RMF 125 2001 NEU - Rhein-Mosel-Fachklinik...

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125 jahre π zukunft 1876 2001 rhein-mosel-fachklinik andernach festschrift zum 125 -jährigen gründungsjubiläum

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125 jahre π zukunft

1876

2001

| RMF| Eine Einrichtung des Landeskrankenhauses (AöR)

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festschrift zum 125-jährigen gründungsjubiläum

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125 Jahre Rhein-Mosel-FachklinikAndernach

Festschrift zum 125-jährigen Gründungsjubiläum 2001

125 Jahre Rhein-Mosel-FachklinikAndernach

Festschrift zum 125-jährigen Gründungsjubiläum 2001

eins

vorwort

Vorwort des Geschäftsführers 6Vorwort des Ärztlichen Direktors 9Grußwort des Sozialministers 11Grußwort des Landrats 12Grußwort des Oberbürgermeisters 13

teil eins125 Jahre Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach

von dr. phil. bettina bouresh

I. Einleitung 14II. 1789–1840: 15

Leib contra Seele – die Anfänge der deutschen Psychiatrie

III. 1825–1878: 18Musteranstalt im Kreuzfeuer: Siegburg, Anfang und Ende

IV. 1865–1882: 19Fünf neue Anstalten für die Rheinprovinz – ein Programm wie in keiner anderen Provinz

V. 1876–1900: 20Gründerjahre, Ausbau Die ersten Dekaden der Anstalt Andernach

VI. 1914–1918: 27So niedrig war die Belegung noch nie: Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit

VII. 1920–1933: 29Aufbruch in die Moderne

VIII. 1933–1945: 32Absturz in die Finsternis: Andernach wird »Zwischenanstalt«

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drei

zwei

IX. Kurzbiographien der ärztlichen Direktoren 1876 bis 1945 37- Porträt Dr. Werner Nasse 1876–1881- Porträt Dr. Friedrich Nötel 1881–1899- Porträt Dr. Nicolaus Landerer 1900–1912 - Porträt Dr. Franz Friedrich Adams 1912–1934- Porträt Dr. Johann Recktenwald 1934–1945

teil zweiZur Geschichte der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach von 1945 bis 2001

von dr. med. stefan elsner

I. Neubeginn nach dem Krieg 40

II. Aufbruch zur Psychiatriereform 43

III. Der Weg zum modernen Zentrum für 45Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie

teil dreiDie Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach heute 48

von dr. med. stefan elsner

Die Struktur der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach einschließlich des Heimbereichs 49

anhang

Quellenverzeichnisse 52Impressum, Danksagung 54

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Vorwort zur Festschrift »125 Jahre Rhein-Mosel-FachklinikAndernach«

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Rhein-Mosel-Fachklinik Andernachfeiert im Jahr 2001 ihr 125-jährigesJubiläum.Die Eröffnung der damaligenrheinischen Provinzial-Irrenanstalt am15. Oktober 1876 war der vorläufigeEndpunkt eines Reformprozesses, derAnfang des 19. Jahrhunderts eingesetzthatte.

Zu dieser Zeit entwickelte sich die Psychiatrie zu einer eigenständigenmedizinischen Fachrichtung. Erstmals begannen Ärzte, sich um psychisch krankeMenschen zu kümmern, Krankheitsbilder zu beobachten und Patientinnen undPatienten nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der damaligen Zeit zubehandeln.Hierzu war die Errichtung von Krankenhäusern notwendig, zu denen auch dieAndernacher Klinik zählte, die in ihrer Grundplanung für 200 Patientinnen undPatienten vorgesehen war.Bei dem heute noch gut erkennbaren historischen Gebäudekomplex handelt essich um ein im damals häufig zugrunde gelegten neoromanischen Baustil errich-tetes sehr modernes Anstalts-Gebäudeensemble jener Zeit, das bis heute mit denhistorischen Gebäudeteilen seine Zweckmäßigkeit als Betreuungseinrichtung fürden Heimbereich behalten hat.Von den Anfängen als rheinische Provinzialirrenanstalt, kurz darauf als Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt, bis zum heutigen Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapieund Neurologie hat die Klinik eine wechselvolle Geschichte erlebt, derendunkelstes Kapitel in der Zeit des Nationalsozialismus stattgefunden hat.Wie viele andere psychiatrische Krankenhäuser war auch die Andernacher Klinikwährend der Zeit des Dritten Reiches in das Euthanasie-Programm der National-sozialisten eingebunden. Als sog. »Zwischenanstalt« diente sie der Weiterverlegungvon Patientinnen und Patienten in die damalige Tötungsanstalt in Hadamar. Nach dem II. Weltkrieg und der Gründung des Bundeslandes Rheinland-Pfalzverbindet sich mit der Bezeichnung »Landesnervenklinik Andernach« dieEntwicklung zur klinischen Behandlungseinrichtung.

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vorwort

Die Einführung von Psychopharmaka in der 50er Jahren sowie begleitende psycho-und soziotherapeutische Methoden erweiterten das Behandlungsspektrumpsychischer Erkrankungen. Die Unterbringungsbedingungen der Patientinnen undPatienten wurden als Folge der Psychiatrie-Enquete der Bundesregierung Mitte der70er Jahre wesentlich verbessert.Im Oktober 1995 verabschiedete der Landtag mit dem Landesgesetz für psychischkranke Personen das rechtliche Fundament für eine umfassende Psychiatrie-Reform in Rheinland-Pfalz. Ziel der Reform war die schrittweise Verkleinerung dergroßen psychiatrischen Landeskrankenhäuser und der Aufbau einer dezentralen,gemeindenahen Psychiatrie. Gleichzeitig sollten mit Blick auf eine effizientere undwirtschaftlichere Unternehmensführung die landeseigenen Fachkrankenhäuserdurch eine neue Trägerstruktur modernisiert werden.Die Landesnervenkliniken Andernach und Alzey sowie das Neurologische Landes-krankenhaus Meisenheim wurden zum 1. Januar 1997 in das neu gegründeteLandeskrankenhaus – Anstalt des öffentlichen Rechts – als neuem Rechtsträgerüberführt. Die Erfahrungen der ersten Jahre ermutigten die Landesregierung, zum1. Januar 2000 mit dem Kinderneurologischen Zentrum in Mainz, dem Landes-sprachheilzentrum in Meisenheim sowie der Reha-Klinik Rheingrafenstein in BadMünster am Stein-Ebernburg drei weitere Einrichtungen dem Landeskrankenhaus(AöR) anzugliedern.Aus der Landesnervenklinik Andernach wurde die heutige Rhein-Mosel-FachklinikAndernach - Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie.Der Weg der Klinik zum modernen Dienstleistungsunternehmen im Gesundheits-und Sozialwesen bekam durch ein flexibles, eigenverantwortliches Kranken-hausmanagement neue Dynamik. Die Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach ist heute als akademisches Lehrkranken-haus der Universität Mainz aktiv an der Ausgestaltung des Psychiatrie-Reform-prozesses beteiligt: Neben einer Psychiatrischen Institutsambulanz betreibt die Rhein-Mosel-Fachklinikvier psychiatrische Tageskliniken in Andernach, Cochem, Koblenz und Mayen. Der teilstationäre Bereich der Klinik hat damit einen Anteil von 21% an dengesamt vorgehaltenen psychiatrischen Betten erreicht.Mit der Umwandlung des ehemaligen Langzeitbereiches in ein psychiatrisches undheilpädagogisches Heim wurde der Enthospitalisierungsprozess chronischpsychisch kranker Menschen verstärkt.Im Jubiläumsjahr 2001 konnte erstmalig in Rheinland-Pfalz eine eigene Stationzur qualifizierten Entzugsbehandlung drogenabhängiger Patientinnen undPatienten eröffnet werden.Hinzu kamen eine Vielzahl von strukturellen baulichen Sanierungs- und

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Modernisierungsmaßnahmen, die aus der ehemaligen Provinzial-Heil- undPflegeanstalt des 19. Jahrhunderts ein hochspezialisiertes Fachkrankenhaus mitdifferenziertem Leistungsangebot, moderner Infrastruktur und qualifiziertemFachpersonal entstehen ließen.Wir betrachten 125 Jahre gelebter und gestalteter Psychiatriegeschichte der heutigenRhein-Mosel-Fachklinik Andernach auch als einen Teil der ökonomischen,gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung der Versorgungsregion– unser Blick ist anlässlich dieses Jubiläums aber ebenso auf die sich in derZukunft abzeichnenden Anforderungen gerichtet.Die Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach wird deshalb weiterhin die Qualität ihrer Leistungen kontinuierlich verbessern, um die psychiatrische undneurologische Versorgung in Rheinland-Pfalz auch in Zukunft auf hohem Niveauzu gewährleisten.Ich wünsche Ihnen eine interessante und angenehme Begegnung mit unsererEinrichtung und der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach für ihr 125-jährigesJubliäum alles Gute.

