Grundkurs Theoretische Philosophie - uni-bielefeld.de · Ideenlehre als Platons bekanntester...

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Grundkurs Theoretische Grundkurs Theoretische Philosophie Philosophie

Sommersemester 2009 Sommersemester 2009

1. Theoretische Philosophie in derAntike

1.1 Die Vorsokratiker

Thales von Milet (625-547): „Gründervater“ der Philosophie. Suche nach einer theoretischen Erklärung der Erscheinungswelt.

Annahme eines „Urstoffs‘ (αρχαρχαρχαρχή) Thales: Alles ist Wasser. Unterscheidung zwischen einer vor-dergründigen, scheinbaren und einer hintergründigen, wahren Welt.

Die Dynamik von Sein und Werden: Heraklit vs. Parmenides

Heraklit von Ephesos (ca. 540– 480 v. Chr.): bestän-dig ist allein der Wandel: ππππάνταντανταντα ρρρρέΐ, „Alles fließt“.

Ontologischer Primat von Wandel und Werden: Feuer als (αρχαρχαρχαρχή).

Parmenides von Elea (* ca. 520 v. Chr.): Die Wirk-lichkeit ist unwandelbar und ungeteilt; es gibt keine Veränderung und keine Vielfalt.

Sprachphilosophische Konzeption, nach der sich Bezeichnungen auf Objekte beziehen und Urteile auf zusammengesetzte Objekte.

=> Über das „Nicht-Seiende“ kann man keine sinnvollen Aussagen machen, da der Begriff „Nicht-Seiendes“ keinen Gegenstandsbezug besitzt.

=> Kein leerer Raum möglich.

=> Das Universum ist voll und homogen, sodass keine Bewegung möglich ist.

Empedokles (495/490–435/430 v. Chr.): Mehrzahl fundamentaler Größen mit unterschiedlichen Qualitäten, die selbst unwandelbar sind, aber durch ihre Verschiebung und Bewegung Wechsel und Verschiedenheit erzeugen.

Vier Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft.Versuch, Einklang zwischen der Prämisse der Unwandelbarkeit des Seienden und der Wahrneh-mung von Wechsel und Verän-derung herzustellen.

Mythos und Metaphysik

Bei den Vorsokratikern Übergang vom Mythos zur Metaphysik.Mythos: Rückführung des Naturlaufs auf Überzeu-gungen und Ziele von Akteuren, Anwendung ethi-scher Maßstäbe. Metaphysik: Naturkräfte und Ursachen.

Zwar kennt Aristoteles wieder Ziele in der Natur, aber auch bei ihm folgt das Naturgeschehen eigenen, un-persönlichen Grundsätzen.

Zwar nur unzulängliche Prüfbarkeit: keine Wissen-schaft. Aber Abkehr vom Mythos.

1.2 Sokrates

Sokrates (469–399): Prozess der Wissensgewinnung im Fokus und thematischer Wechsel vom Naturbau zu menschlichen Angelegenheiten.

Hintergrund sog. Sophisten: „Weisheitslehrer“, von Platon wegen ihres Relativismus kriti-siert.

Entsprechend Charakterisierung des Sokrates durch vorbehaltlose Wahrheitssuche.

Wahrheit ist universell, sie gilt für alle, sie ist be-grifflicher Natur, lässt sich also sprachlich ausdrü-cken, und sie ist rational, also vernünftig begründ-bar.

Allgemeinbegriffe als Dreh- und Angelpunkte des Wissens. Das „Aufsuchen der richtigen Begriffe“ steht im Mittelpunkt der Wahrheitssuche. Es geht um Begriffsbestimmungen oder adäquate Definitionen.

Charakteristikum: Methode des „Sokratischen Dialogs“. Erster Schritt: Erkenntnis der eigenen Unwissen-heit. Erörterung der angemessenen Definition mit einem Fachmann des betreffenden Sachbereichs. Dieses Bemühen um die richtigen Begriffe schei-tert.

Weisheit des Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Sokrates, Wittgenstein und der Fortschritt der Sprachphilosophie

Wittgenstein (Philosophische Unter-suchungen 1953): Einheitliche kon-stitutive Merkmale fehlen bei den meisten Begriffen, ohne dass da-durch deren Verständnis beeinträch-tigt würde.

Vielmehr: Die Anwendungsfälle von Begriffen sind in der Regel durch Familienähnlichkeit miteinander verknüpft.

von Merkmalen bestimmt, von denen keines allen Familienmitgliedern zu-kommt und allen Nicht-Mitgliedern fehlt.

