduldig erleiden. Weil er trotz des Leidens spielt, darf auch der Mensch spielen, Spiele des Unsinns in einer Welt voll Unsinn.

Chesterton nannte sich, als er diesen Roman schrieb, einen Optimisten, weil er „so schrecklich nahe daran war, ein Pessimist zu sein",93 weil er verzweifelt darum rang, einen Sinn hinter allem irdischen Unsinn zu finden. Auf diesem dunklen Hintergrund unausgesprochenen Leidens wirkt die letzte Antwort Sonntags umso heiligender. Sie hat nicht nur auf Chesterton selbst, sondern .auch auf viele seiner Leser gewirkt, hat doch ein Psychoanalytiker bezeugt: "Ich kenne viele Menschen, die nahe daran waren, verrückt zu werden, die aber gerettet wurden, weil sie wirklich den ,Mann der Donnertag war' verstanden hatten."94 Aus dem Leiden erst, das nur ein winziges Stückchen vom Leiden Gottes ist, wächst die tiefste Kindlichkeit in der Uberzeugung: „Die Welt ist die beste aller unmöglichen Welten."95

„Alle Worte und alle Spielereien in einem Lehmklumpen sind wundervoll, und es ist nur geredit zu sagen, daß des Philosophen Worte und Spielereien ebenso wundervoll sind."96 Dieser Satz umfaßt die ganze Welt Gilbert Keith Chestertons, dessen äußere Erscheinung sein Freund Hilaire Belloc einmal mit den Versen paraphrasierte:

He held to the Traditional plan And fortified his own belief In Natural Law, the Rights of Man With Paradox, and Beer, and Beef.97

92 Der Held von Notting Hill 232. 93 Der Mann mit dem goldenen Sdilüssel 105. 94 ebda. 108. 95 G. K. Chesterton, Charles Dickens, London Methuen 1906. Deutsch: Wien Phaidon

o. J., 424. 96 Verteidigung 153. βτ John Guest im Vorwort zu Essays, 15.

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