Norbert FinkeGeschäftsführer Landeskrankenhaus (AöR)

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125 Jahre,Rhein-Mosel-Fachklinik, Landesnervenklinik,Provinzial-Heil- und PflegeanstaltAndernach

Wege und Abwege einer ausHumanität und Reformgeistentstandenen Klinik

In seiner Denkschrift über die»Organisation der RheinischenIrrenpflege« von 1865 forderte K.W.Nasse (1822–1889), der spätere ersteÄrztliche Direktor (1876–1881) der

Andernacher Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt, nicht nur erstmals die Beseitigungder Trennung von »heilbaren« und »unheilbaren« Kranken, er stellte einen fürseine Zeit im Umgang mit den »Irren« ungewöhnlichen Grundanspruch: »Es istdie Forderung, daß alle Irren, welche der Unterbringung in einer Anstalt bedürftigsind … eine Aufnahme in Anstalten finden müssen, welche im Stande undverpflichtet sind, auf ihre Heilung oder Besserung, jedenfalls auf die möglichsteVerbesserung ihrer Lage hinzuwirken«.Den psychisch Kranken wurde hier erstmals ein Anspruch auf humanitären undmedizinischen Beistand zugestanden. Ergebnis dieser Reformplanung war dieGrundsteinlegung für fünf große Anstalten in der Rheinprovinz in unvorstellbarkurzer Aufeinanderfolge (Andernach, Grafenberg und Merzig 1872, Bonn 1873 undDüren 1874), eine gigantische sozialpolitische Anstrengung.Die Andernacher Klinik war ein Kind der Reformpsychiatrie ihrer Zeit, als sie am15. Oktober 1876 eröffnet wurde. Häuser ohne Gitter, große übersichtlicheRäumlichkeiten, Möglichkeiten zur Individualisierung der Unterbringung,Verbesserung der hygienischen Bedingungen waren die bauliche Grundlage zurHumanisierung der Lebensbedingungen der Kranken.Das humanitäre reformorientierte Gründungsmotto K. W. Nasses wurde spätestens1941 von einer verbrecherischen Ideologie mit Füßen getreten, als mindestens1 580 psychisch Kranke aus oder über Andernach im Zuge der »Aktion T4«ermordet wurden.Spät, erst ab Ende der 60er Jahre, im Gefolge der Psychiatrie-Enquete, besann sichdie Nachkriegsgesellschaft ihrer Verantwortung für die psychisch Kranken. Der Aufbruch in die von der Psychiatrie-Enquete von 1975 bestimmte

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Psychiatriereform – innerhalb der Klinik – ist in Andernach verbunden mit demNamen ihres damaligen Ärztlichen Direktors Dr. J. Katscher. (1971–1986).Seit 1991 schließlich – nachdem zeitgemäße Therapieverfahren größeretherapeutische Freiräume erschlossen hatten – zielt eine weitere Reform nichtmehr nur auf eine Optimierung der stationären Versorgung, vielmehr soll diese,wenn möglich vermieden oder verkürzt werden, die Behandlung soll im Verbundder bestehenden sozialen Bezüge gesichert werden: gemeindenahe Psychiatrie istdas Ziel. Die psychiatrische Fachklinik ist Zentrum eines Versorgungssystems, dasmit großer Flexibilität auf ständig sich wandelnde Anforderungen reagieren muss.Die Organisationsstruktur, die diese Flexibilität sichert, wurde 1997 in Form desLandeskrankenhauses (AöR) geschaffen. Seither haben sich die Aktivitäten derKlinik in vielfältiger Weise erfolgreich auch »in die Gemeinde« verlagert, dervorerst letzte der in der Psychiatrie-Enquete vorgegebenen Reformschritte ist damiteingeleitet. Die Klinik öffnet sich nach außen, Mauern fallen.Nach 125 Jahren den Reformeifer der Gründer zum Nutzen der uns anvertrautenPatienten zu erhalten, und eine die Reformen prägende humanitäre Grund-einstellung zu pflegen, wird Voraussetzung sein für eine gedeihliche Zukunft derKlinik.Zu diesem Jubiläum wünschen wir uns die Großzügigkeit der Politiker, das Wohl-wollen der Öffentlichkeit und das Vertrauen unserer Patienten.

Dr. med. Fritz HilgenstockÄrztlicher Direktor der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach

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Grußwort

Die Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach kann auf eine 125-jährige, wechselvolleGeschichte zurückblicken. Die Gründung von »Irrenanstalten« im ausgehenden 19.Jahrhundert war – anders als dies heute häufig gesehen wird – ein Akt derHumanität. Menschen mit »Verrücktheiten« und »Absonderlichkeiten« wurdennicht mehr als Kriminelle behandelt und in Gefängnisse oder Arbeitshäuserweggesperrt, sondern ihr Anderssein wurde als Erkrankung begriffen. Mit derGründung der damaligen »Irrenanstalten« oder – wie sie später genannt wurden –Heil- und Pflegeanstalten wurden eigene Lebenswelten für psychisch krankeMenschen geschaffen.Dieser ursprünglich humane Gedanken wurde im 20. Jahrhundert in seinGegenteil verkehrt: Die Anstalten waren schnell überfüllt, in Zeiten wirtschaftlicherNot wurden psychisch kranke Menschen als »Ballast« begriffen. Dieses pervertierteDenken führte im Nationalsozialismus zur Vernichtung dieser Menschen.Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Geschichte der psychisch kranken Menschenlange Zeit verdrängt. Erst mit der Vorbereitung der Psychiatrie-Enquete Anfang der70er Jahre wurde die menschenunwürdige Unterbringung psychisch krankerMenschen in großen Wachsälen ohne einen privaten Raum thematisiert. Dieverstärkte Nutzung der modernen Psychopharmaka führte dazu, dass auch bisherscheinbar »hoffnungslose Fälle« behandelbar wurden. Die Einweisung in einpsychiatrisches Krankenhaus war keine Sackgasse mehr, sondern führte zurück indas gesellschaftliche Leben.Die Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach hat diesen Wandel zu einem modernenFachkrankenhaus in den letzten 20 Jahren beispielhaft vollzogen. Sie ist einZentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie geworden. Sie isteingebunden in das gemeindepsychiatrische Angebot der Region und hat somitden humanen Gedanken, der zu ihrer Gründung führte, wieder entdeckt undverwirklicht.

Florian GersterMinister für Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes Rheinland-Pfalz

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Grußwort

»Ende der Veranstaltung« betitelte der bekannte Psychiater Klaus Dörner einesseiner Bücher über die Chronisch-Kranken-Psychiatrie. Natürlich meint DörnerVeranstaltung nicht im Sinne von Fest oder Vorführung. Die »Anstalt«, die in demWort steckt, auf die kommt es an. »Anstalt« war auch lange ein Synonym derRhein-Mosel-Fachklinik. Die Chronik verschweigt nicht, dass es Jahrzehnte dauerte,bis man (an)erkannte, dass es um Menschen geht, die Hilfe brauchen wie jederandere Kranke auch. Das ist mutig, das ist gut so.Heute werden Patienten wegen ihrer Krankheit nicht mehr stigmatisiert.Körperlich und psychisch kranke Menschen sind gleichgestellt. AmbulanteEinrichtungen und die gemeindenahe Psychiatrie haben das Ziel, die Menschen inihrem vertrauten Umfeld zu behandeln – und ihnen ein selbstbestimmtes undeigenverantwortliches Leben zu ermöglichen. Der Kreis Mayen-Koblenz und dieStadt Koblenz weisen darauf in ihrem ersten gemeinsamen Psychiatriebericht hin.Auch das Andernacher Landeskrankenhaus formuliert dies in seinem Namen: Als»Fachklinik« wird sie künftig höhere Ansprüche durch eine weitere Spezialisierungauf bestimmte Krankheitsbilder zu erfüllen haben. Ich bin sicher, dass ihr diesgelingt und wünsche allen, die mit der Rhein-Mosel-Fachklinik und ihremkünftigen Weg verbunden sind, eine gute Zukunft, Engagement und viel Kraft fürdie Arbeit. Es lohnt sich, denn es geht um die Würde der Menschen, die unsererHilfe bedürfen.

Albert Berg-WintersLandrat des Kreises Mayen-Koblenz

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Grußwort

Psychisch kranke Menschen zählen in unserer Gesellschaft leider immer noch zuden Randgruppen. Diesen Menschen zu helfen und versuchen, sie in dieGesellschaft wieder zu integrieren, gehört deshalb zu unseren vordringlichstenAufgaben.Seit nunmehr 125 Jahren ist es den Bürgern unserer Stadt gelungen, ohneVorurteile in einem harmonischen Miteinander mit den psychisch krankenMenschen zu leben. Voller Stolz kann ich daher behaupten, dass in Andernachdiese Menschen zu jeder Zeit, tagaus und tagein, respektiert, geachtet undanerkannt werden.Die beispielhafte Einrichtung der Rhein-Mosel-Fachklinik mit ihren Abteilungender Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie trägt hierbei einen großen Anteildazu bei, diese Menschen aus der näheren und ferneren Umgebung bei demBemühen zu fördern, ihr Leben weitgehend selbständig zu gestalten.Viele Patienten bekommen hier die Möglichkeit, sich und ihrer Umwelt zubeweisen, dass Ihnen die Krankheit weder den Willen noch die Bereitschaftgenommen hat, teilweise selbstverantwortlich und eigenständig Leistungen zuerbringen.Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle den Verantwortlichen, aber vor allemdem Pflegepersonal, welches mit Tatkraft, Einsatz und sozialem Engagementunseren kranken Mitmenschen wertvolle Hilfe bietet.Der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach möge es daher in der Zukunft nie daranfehlen, ihren humanen Gedanken weiter zu verfolgen, um unseren krankenMitmenschen das Leben so lebenswert als irgendwie möglich zu gestalten.