=> Keine Eigenschaft, die als Kriterium zur Identifikation der Fami-lienmitglieder geeignet wäre.

Die Zugehörigkeit zur Familie ist durch ein Bündel

Zwar: immer eine Zahl gemeinsamer Merkmalezwischen je zwei Familienmitgliedern,aber: diese Merkmale können für jedes betrachtete Paar verschieden sein.

Notwendige und hinreichende Bedingungen fehlen, ohne dass das Verstehen beeinträchtigt wäre.

Der Eindruck der Aporie entsteht aus einem Miss-verständnis der Funktionsweise der Sprache.

Der Sokratische Dialog als Hebammenkunst

Zweiter, stärker konstruktiver Schritt: gemeinsame Wahrheitssuche. Sokrates übernimmt die Gesprächsführung und stellt leitende Fragen, die sein Gegenüber aus eigenem Nachdenken und erwachender Einsicht beantwortet und dadurch eigenständig Resultate gewinnt.

Sokrates hat nur zutage gefördert, was der unwis-sende Sklave an Verständnis gewonnen hat (oder was in ihm verborgen lag): Gesprächsführung der Hebammenkunst oder „Mäeutik“.

1.3 Platon

Platon (427-347 v. Chr.)

Schüler des Sokrates, der aber zunehmend eigene Wege geht.

387 v. Chr. Gründung der „Platonischen Akademie“

Ideenlehre als Platons bekanntester Beitrag zur Philosophiegeschichte.

Von der Körperwelt gibt es bloße Meinungen (δοξα), keine Erkenntnis (ε̟ιστεµη).=> Die Gegenstände der Erkenntnis liegen jenseits der Erscheinungswelt.

Erkenntnis ist stets begrifflich und allgemein; ihre Begriffe beziehen sich daher auf die unkörperliche Welt der Ideen.

Gegensätzliche Eigenschaften konkreter Einzel-dinge: Möglichkeit falscher Meinungen. => Einzeldinge kein Gegenstand von Erkenntnis.

Gegenstand von Erkenntnis: Sokrates hatte die Allgemeinbegriffe ins Zentrum gerückt.

Allgemeinbegriffe oder Gattungsnamen bezeichnen Gemeinsame vieler Einzeldinge: unkörperliche und überzeitliche „Ideen“ oder „Formen“.

Da sie die Voraussetzung für den Prozess des Erkennens bilden, sind sie auch in der Seins-ordnung primär.

Verhältnis zwischen Ideen und Dingen: „Nachbildung“ oder „Nachahmung“ (µίµησις).

Die Einzeldinge entsprechen den Gattungsbegriffen niemals vollständig; diese zeichnen ein ideales oder vollkommenes Bild, dem kein besonderes Exemplar jemals gleichkommt.

Erkenntnis zielt auf das Aufsuchen von Allgemein-begriffen, die wegen ihrer Invarianz und Generalität eine Welt hinter den körperlichen Erscheinungen abbilden, in der sich das Wesen der Wirklichkeit ausdrückt, indem man vom flüchtigen Wandel der Phänomene absieht.

Im Reich der Ideen sind die Bezugsgegenstände sämtlicher Gattungsbegriffe vertreten.

Platon unternimmt keinen Versuch, die Beschaffen-heit der Erfahrungswelt aus den Prinzipien der Ideenlehre abzuleiten. Von der einsehbaren Welt führt kein Weg zur sichtbaren Welt.

Materietheorie des Timaios

Rückführung der Materie auf mathematische Formen.

Die Wirklichkeit hinter den Erscheinungen Die Wirklichkeit hinter den Erscheinungen besteht aus mathematischen Strukturen. besteht aus mathematischen Strukturen.

Zuordnung der Elemente des Empedokles zu den fünf regelmäßigen Polyedern, den „Platonischen Körpern“.

1.4 Aristoteles 367-347: Mitglied der Plato-

nischen Akademie

343-342: Erziehung Alexan-ders von Makedonien

335-323: PeripatetischeSchule

323: Anklage wegen Gottlo-sigkeit und Flucht aus Athen

Aristoteles (384–322 v. Chr.)

Vermutlich drei Viertel der Aristotelischen Werke sind bereits in der Antike ver-loren gegangen.

Aristoteles räumt der Er-fahrung einen weit grö-ßeren Stellenwert ein als Platon. Sein Stil ist nüch-terner, klarer und genauer.

Raffael Sanzio, La scuola di Atene (1510), Stanza della

Segnatura, Vatikan.

Die Distanz zur Ideenlehre

Kategorien: These vom Primat der Einzeldinge.