Achim HüttenOberbürgermeister der Stadt Andernach

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teil eins125 Jahre Rhein-Mosel-Fachklinik Andernachvon dr. phil. bettina bouresh

I. Einleitung

Das Jubiläum der heutigen Rhein-Mosel-Fachklinik in Ander-nach, der ehemaligen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt, bietetden Anlass, auf 125 Jahre Psychiatriegeschichte zurückzublicken.Die 1876 als »Provinzialirrenanstalt Andernach« in Betriebgenommene ist eine von fünf gleichartigen Anstalten, die imZeitraum von zehn Jahren vom damaligen rheinischen Provin-ziallandtag in einer enormen finanziellen Anstrengung errich-tet worden sind. Sie bezeichnen für die Rheinprovinz den Beginneiner neuen Ära der »Irrenversorgung«, mit der die naturwis-senschaftlich fundierte und als Teildisziplin der Medizin eta-blierte Psychiatrie ihren Einzug ins Rheinland hält.

»Andernach« und ihre vier Schwestern sind eingebunden ineine Entwicklung, deren Anfänge auf die Wende vom 18. zum19. Jh. zurückgehen. Gleichzeitig weisen sie in eine Zukunft,die auch heute, nach 125 Jahren, nicht als »abgeschlossen« gel-ten kann. Psychiatriegeschichte, das wissen alle, die in der Psy-chiatrie leben und arbeiten, ist nichts Statisches. Sogar derBlick zurück ist geprägt von der Zeit, aus der dieser Blick kommtund insofern Veränderungen unterworfen.

Nach Jahren des entsetzten Schweigens als Reaktion auf die

Verbrechen der NS-Zeit gerade auch in der Psychiatrie habensich in den letzten zwanzig Jahren Forschungen und Wortmel-dungen Bahn gebrochen, die mittlerweile zu einem breitenund detaillierten Kenntnisstand geführt haben. EinzelneAnstaltsgeschichten, besonders im Zusammenhang mit ihrerVerstrickung in die NS-Euthanasie, wurden in großer Zahl ver-öffentlicht.

Im heutigen Rheinland (Nordrhein), das den nördlichen Teilder früheren »Rheinprovinz« (bis 1945) umfasst, war von 1991bis 2000 ein Sonderprojekt damit befasst, rheinische Psychia-triegeschichte detailliert auszuleuchten und Quellenmaterialfür zukünftige Forschungen zur Verfügung zu stellen. Für diePsychiatriegeschichte des Rheinlandes sind damit Entwick-lungslinien von den Anfängen der Rheinprovinz zu Beginndes 19. Jh. bis ins 20. Jh. hinein sichtbar geworden, die die Ein-ordnung einzelner Anstaltsgeschichten erleichtern.

Die Errichtung einer neuen Anstalt zur Versorgung akutund chronisch Geisteskranker in Andernach für den Regierungs-bezirk Koblenz 1872/76 bedeutet einen Eckpunkt auf dem Wegder Institutionalisierung der rheinischen »Irrenfürsorge«. Schonbei der Vorgängerin in Siegburg wurde die Provinz die verant-wortliche Trägerin. Jedoch bildet sich erst in der

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Auseinandersetzung um Siegburg ein modern zu nennendesVerständnis für die Geisteskranken und Geistesgestörten her-aus, einer gesellschaftlichen Gruppe, die bis zur Aufgabe vonSiegburg von den politisch Verantwortlichen als eher lästigund immer verdächtige Klientel betrachtet wurde.

II. 1789–1840: Leib contra Seele – die Anfänge der deutschen Psychiatrie

Die Anfänge der deutschen Psychiatrie liegen keineswegsim Dunkeln. Vielmehr zeigen sie sich erleuchtet von der Auf-klärung und vor allem dem lodernden Widerschein der Fran-zösischen Revolution. Dass die Menschen frei, gleich und brü-derlich seien, breitete sich wie ein Lauffeuer von Paris in alleHimmelsrichtungen aus.

Die Einsicht, dass die Randexistenzen der damaligen Ge-sellschaft – »Gesindel«, Waisen, Krüppel, darunter »Irre« –auch Menschen seien und menschliche Behandlung verdien-ten,

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»Stillhalten für den Photographen bei der Feldarbeit« Nahrungsmittel in eigenem Anbau zu erzeugen half Notzeiten zu überwinden und war eine wichtigeBeschäftigungsmöglichkeit, hauptsächlich für männliche Patienten. Andernach (undatiert)

brauchte länger, bahnte sich aber ebenfalls ihren Weg. DieKunde vom Pariser Arzt Philippe Pinel, der 1789 den Auftragerhielt, im Namen der Revolution die berüchtigte Pariser Anstalt»Hospice de Bicetre« zu reformieren; die Berichte über diezusammengepferchten Gesetzlosen aller Art, die dort elend ihrLeben fristeten; und die staunenswerten Veränderungen, diePinel durch sein Wirken erreichte, stießen auch in Deutsch-land auf ein Echo. Angeregt durch das Studium privater, nachhumanitären Grundsätzen geführter Irrenanstalten in England,hatte Pinel den Geisteskranken in Bicetre und später in derPariser Frauenanstalt Salpétrière die Gefängnisketten abnehmenlassen und ihnen einen Status als Kranke zugestanden. NachKrankheitsformen untergebracht und ärztlich behandelt, genos-sen sie Menschenwürde wie nie zuvor und dankten es ihm.Pinels Schüler Jean Etienne Dominique Esquirol setzte das Werkseines Lehrers fort. Die Organisation des Irrenwesens in Frank-reich, erste Gesetze und der Bau der bei Paris gelegenen Mus-teranstalt Charenton gehen auf Esquirol zurück. Die »franzö-sische Schule« galt in der Psychiatrie des frühen 19. Jh. alsführend.

In Deutschland waren es von der romantischen Philosophiebeeinflusste Mediziner, die sich im Gefolge der FranzösischenRevolution und ihrer Botschaft näher mit dem Schicksal derGeisteskranken und Geistesgestörten befassten. Johann Chris-tian Reil (1759–1813), Stadtphysikus und Professor für Medizinin Halle, prägte den Begriff »Psychiatrie« in seinem 1803 ver-öffentlichten Werk »Rhapsodien über die Anwendung der psy-chischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen«. Seine Theorienüber die Beziehungen zwischen Seele und Körper und derAuslösung von »Seelenreizen« zur Behandlung Geisteskrankerstützte er auf eigene Studien in den Zucht-, Waisen- und Toll-häusern seiner Zeit. Reil vertrat ähnlich wie Johann ChristianHeinroth (1773–1843), Lehrbeauftragter auf dem ersten »Lehr-stuhl für psychische Therapie« seit 1811 in Leipzig, die Ansicht,es gelte die Seele zu heilen. In seinem Hauptwerk »Lehrbuchder Störungen des Seelenlebens« (1818) legte Heinroth aus-führlich seine Auffassung dar, Geisteskrankheiten rührten ausselbst verschuldetem sündhaftem Verhalten. Diese »Psychiker«lieferten sich erbitterte Auseinandersetzungen mit den sog.

»Somatikern«, die sich mehr an einer naturwissenschaftlich aus-gerichteten Medizin orientierten und Geistesstörungen auf kör-perliche Defekte zurückführten. Bedeutende Vertreter der »soma-tischen« Richtung waren der Arzt und Direktor der ersten rhei-nischen Provinzialirrenanstalt in Siegburg, Maximilian Jacobi,und der mit ihm befreundete Friedrich Nasse, der erste Profes-sor für Medizin an der 1818 eröffneten Universität in Bonn.

Wirkliche Neuerungen für die Lage der Geisteskranken brach-te die Gründung einer ganzen Reihe von Anstalten zur »Irren-behandlung«, die an verschiedenen Orten Deutschlands in rascherAbfolge gegründet wurden.

1805 begann der Arzt Johann Gottfried Langermann, dasTollhaus in Bayreuth vom Arbeits- und Zuchthaus zu trennenund in eine Anstalt zur Heilung von Irren zu verwandeln.1810 wechselte er nach Berlin, um das preußische Medizinal-wesen zu leiten.

1811 gründete der »Somatiker« Pienitz die viel besuchte AnstaltSonnenstein im sächsischen Pirna, 1825 folgte Maximilian Jaco-bi mit der Gründung von Siegburg, 1830 gründete Karl Flem-ming die Anstalt Sachsenberg, 1834 folgte Zeller mit der AnstaltWinnenthal, 1836 schloss Heinrich Damerow an mit der Anstaltin Halle und schließlich konnte Christian Roller 1842 die AnstaltIllenau eröffnen.

Die Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin entwickelte sichbis zur Mitte des 19. Jh. in enger Verbindung mit der Anstalts-praxis. Nur hier fand man genügend »Fälle« vor, die Verglei-che ermöglichten und die Forschung anregten. Die großenZeitschriften des 19. Jh., wie die von Nasse und Jacobi 1838begründete »Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung derkrankhaften Seelenzustände«, und dann die bedeutende, 1844von Damerow, Roller und Flemming ins Leben gerufene »All-gemeine Zeitschrift für Psychiatrie«, stellten mit ihren Berich-ten aus der forschenden Praxis einen Fundus für die Entwick-lungsgeschichte der Psychiatrie dar. Hier wurde jede Neuigkeitmitgeteilt, Auffälliges offen diskutiert, Fragen veröffentlicht,Wege gewiesen. Die jungen Ärzte wurden angehalten, sich inden Zeitschriften zu äußern und so den Forschungsdiskursweiterzuführen. Der Nachwuchs wurde weitgehend in den An-stalten ausgebildet.

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Dies begann sich mit einer neuen Generation von jungenPsychiatern zu ändern, zu denen Wilhelm Griesinger (1817–1869) gehörte. Mit der frühen Veröffentlichung seines grund-legenden Lehrbuchs »Pathologie und Therapie der psychischenKrankheiten« (1845) rückte er zu den maßgeblichen Nachwuchs-kräften auf. Als Anstaltsarzt war er mit der Praxis einiger Anstal-ten in Berührung gekommen, die demokratische Bewegungvon 1848 ließ ihn nicht teilnahmslos. Er hielt das alte Anstalts-system für überholt und machte neue revolutionäre Vorschlä-ge. Veränderung der Praxis durch Einrichtung kleiner, stadtna-her »Stadtasyle« für die akut Kranken und der Umwandlungder bestehenden großen Anstalten in Bewahranstalten für dieLangzeitkranken. Veränderung der Theorie durch die Verlage-rung von Ausbildung und Forschung aus den Anstalten an dieUniversitäten. Mit den Vorschlägen zur praktischen Behand-lung nahm er Ideen vorweg, die uns mehr als hundert Jahrespäter in den Forderungen der »Reformpsychiatrie« wieder begeg-nen. – Zu Griesingers Zeiten rief solches Ansinnen die Anstalts-psychiater auf den Plan. Sie setzten Griesinger massiven Wider-stand entgegen, allen voran Heinrich Laehr. Wohl zu Recht sahensie die Position ihrer Anstalten bedroht. Und doch war die Ent-wicklung nicht aufzuhalten. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.büßten die früher so hochangesehenen Anstalten gegenüber denUniversitätskliniken an Ruf ein, eine Entwicklung, die mancheheute noch nicht für beendet halten. Im Verhältnis zu denUniversitätskliniken erhielten die Anstalten mehr und mehrdie Aufgabe, die Masse der undankbareren Patienten aufzu-nehmen und zu versorgen.

Das 19. Jh. war, im Rheinland besonders, eine Zeit raschenwirtschaftlichen Wachstums. 1 Mit der Industrialisierung wuch-sen die Städte, traditionelle ländliche Gesellschafts- und Lebens-strukturen wurden verdrängt. Das blieb nicht ohne Wirkungauf die Entwicklung psychischer Störungen und geistiger Krank-heiten. Anstaltsdirektoren, niedergelassene Ärzte, Politiker sahensich mit einem unfassbaren Problem konfrontiert: einem stetig wachsenden Strom von anstaltsbedürftigen Patienten. JederVersuch, mit statistischer Berechnung und vorausschauenderPlanung der Entwicklung Herr zu werden, scheiterte. Erst mitdem Ersten Weltkrieg kommt es zu einer Zäsur.

Das 19. Jh. ist das Jahrhundert der naturwissenschaftlichenEntdeckungen. Die Medizin forschte wie in einem Rausch:Epoche machende Entdeckungen wie die von Louis Pasteur,Rudolf Virchow und Robert Koch trugen zur Ausbreitung desGrundgefühls dieser Zeit bei: man rückte in großen Schrittendem Traum des Menschen näher, die Natur, die Welt schienbeherrschbar. In dieser Stimmung fiel die Veröffentlichungvon Charles Darwin »Über die Entstehung der Arten« auf frucht-baren Boden. Das Prinzip des »Kampfes ums Dasein«, derAuswahl der Besten, fing an, die Köpfe mancher Exzentrikerzu beschäftigen. Die Trends der Zeit machten vor der Psychia-trie nicht halt: hier standen die naturwissenschaftlich orientier-te Hirnforschung und die Neurologie im Zentrum des For-scherinteresses. Die von Emil Kraepelin um die Jahrhundert-wende entwickelte Klassifikation der psychiatrischen Krankheits-formen findet bis heute Anerkennung. Ende des Jahrhundertshatte sich die Psychiatrie in Deutschland als Teildisziplin derMedizin ihren Platz an den Universitäten erobert. 2

Vor diesem Hintergrund entwickelten sich aus der allgemei-nen wissenschaftlichen Diskussion nahezu unbemerkt Anschau-ungen über die Vererbbarkeit bestimmter geistiger wie auch kör-perlicher Erkrankungen. Aus heutiger Sicht gehören sie zumÜbergang in das 20. Jh., sie begleiten den Weg in die »Moder-ne«. Die Zeit war gekennzeichnet von dem Willen, die Welt zuerobern und zu beherrschen. Und von der Überzeugung, alleMittel in der Hand zu haben, bei diesem Wettlauf der Erste zusein. Die Diskussion, wie man ein gesundes, den modernenLeistungsanforderungen genügendes Volk heranzüchten kön-ne, fügte sich durchaus in dieses Denken ein – und es beschränk-te sich nicht national. Zu fragen ist, wie aus diesen Vorläufernallgemeiner wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskussio-nen konkretes Handeln werden konnte. Von dessen unheilvol-len Ausmaßen wird noch die Rede sein.

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III. 1825–1878: Musteranstalt im Kreuzfeuer: Siegburg, Anfang und Ende

Die 1825 auf dem Michaelsberg zu Siegburg eröffnete Irren-heilanstalt gehörte bei ihrer Gründung zu den Vorreitern einervöllig gewandelten Auffassung gegenüber Geisteskranken. IhrGründer und Leiter Maximilian Jacobi trat mit dem Anspruchan, als Arzt Geisteskranke erfolgreich behandeln und heilen zukönnen. Siegburg sollte deshalb nur Patienten aufnehmen, dieals voraussichtlich heilbar galten. Jacobi stand der Anstalt alsArzt vor. Gleichzeitig regelte er als deren Verwalter sämtlichedie Anstalt betreffenden Angelegenheiten.

Ausgelegt war die umgebaute ehemalige Benediktinerabteiursprünglich auf 200 Plätze. Sie füllten sich zunächst lang-sam, das Angebot musste dann jedoch schon bald auf 300 biszu 400 Plätze erhöht werden. Die Patienten lebten in mehre-ren Abteilungen, grob nach vier Krankheitsgruppen unterschie-den. Die meisten waren von der Gemeinde oder der Provinzbezahlte Kranke vierter Klasse. Ihnen stand insgesamt wenigerKomfort zu als den Selbstzahlern der 1., 2. und 3. Klasse. Sieschliefen in Schlafsälen, hatten Anstaltskleidung zu tragen, beka-men einfachere Kost und weniger Vergnügungsangebote. Die »Kur« begann nach einer unter Umständen mehr-monatigen Beobachtungszeit, in der genauestens der Zustanddes Kranken von der Aufnahme an protokolliert wurde. War erals »heilbar« aufgenommen worden, so konnte sein Aufenthaltin Siegburg bis zu einem Jahr dauern. Auch nach der Entlas-sung finden sich häufig noch Hinweise in der Krankenakte. 3

Vielfach geht daraus u. a. hervor, dass der Patient nicht geheiltwerden konnte. Wurde der Patient als unheilbar beurteilt, somusste er die Anstalt verlassen. Er kehrte entweder in seineFamilie zurück oder wurde in eine »Bewahranstalt« für Lang-zeitkranke verlegt.

Schon bald stellte der Anspruch der »Heilbarkeit« die Anstaltvor nahezu unlösbare Probleme. Das Beurteilungsverfahren wiesmanche Mängel auf. Die Grenzen zwischen »heilbar« und»unheilbar« erwiesen sich als fließend und der Ansatz gerietauch unter den Psychiatern immer mehr in Kritik. Mitte des

Jahrhunderts waren längst neue Anstalten gegründet worden,die dazu übergegangen waren, »heilbare« und »unheilbare«Patienten in einer Anstalt zu versorgen. Fachärztlich konnte Sieg-burg seinen guten Ruf aufrecht erhalten und wurde immerwieder von Arztkollegen besucht. Dennoch muss vieles, nichtnur sichtbar an den Gebäuden und ihrer Ausstattung, schließ-lich überholt gewirkt haben. Voller Respekt beschreibt Carl Pelman, der später selber Direktor rheinischer Provinzial-anstalten wurde und den ersten ordentlichen Lehrstuhl fürPsychiatrie in Bonn erhielt, wie er als ausgezeichneter Studentder Medizin das berühmte Siegburger Praktikum antritt undüberall in der Anstalt das Wirken des inzwischen verstorbenenDirektors noch spürbar ist. Jacobi und sein Freund FriedrichNasse hatten ein mehrwöchiges Praktikum für Bonner Medi-zinstudenten in Siegburg eingeführt, um der Irrenpflege einenguten ärztlichen Nachwuchs zu sichern. Tatsächlich habenmehrere Generationen rheinischer Irrenärzte die Schule vonSiegburg durchlaufen.

Maximilian Jacobi vertrat den Anspruch der Irrenheilanstaltmit unerschütterlichem Engagement. Als Arzt eine anerkann-te Kapazität, war er von der Anstaltsgründung an harten Anfein-dungen seitens der Trägerverwaltung und der ständischen Ver-treter im Provinziallandtag ausgesetzt. Siegburg war in den Augender Politiker zu teuer, und es trug nichts zur Unterbringungder »unheilbaren« Fälle bei. Die Protokolle der Provinzialland-tagssitzungen, in denen die ungeliebte Anstalt regelmäßig »aufden Prüfstand« kam, lesen sich heute wie unglaubliche Pos-sen, Jacobi müssen sie auf harte Proben gestellt haben. Nochhärter war, dass der Anstalt unter Jacobis Leitung keine weiteren Zuschüsse, keine Erweiterungen, keine Modernisie-rungen zugestanden wurden. Nach dem Tode Jacobis 1858 wardie Anstalt in desolatem Zustand.