„Substanz“: kann selbstständig existieren.

Durch den Vorrang des Einzelnen vor dem Allgemei-nen setzt sich die Aristotelische Ontologie von der Ideenlehre ab.

Jedoch: konträre ontologische Vorstellungen in Metaphysik VII.

„Form“: wesentliche allgemeine Eigenschaften eines Gegenstands.

Kontext: Unterscheidung von „Stoff“ und „Form“. Stoff: weitgehend eigenschaftslos angesetzte Materie, die als Träger von Eigenschaften dient.

„Ontologie des Sandkastens“

Die Formen prägen der Ma-terie spezifische Eigenschaf-ten auf und konstituieren dadurch Einzeldinge.

Gemeinsamkeit beider Aristotelischer Denkansätze: Auch die Substanztheorie der Metaphysik räumt dem Einzelding in gewisser Hinsicht eine Vorrangstellung ein: Die Form eines Gegenstands, die sein Wesen aus-macht, ist nach der Substanztheorie in diesem Gegen-stand, nicht, wie bei Platon, von diesem getrennt im Reich der Ideen.

Der Mensch kann durch Anknüpfen an die Erfahrung Neues entwerfen: „Epagógē“: Wahrnehmung des Allgemeinen im Besonderen.

Aristotelische Distanzierung von Platons Ideenlehre: (1) Wichtigkeit der Erfahrung für die Erkenntnisge-winnung(2) Möglichkeit begrifflicher und theoretischer Inno-vationen als Folge von Beobachtungen.

Die Lehre von den vier Ursachen

Kausalität und Notwendigkeit als die beiden Be-stimmungsstücke von Naturerkenntnis.

Vierfacher Begriff der Ursache:

(1) Die Materialursache (causa materialis) eines Ge-genstands bestimmt, woraus der Gegenstand be-steht.

(2) Formalursache (causa formalis) ist das Wesen eines Gegenstands oder die übergeordnete Gattung.

(3) Die Wirkursache (causa efficiens) bezeichnet die Faktoren, die einen Gegenstand hervorbringen.

(4) Die Zweckursache („causa finalis“) gibt das Ziel oder Bestreben an, das einen Gegenstand zur Exis-tenz bringt.

kalt

heiß

trocken feucht

Erde Wasser

Feuer Luft

Aristotelische Chemie

Vier primäre Qualitäten, die zwei antago-nisti-schePaare bilden: heiß und kalt, trocken und feucht.

Die Qualitäten prägen sich der eigenschafts-losen Materie auf und differenzieren diese zu den Grundstoffen Erde, Wasser, Feuer und Luft aus.

Grundstoffe als Träger von Eigenschaften: Die Elemente verkörpern die vier primären Qualitäten.

Elementumwandlung möglich: Beispiel: Verdamp-fen von Wasser: Wasser (kalt/feucht) wird durch Erhitzen in Luft (= heiß/feucht) umgewandelt

Aristotelische Physik

Unterscheidung zwischen natürlicher und erzwunge-ner Bewegung.Erzwungene Bewegung geht auf äußere Kräfte zurück. Natürliche Bewegung: diejenige Bewegungsform, die einem Körper seiner Natur nach zukommtNatürliche Bewegung strebt von selbst dem „natürli-chen Ort“ des bewegten Körpers zu und kommt dort zum Abschluss.Erzwungene Bewegung wird durch Wirkursachen aufrechterhalten, natürliche Bewegungen durch inne-res Streben und entsprechend durch Finalursachen.

Elemente charakterisiert durch ihre natürlichen Orte und Bewegungen. Schwere Körper (Erde, Wasser): Mittelpunkt des Universums als natürlicher Ort, freier Fall als natürliche Bewegung. Leichte Körper (Luft, Feuer): Nähe der Mondbahn als natürlicher Ort, senkrechte Steigbewegung als natürliche Bewegung.

Unterscheidung zwischen dem „sublunaren“ und dem „supralunaren“ Wirklichkeitsbereich: andere stoffliche Beschaffenheit und natürliche Bewegung: „Äther“ mit natürlicher gleichförmiger Kreisbewe-gung.

Natürliche Bewegung als Gesamtheit der einsinni-gen Veränderungen, deren Ursprung in dem betref-fenden Körper liegt und seiner Natur entspricht.=> Grundsätzlich andere Klassifikation der Phäno-mene.

Auffassung des „natürlichen“ Geschehens in der unbelebten Natur nach dem Vorbild der Zielgerich-tetheit biologischer Prozesse.