Hygienisch und technisch hoffnungslos überaltert, perma-nent über die Belastungsgrenzen hinaus überfüllt, entsprachsie schon längst nicht mehr dem Bild der einstigen Muster-anstalt, zu der Fachleute gekommen waren, um sich über dieVersorgung von mehreren hundert Irren, deren Krankheitsbil-der und Heilungschancen ein Bild zu machen. Der Nieder-gang der Anstalt war auch von seinen Nachfolgern, Friedrich

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Hoffmann und Werner Nasse, nicht mehr aufzuhalten. Diewirtschaftlichen und vor allem die sanitären Einrichtungen warenseit Jahrzehnten hoffnungslos überfordert gewesen. Es fehltean sauberem Wasser, an zeitgemäßen Toiletten, die Holzkesselder Kochküche faulten. Immer wieder wurde Siegburg vonEpidemien heimgesucht.

Der erste Nachfolger Jacobis, Friedrich Hoffmann, hatte sichnur drei Jahre nach Antritt seiner Direktorenstelle in Siegburgaus Verzweiflung über die unlösbaren Probleme in der Anstaltin den Rhein gestürzt.

Der zweite Nachfolger Jacobis, Werner Nasse, verlor seineFrau in den ersten Monaten nach dem Eintreffen in Siegburgbei einer Typhusepidemie in der Anstalt. Werner Nasse decktenun schonungslos alle Mängel von Siegburg auf. Einer Kom-mission des Provinziallandtages, die auf seine Bitte hin 1864nach Siegburg kam, legte er seine Denkschrift 4 vor, in der ervorschlug, die Anstalt Siegburg aufzugeben und das Irrenwe-sen in der Rheinprovinz von Grund auf neu zu organisieren.

Seine konstruktive Kritik fand Gehör. Die Kommission hat-te sich vor Ort entsetzt über die dort vorgefundenen Zuständegezeigt und entsprechend Bericht erstattet. Die Kommissions-mitglieder machten keinen Hehl aus ihrer Scham über dielangwährende Vernachlässigung der ihnen anvertrauten »armenIrren« in Siegburg.

Das Ende von Siegburg zeichnete sich ab – jegliche Investi-tion wurde als überflüssig betrachtet. Stattdessen orientierte sichder Provinziallandtag auf eine komplette Neuorganisation derIrrenversorgung in der Provinz.

IV. 1865–1882: Fünf neue Anstalten für die Rheinprovinz – ein Programmwie in keiner anderen Provinz

Schon ein Jahr, nachdem der Siegburger Direktor auf die skandalösen Zustände in der provinzialen Irrenfürsorge auf-merksam gemacht hatte, beschloss der 18. Provinziallandtag1865, den Vorschlägen Werner Nasses in den wesentlichen Punk-ten zu folgen. - Jeder der fünf Regierungsbezirke der Rheinprovinz sollte eine

eigene, neu zu errichtende Provinzialirrenanstalt erhalten. Aufdiese Weise sollte vor allem frisch Erkrankten eine schnelleBehandlung auf kurzen Wegen ermöglicht werden. Denn alleBeobachtungen der Fachärzte sprachen für die besten Heilungs-aussichten je früher der Kranke behandelt werde.- Jede der neuen Anstalten sollte 200 bis 300 Patienten Auf-nahme bieten und unter der Leitung eines Arztes stehen.Größere Einheiten hielten die ärztlichen Ratgeber im Sinneder Heilungschancen für schädlich. Für den RegierungsbezirkDüsseldorf wurden 300 Plätze in Grafenberg geplant; für denRegierungsbezirk Aachen 300 Plätze in Düren; für den Regie-rungsbezirk Bonn 300 Plätze in Bonn; für die Regierungs-bezirke Trier und Koblenz nur je 200 Plätze in Merzig/Saar-gebiet und Andernach, weil es hier bereits Bezirksanstaltenfür chronisch Kranke gab: die Abteilung für geisteskranke Pfleg-linge im Landarmenhaus Trier und die Anstalt St. Thomas inAndernach.

- Die Anstalten sollten für alle Krankheitsbilder offen stehen undHeilbare und Unheilbare aufnehmen.

Nach einer umfangreichen Vorbereitungs- und Planungs-phase, zu der die sorgfältige Auswahl geeigneter Grundstückegehörte, wurde im Jahr 1872 an drei Standorten gleichzeitigder Grundstein gelegt. Andernach folgte Grafenberg als zweiteAnstalt am 15. April 1872. Bekannte Anstaltspsychiater berie-ten die provinzialen Bauplaner fachlich. Dazu gehörten Werner Nasse, weiter der bekannte Direktor der Berliner Pri-vatanstalt »Schweizerhof« Heinrich Laehr, und der Direktorder Anstalt in Hildesheim Snell, dem die Planung im Detailfür Andernach oblag. Gemessen an den Siegburger Verhältnis-sen stellten die neuen Anstalten alles in den Schatten, was dieProvinz bis dahin für ihre Geisteskranken und -gestörten unter-nommen hatte. Doch wurde auch von Anfang an Kritik geäu-ßert, dass die neuen Ansätze weit zurückblieben im internatio-nalen Vergleich. In England war man schon Mitte des Jahr-hunderts dazu übergegangen, allen Zwang in Irrenanstaltenabzuschaffen. Aber Conolly’s kühnes Konzept des »no res-traint« fand in der Rheinprovinz um diese Zeit noch keine Nach-ahmer.

Abgesehen von geländespezifischen Abweichungen lag allen

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Neubauten das gleiche Bauprogramm zugrunde: abseits destäglichen städtischen Getriebes gelegen, dennoch verkehrstech-nisch gut erreichbar, gehörten Ruhe und Abgeschiedenheit derAnstalt zum Heilkonzept. Alle zur Anstalt gehörigen Gebäudewurden komplex, untereinander verbunden und symmetrisch,nach »Geschlechtsseiten« aufgeteilt, angelegt. Verwaltung, Direk-torenwohnung, ruhige Kranke im vorderen Bereich, die Unru-higen an der Peripherie, in der Mitte die Wirtschaftsgebäude.Obwohl möglichst alles unter einem Dach anzulegen war, erhieltjede Abteilung einen ummauerten Hof oder kleinen Garten.Die Abteilungen waren verbunden durch überdachte und gemau-erte Gänge, die Fenster vergittert und die gesamte Anstalt um-zäunt. Technisch entsprach man den Anforderungen, 200 –300 Patienten und dem erforderlichen Personal die notwendi-gen Annehmlichkeiten des Lebens zu bieten, mit den Möglich-keiten der Zeit.

Innen plante man ausgesprochen großzügig: pro Patienteine Fläche von 21,6 qm. Geräumige Korridore dienten als Tages-räume, in denen sich die Patienten aufhielten. Das tägliche Lebender Patienten spielte sich in diesen Räumlichkeiten und demumgrenzten Außenbereich ab. Zur Ruhigstellung unruhigerPatienten erhielt jede Anstalt ihre Isolierabteilung. Die abschre-ckenden, Strafen gleichenden Disziplinierungs- und »Schock«-maßnahmen des frühen 19. Jh. gehörten der Vergangenheitan. Die Isolation hielt sich bis Ende des Jahrhunderts als typi-sche Behandlungsform.

Von Anfang an zum Konzept gehörte eine landwirtschaftli-che Fläche bei jeder Anstalt. Sie sollte nicht nur die ökonimi-sche Selbstversorgung der Anstalt gewährleisten, sondern denPatienten sinnvolle und angenehme Beschäftigungsmöglich-keiten bieten, soweit sie dazu in der Lage waren. Lange bevorHermann Simon 1923 in Gütersloh den Begriff der »Arbeits-therapie« prägte, wurde in der rheinischen Psychiatrie die Beschäf-tigung der Kranken hochgeschätzt. Werner Nasse hatte in sei-nem Bericht über sein neues Wirkungsfeld Andernach 1880notiert: »Für die Ruhe und Ordnung, für das Wohlbefindenund die Heilung und Besserung der Kranken ist eine regelmä-ßige und mannigfache Beschäftigung derselben weitaus dieHauptsache«.

V. 1876–1900: Gründerjahre, Ausbau: Die ersten Dekaden der Provinz-Heil- und Pflegeanstalt Andernach

Baugeschichte»Für den Regierungsbezirk Coblenz wurde am 3. April 1869

an der Andernach—Mayener Aktienstraße ein 11,68 ha großesTerrain für die neue Anstalt bestimmt. Maßgebend waren beider Wahl des Platzes: die freie landschaftlich ansprechende Lage,die leichte Zugänglichkeit, guter Baugrund, das Vorhanden-sein einer natürlichen, für Trinkwasserversorgung geeignetenQuelle und die Nähe der Bezirks-Irrenbewahranstalt St. Tho-mas …«.5

Je 100 Frauen und Männer sollten in je vier Häusern pro»Geschlechtsseite« Aufnahme finden:- Haus 1 für je 16 Pensionäre (d. h. selbst zahlende gut

situierte Patienten)- Haus 2 (mit einer Reservestation) für 44 ruhige Kranke- Haus 3 für 20 »Halbruhige«, 10 »Unreinliche« und

10 »besonders zu Beobachtende« (mit einer »Infirmerie« = Krankenstation im 2. Stock)

- Haus 4 für 8 unruhige Kranke.Dazu Gebäude für die Verwaltung und Wirtschaft sowie ersteWohnungen für die Beamten.

Unmittelbar an die Anstalt schloss sich eine ca. 4,5 ha große landwirtschaftlich nutzbare Fläche an, deren Gering-fügigkeit wiederholt beklagt wird. Sie wurde im Laufe der Jahre mehrfach erweitert, vor allem während des Ersten Welt-krieges. Nach der Grundsteinlegung am 15. April 1872 wurdedie Anstalt, trotz »mannigfacher Änderungen« des Baupro-gramms während der Bauzeit, in vier Jahren fertig gestellt undkonnte am 15. Oktober 1876 eröffnet werden, als zweite derneuen rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten nachDüsseldorf-Grafenberg. Erster Direktor in Andernach wurde Wer-ner Nasse, der im Mai 1876 von Siegburg nach Andernach wech-selte. Noch im Eröffnungsjahr wurden zwischen Oktober undDezember die ersten 54 Patienten aus dem Regierungsbezirk

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Lageplan der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach. Andernach um 1900

Koblenz, darunter einige Patienten aus den Anstalten in Sieg-burg und von St. Thomas, in die neue Anstalt überführt. Dievorgesehenen 200 Plätze waren im folgenden Berichtsjahr 1877belegt. Die Andernacher »Provinzialirrenanstalt«, wie sie anfäng-lich hieß, sollte vor allem Heilanstalt sein und Pflegepatientennur in kleiner Anzahl aufnehmen. Die ersten Jahre in Ander-nach erscheinen im Spiegel der Tätigkeitsberichte von Anfangs-unruhen bestimmt. Bereits 1881 fand der erste Direktoren-wechsel statt: Nasse übernahm die neue Anstalt in Bonn inVerbindung mit einer Stelle als Honorarprofessor an der Bon-ner Universität, dafür kam Friedrich Nötel von Merzig nachAndernach. Wegen der Neueröffnung in Bonn war das Jahr1881/82 von einem »besonders starken Beamtenwechsel« 6

gekennzeichnet. Auch beim Pflege- oder »Wartpersonal« fandein ungemein starker Wechsel statt: die Statistiken der erstenJahre belegen einen jährlich nahezu kompletten Wechsel derPflegerinnen und Pfleger. Darüber hinaus ging die Bautätig-keit auf dem Gelände ununterbrochen weiter. Zuerst war esdie Fertigstellung aller Gebäude, aber schon unter Nasse stell-ten sich erste bauliche Mängel heraus, denen zahlreiche weite-re Ergänzungs- und Abänderungsarbeiten folgten. Als »erheb-liche Störung« beschrieb Nötel 7 die nötig gewordenen Umbau-arbeiten an fast allen Wasserleitungen sowie den Toiletten-,Wasch- und Badeanlagen in der voll belegten Anstalt und beilaufendem Betrieb. 1879 brannte das Frauenhaus 4 (Isolier-haus für Unruhige) fast vollständig ab, wurde aber durch einneues ersetzt, das Ende 1880 in erweiterter Form bezogen werden konnte. Das entsprechende Männerhaus erfuhr 1888eine Erweiterung. – Bereits im Jahre 1879 war der Krankenbe-stand in Andernach auf 300 Patienten gestiegen. Kaum zehnJahre nach der Eröffnung, 1885, lag die Patientenzahl bei 400,1887 überschritt sie 450 Patienten. Dank der anfänglich groß-zügigen Auslegung der Anlage bereitete es zunächst keine Schwie-rigkeiten, mehr Patienten als geplant unterzubringen. Dochreichten bald die Kapazitäten vor allem der Sanitär- und Wirt-schaftseinrichtungen nicht mehr aus. Besserung brachte erst einneuerliches Bauprogramm der Provinz, das der 40. Provinzial-landtag 1887 angesichts der nicht nur in Andernach eingetre-tenen Notstände in der Irrenversorgung beschloss. Mit dem

Bau zweier ganz neuer Anstalten im modernen Pavillonstil inGalkhausen (Langenfeld) und Viersen gingen der Ausbau unddie Modernisierung der schon bestehenden Anstalten einher.Auch diese Bauarbeiten zogen sich hin. Noch im Jahre 1908wurden in Andernach durch Ausbau von Dachgeschossen zwei»Lazarette« mit 50 Plätzen bereitgestellt, so dass die Anstaltim Jahr 1911 nach Erweiterung des Gutshofes und der Wirt-schaftsanlagen offiziell 500 Patienten fassen konnte. Die Umbau-arbeiten wurden durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen: nochimmer gab es Gasbeleuchtung, war es noch nicht gelungen,sie gegen elektrisches Licht auszutauschen.

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Das Gelände der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach in einer frühenLuftbildaufnahme (Ausschnitt, undatiert). Links unten ist die Aktienstraße zuerkennen.

Die ÄrzteDer erste Direktor, wie schon erwähnt, war Werner Nasse,

zuletzt Direktor der Anstalt in Siegburg, Geheimer Medizinal-Rat. Er blieb von der Eröffnung der Anstalt Andernach die erstenfünf Jahre. Ihm folgte 1881 Friedrich Nötel von Merzig kom-mend, Geheimer Sanitäts-Rat. Er wurde zum Juli 1899 »wegenKrankheit« pensioniert und starb noch im gleichen Jahr. ImMärz 1900 folgte als dritter Direktor Dr. Nicolaus Landerer,der 1912 plötzlich verstarb. Zu seinem Nachfolger wurde Dr. Franz Friedrich Adams ernannt, der 1934 pensioniert wur-de. Dessen Nachfolger wurde Johann Recktenwald bis 1945.

In der Liste der zweiten Ärzte, Oberärzte, Assistenz- undVolontärsärzte tauchen eine Reihe von Namen auf, die durchmehrere rheinische Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten wandern, manche von ihnen schließlich selber auf Direktoren-posten.

Bis 1899 war der leitende Arzt der alleinige Direktor derAnstalt. Ihm stand ein zweiter Arzt als Unterstützung zur Seite, darüber hinaus ein Assistenzarzt und ein Volontärsarzt.Die Verwaltung wurde unterstützt von einem Verwalter, einemRendanten und zwei Schreibern.

Schon Nötel bedauerte, 8 »daß die Volontairarztstellen so wenigvon den jungen Ärzten in Anspruch genommen werden« undversuchte mit der Möglichkeit zu werben, in der Anstalt wert-volle praktische ärztliche Erfahrungen machen zu können. Wiees um die ärztliche Verantwortung, vor allem bei der steigen-den Patientenzahl, bestellt war, wird im sog. »Fall-Weber-Ander-nach« deutlich, der 1895 seinem Höhepunkt zustrebte. Ein PatientWeber hatte sich zu Unrecht jahrelang in der Andernacher Anstalt»interniert« gefühlt und dagegen geklagt. Der Fall kam an dieÖffentlichkeit und erregte einiges Aufsehen, vor allem, da umdiese Zeit ähnliche Vorfälle an anderen rheinischen Anstaltenpublik geworden waren, die dem öffentlichen Ansehen der Irren-pflege sehr schadeten. Ganz auf der Seite seines KlientenWeber, übte Rudolf Finkelnburg in der Rolle des Gegengutach-ters offen Kritik: an der Art der Entmündigungsverfahren, derEinweisung in eine Anstalt, an den untragbaren Zuständen inden Anstalten. Letztere jedoch seien wesentlich auf die völligeÜberlastung der verantwortlichen Ärzte, vor allem des Direk-

tors, zurückzuführen. Schlechte Absichten seien im Fall Ander-nach bei den Ärzten und insbesondere dem Direktor auszu-schließen. »Aber wer mit der Organisation unserer großen An-stalten in Rheinland und Westfalen vertraut ist, der weiß auch,daß es für den mit verantwortlichen Verwaltungsgeschäften, Cor-respondenzen, Repräsentationspflichten und dazu noch con-sultativer Praxis überhäuften Director schlechterdings unmög-lich ist, über den jeweiligen Zustand und über die darauf zubegründende Anstaltsbedürftigkeit von 450–600 Kranken sichaus eigener Beobachtung ein selbstverantwortliches Urteil zubilden und fortlaufend zu erhalten.« 9

Nicht nur Finkelnburgs Charakterisierung »unseres in vie-len Beziehungen reformbedürftigen Irrenwesens« war es zu ver-danken, dass »der dichte Schleier von üblen Anstaltsvorkomm-nissen« gelüftet und die Provinzialverwaltung sich unter dem

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Ein »Team« der Andernacher Anstalt (Ausschnitt, undatiert)Die Umsetzung der preußischen Sozialreformen von 1891/93 zeitigten balderste Erfolge. Mehr Ärzte, erste Aufstiegschancen und bessere Entlohnung fürPflegekräfte

öffentlichem Druck zum Handeln gezwungen sah. Das schonerwähnte erneute Bau- und Modernisierungsprogramm von 1897war eine der Folgen. Erheblicher Druck war auch entstandennach der Sozialgesetzgebung von 1891/93, wonach die Provin-zen zur Fürsorge für ihre Körperbehinderten und Geisteskran-ken einschließlich der Epileptiker verpflichtet wurden. DerAndrang auf die Anstaltsplätze war dadurch noch einmal gewal-tig gestiegen. Bis 1899 erfolgte eine Reform der Irrenfürsorgeund ihrer Organisation, wozu die Entlastung des Direktors 10

durch die Einführung eines Verwaltungsdirektors, der Übertra-gung von mehr Verantwortung auf den zweiten Arzt und derAnstellung von mehr Ärzten – je ein Arzt auf 100 Patienten –gehörte. Dem Pflegepersonal gestand man Verbesserungen inBezug auf seine Stellung und Entlohnung zu. Die eingetrete-nen Verbesserungen zeitigten bald ihre Wirkung. Durch die Ein-führung einer Pensionsberechtigung für bewährte Pflegekräfte,die Einführung von Stationspflegern – und damit dem Anreizfür berufliches Fortkommen – sowie gestaffelter Einkommenbreitete sich ein zunehmendes Zugehörigkeitsgefühl zur Anstaltund wachsende Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit denanderen Beamten und vor allem den Ärzten aus. Eine Ausbil-dung erhielt das Pflegepersonal aber weiterhin lediglich inForm von praktischem und theoretischem Unterricht durch dieAnstaltsärzte. Erst 1920 wurde mit der Einführung einer zwei-jährigen Lernzeit und Abschlussexamina der Berufsstand desPflegers eingeführt. Die Reichsverordnung vom 13. Februar 1924legte die Arbeitszeit des Krankenpflegepersonals verbindlich fest.Die tariflich ausgehandelte Pflegerarbeitswoche hatte damals60 Arbeitsstunden.

PatientenDie Patienten der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt waren

in vier Pflegeklassen eingeteilt, nach dem Muster der Siegbur-ger Anstalt. Die 1., 2. und 3. Klasse waren Selbstzahler, dieaber den geringeren Anteil der Kranken ausmachten. Den weit-aus größten Anteil hatte die 4., die sogenannte Normalklasse.Es handelte sich bei ihnen um Patienten, die auf öffentlicheArmenkosten verpflegt wurden. Um eine schnelle Einlieferungin die Anstalt nach einer Erkrankung zu befördern, gab es

»Freistellen« für Kranke, die in den ersten sechs Monatennach ihrer Ersterkrankung in die Anstalt kamen. Die Klassenbeinhalteten unterschiedliche Standards in Bezug auf Kost undLogis, Betreuung, Kleidung und die Freizeitangebote.

Für alle gleich war die ärztliche Behandlung und die Teil-nahme an den gesellschaftlichen Ereignissen im Anstaltsjahr.Es war üblich, sechs größere Feste im Jahr mit allen Patientengemeinsam im Festsaal zu feiern: Im Oktober das sog. Stiftungs-fest, das Nikolausfest, das Weihnachts- und Dreikönigsfest,Vorabend vor Kaisers Geburtstag und Karneval, außerdem dieZweitfeiertage von Ostern, Pfingsten und Weihnachten unddie Andernacher Kirmes. Für die nötige Unterhaltung sorgtenMusik- und Theaterdarbietungen, von auswärts engagierte Wan-derschauspieler, Jongleure und Tanz. »Die bei solchen Gele-genheiten früher übliche Verabreichung von Spirituosen«, wird1904 angemerkt, »wurde allmählich ganz eingestellt und zwarnicht zum Nachteile eines ruhigen und geordneten Verlaufesder Feste. Nach Bedarf wird dafür Limonade gereicht, worun-ter die Fröhlichkeit nicht leidet. Auch ist dadurch einer größe-ren Anzahl von Kranken, besonders auch den Alkoholisten dieTeilnahme ermöglicht. An diesen Festen beteiligen sich auchdie Ärzte und Anstaltsbeamten mit Familienmitgliedern.« 11

Besondere Erwähnung wert war »eine über 1 400 Bände zäh-lende Unterhaltungsbibliothek.« Einer der Ärzte nahm die Auf-gabe als Bibliothekar wahr »und es ist ein Zeichen guter Bücher-verwaltung, daß bei stets mindestens 60 kursierenden Bändenz.B. in einem Jahr nicht mehr als 10 Bände verloren gingen.«– In den Abteilungen waren für die Unterhaltung der Krankeneinige Klaviere vorhanden, Spiele, Tageszeitungen und Illustrier-te. Wöchentlich einmal gab es Gesangsstunden, nach Männernund Frauen getrennt und gelegentlich – ebenfalls getrennt –Spaziergänge oder einen Ausflug mit allen Patienten, derenZustand es erlaubte.

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KrankenbeschäftigungMit Werner Nasse als erstem Direktor der Andernacher Anstalt

erhielt die Beschäftigung der Patienten eine hohe therapeuti-sche Bedeutung. Im Durchschnitt waren von den Männern40–50% und von den Frauen sogar 60–70% beschäftigt, dieMänner vor allem bei Feldarbeit und Gemüsebau, bei Instand-haltungsarbeiten der Anlagen und Gärten, der Höfe und Wege,die Frauen bei der Hausarbeit, wozu Mithilfe in der Koch- undWaschküche gehörten, Gemüseputzen, Flicken und Stricken.Darüber hinaus boten zahlreiche Werkstätten wie Schlosserei,Schuhmacherei, Tischlerei, Schneiderei, Bürstenmacherei, eineBambustischlerei und die anstaltseigene Bäckerei unterschied-lichste Arbeitsmöglichkeiten. 1904 12 wurde beklagt, dass dieAnstalt leider von Anfang an über ein zu geringes landwirt-schaftlich zu nutzendes Areal verfüge. Dieses Problem konnteerst 20 Jahre später gelöst werden, als die Provinzial-Heil- undPflegeanstalt Andernach die Ländereien der 1920 aufgege-benen Anstalt St. Thomas übernehmen konnte. Damit konnteauch endlich der alte Gutsbetrieb mit seinen Gerüchen undFliegen aus der unmittelbaren Nähe des Krankenhausbetriebesverlagert werden. Die Beschäftigung der Mehrzahl der Kran-ken war eine gut gepflegte Tradition in Andernach, seit NassesZeiten »einer der wichtigsten Heilfaktoren«. Selbstbewusstwurde 1904 festgestellt, dass von Gründung der Anstalt an inder Regel 40–50%, zeitweilig sogar 60% der Männer und 60–70% der Frauen beschäftigt waren. Zahlen, die in der damali-gen Zeit, »wo die Bedeutung der Beschäftigung noch lange nichtso allgemein anerkannt war wie heute«, die höchste Anerken-nung verdienten. Einzelne arbeitende männliche Kranke mitfreiem Ausgang, so wurde erwähnt, erhielten bisweilen »einbescheidenes Taschengeld« für ihre Arbeit, womit sie sich anSonntagen beim Spaziergang kleine Erfrischungen leisten konn-ten.

KlassifikationBestand, Zugänge und Abgänge der Patienten, ihre Erkran-

kungen und deren Verlauf, wurden Jahr für Jahr statistisch genau-estens erfasst. Diese Statistiken vermitteln einen guten Eindrucküber die Entwicklung der Psychiatrie. Es lässt sich verfolgen,

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Zwei Beispiele für Beschäftigungsmöglichkeiten: die Marmeladenküche und dieFlechtwerkstatt, Andernach (undatiert) Die Reproduktionen stammen von gerasterten Vorlagen, was auf eine frühereVeröffentlichung schließen lässt.

wie die Klassifikation der psychiatrischen Erkrankungen voneiner recht groben Unterteilung ausgehend sich immer mehrverfeinerte und differenzierte. Bei Nötel 13 wurden die Aufnah-men von 1880–1887 in fünf Krankheitsformen eingeteilt:- »Einfache Seelenstörung« (487 M = Männer / 571 F = Frauen)- »Paralytische Seelenstörung« (99 M / 22 F) - »Seelenstörung mit Epilepsie« (46 M / 34 F) - »Imbecillität und Idiotie« (20 M / 13 F) - »Delirium potatorum« (2 M) - »Nichtgeisteskrank« (2 M)

Auffallend in den ersten Tätigkeitsberichten ist die für heuti-ges Verständnis diffuse Begrifflichkeit, die der »Erblichkeit«einen hohen Stellenwert zumisst: »Unter den ursächlichenVerhältnissen [für Erkrankungen des Geistes] steht die Erblich-keit voran«, stellt Nasse lapidar fest 14 und fährt fort: » … diepsychischen Ursachen, welche fast immer mit körperlichenverbunden sind, entziehen sich überhaupt der statistischen Erfas-sung ...«. Nötel folgt diesem Ansatz 1887. In seinem Berichtgibt es eine ausführliche, mit zahlreichen Tabellen »belegte«Darstellung der Erblichkeit von Geisteskrankheiten. Nötel fasstzusammen: »Es ergibt sich, daß unter 1 475 Aufnahmen nichtweniger als 810 erblich belastet sind, also 54,91%.«

Seit 1881 erhielt die Anstalt Andernach forensische Patien-ten zur Beobachtung. Nötel widmet ihnen eingehende Betrach-tungen 15 und plädiert in einer Zeit, wo noch ganz unklar ist,ob diese Klientel besser in Zuchthäusern oder Irrenanstaltenzu »bewahren« sei, für eine möglichst frühe Einlieferung sol-cher Patienten in die Anstalten – wo sie allerdings zu den »unlieb-samsten Gästen« gehören würden.

KrankenbehandlungIn den Beschreibungen der Anfangsjahre wurden außer den

»üblichen« Krankheitsfällen, die in großen Anstalten immerwieder vorkämen – Grippe, Rose, Tuberkulose – keine epide-mischen Erkrankungen festgestellt. Darmkatarrhe mit Erbre-chen und Fieber wurden fast jeden Sommer angezeigt, im Juni1884 erkrankten daran 105 Kranke und 12 WärterInnen, wobeikeine Todesfälle erwähnt wurden.

Ein großes Problem bis zu Beginn des 20. Jh. stellten dieunruhigen Patienten dar und die Suche nach geeigneten Mit-teln, sie zu beruhigen und umgänglich zu machen. 1904 16

wird für die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach ver-merkt, dass von Beruhigungs- und Schlafmitteln, wie auch frü-her »nur ein mäßiger Gebrauch« gemacht werde. MechanischeBeschränkungen der Kranken hätten schon seit dem Bestehender Anstalt nur ausnahmsweise stattgefunden. Schon 1888 hat-te der zweite Andernacher Direktor Friedrich Nötel vermerkt,dass die Zwangsjacke für Ärzte und Pfleger zum »mythischenBegriff« geworden sei. Dennoch war noch im gleichen Jahrdas Männerisoliergebäude erweitert worden. Seit 1898 habe jedeIsolierung der Kranken aufgehört, hieß es 1904, alle Zellentü-ren seien beseitigt, bei einigen wenigen Ausnahmen werde nachtsnicht mehr abgeschlossen.

Zum Thema »Zwang« gehören die Ausführungen Nötels 17

unter »Einige therapeutische Mitteilungen« über die Frage der künstlichen Ernährung. Wie er feststellte, gab es darübersich widersprechende Ansichten und Diskussionen unter den Fachleuten. Für Andernach berichtete Nötel von der Ver-abreichung einer »Füttersuppe«: » 1/2 Liter Milch, 2–3 Eier,50–100g Zucker mit einem Glase alkoholischen Getränks«. In hartnäckigen Fällen, wo wochenlange Fütterung nötig war,wurde durch Unterbrechungen von einigen Tagen versucht,die Patienten zum Selbstessen zu bringen: »doch in den meis-ten Fällen ohne Erfolg«. 18

An die Stelle »mechanischer Beschränkungsmittel in derAnstaltsbehandlung der Kranken«, von der man sich 1904gänzlich abgekommen sah, war in Andernach früh, seit Endeder achtziger Jahre, die Bettbehandlung getreten. In aus-gedehnterem Maß war sie jedoch erst nach Erhöhung des Pfle-

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gepersonals seit 1897 [1897: 51 PflegerInnen, 1900: 74 Pfleger-Innen; 1901: 81 PflegerInnen] und nach Vermehrung der Nacht-wachen möglich. Zu den neuen Behandlungsformen in Ander-nach gehörte nach den feuchten Einpackungen, die noch beiNötel 1880/87 19 ausführlich erwähnt werden, aber schon Mit-te der neunziger Jahre nur noch vereinzelt vorkamen, die »aus-gedehnte Anwendung« warmer Bäder.

Bei unruhigen Kranken sei sie an der Tagesordnung, wird1904 berichtet, häufig über zehn Stunden. Im Jahre 1901, dasverdiente seinerzeit besondere Erwähnung, seien zwei unruhi-ge Kranke vorwiegend aus chirurgischen Gründen fast vierWochen Tag und Nacht (mit Nachtwache) »beständig im war-mem Bade gehalten« – dieser Behandlung hätten sie wohl ihrLeben zu verdanken.

Therapeutisch wurde der Übergang in das 20. Jh. für dierheinische Psychiatrie mit dem Reformprogramm von 1897f.gewiesen. Bett- und Bäderbehandlung, in Andernach schon längsterprobt, wurden bis 1899 in allen Provinzial-Heil- und Pflege-anstalten Standard. Mit dem Umbauprogramm und ent-sprechenden Mitteln wurden die baulichen Voraussetzungengeschaffen, um die Patienten in Wachsälen behandeln zu kön-nen. Die Isolierung von Kranken war ab 1898 generell ver-boten. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg begann 1910 die Erpro-bung der »Familienpflege«, bei der geeignete Kranke in Fami-lien im weiteren Umkreis einer Anstalt untergebracht werdensollten. Das Vorbild war die belgische Gemeinde Gheel, in derdiese Form der Irrenversorgung eine jahrhundertealte Tradi-tion war. Die ersten positiven Ergebnisse dieser neuen und vorallem kostengünstigen Unterbringung und Versorgung vongeistesgestörten Patienten konnten 1913 aus Galkhausen undWaldbröl berichtet werden.

Doch wurden diese Versuche durch den Ersten Weltkriegunterbrochen.

VI. 1914–1918: So niedrig war die Belegung noch nie: Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit

Der Erste Weltkrieg bedeutete für die gesamte Entwicklungder Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach einen tiefenEinschnitt. Mit Kriegsbeginn 1914 machten sich zunächst kei-ne abrupten Veränderungen bemerkbar, ab 1916 wurden jedochdie Auswirkungen spürbar und unübersehbar. Vor allem Hun-ger quälte die ganze zivile Bevölkerung. In den Anstalten stell-ten sich die Probleme aber noch schärfer. Im Archiv des Land-schaftsverbandes Rheinland ist eine Akte überliefert »Einwir-

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Eine Schwester in ihrer Dienstkleidung (Ausschnitt, vor gemalter Kulisse,undatiert) vermutl. Andernach

kungen der Kriegsereignisse auf das Anstaltsleben« 20 mit einemeindrucksvollen Bericht, der im Rückblick schildert, wie dieAnstalt den Krieg überlebt hat.

PatientenbestandSchon im ersten Kriegsjahr verringerte sich der Bestand auf

der Männerseite, wahrscheinlich durch Einberufungen, dieaber nicht erwähnt werden. Darüber hinaus wurde zu Beginndes Krieges ein Reservelazarett für verwundete geisteskrankeSoldaten in der Anstalt eingerichtet, dem die Patienten inPrivatanstalten ausweichen mussten. Im Berichtsjahr 1919 wur-de der niedrigste Patientenbestand festgestellt, den die AnstaltAndernach je aufzuweisen hatte und der noch nicht für dasEnde dieser Entwicklung gehalten wurde: 187 Männer und 191Frauen. Bei den Frauen war eine »gewaltige Zunahme« derTodesfälle zu registrieren, weit mehr als bei den Männern. ImVerwaltungsjahr 1916/17 starben 94 Frauen (im Vergleich dazu1913/14: 36 Frauen), im November 1918 allein waren es 18Frauen. Als häufigste Todesursache zwischen dem Oktober1916 und August 1917 wurden Paralyse und Tuberkulose ange-geben, daneben Altersschwäche, Herzschwäche und Erschöp-fung. Im Sommer 1917, heißt es in dem Bericht, war die Unter-ernährung am schlimmsten. Die daraus folgende allgemeineSchwächung des Gesundheitszustandes bildete die Vorausset-zung für die epidemische Ausbreitung von Krankheiten. ImNovember forderte eine bösartige Grippe 29 Todesopfer unterden Patienten. Allgemein stieg die Sterberate in den Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten von 7% im Jahre 1913 auf 20% im Jahre 1917; 1919 wurde der niedrigste Krankenbestand registriert. 21

HungerAb 1916 wurde die Beschaffung von Lebensmitteln immer

schwieriger, da es im freien Handel nicht mehr viel gab. Dankdes Reservelazaretts, das Anstaltsdirektor Adams bis zur Ein-richtung einer eigenen Heeresverwaltung 1916 ebenfalls als Chef-arzt leitete, fielen gelegentlich Lebensmittel über die Heereslei-tung für die Anstalt ab. 1916 mussten die Patienten aber aufKriegskost gesetzt werden. Trotz der besonders schwierigen

Beschaffung von Futter für die Milchkühe konnte das anstalts-eigene Gut die schlimmsten Engpässe überwinden helfen und»mit großer Sparsamkeit« kam die Anstalt »ohne nennenswer-te Zuschüsse« über die Kriegsjahre.

Auswirkungen für das PersonalFür das Personal war die Lage erschwert durch die Einberu-

fung einer Reihe von Ärzten und Pflegern. Da Hilfskräfte diePfleger auf längere Zeit nicht ersetzen konnten, wurden Pfle-gerinnen auf der Männerseite eingesetzt. Die Erfahrungen,konstatierte Direktor Adams nach dem Krieg in aller Kürze,waren »nicht günstige«.

BauarbeitenErstaunlich mutet an, dass in diesen Jahren die Modernisie-

rungsarbeiten in der Anstalt weitergingen, wenn auch beschränktauf die notwendigsten Arbeiten: gemeldet werden die Erweite-rung von Koch- und Waschküche, die Installation einer Dampf-heizung in einigen Häusern und die Verlegung von Kabelröh-ren für das elektrische Licht. Das Kesselhaus erhielt einen neu-en Kessel und einen größeren Schornstein: eine Maßnahme,die auf den Patientenbestand vor dem Krieg berechnet gewe-sen sein dürfte. Ebenso wurden in den Frauenhäusern 2 und 3 neue moderne Wachsäle mit Bade- und Toilettenan-lagen eingerichtet und das Dach von einem dieser Häuser er-neuert.

Der Bericht weist am Ende auf die Lehren aus diesem Kriege hin. Die wichtigsten: Um die Versorgung der Anstaltunabhängig von äußeren Einflüssen zu gewährleisten, müssefür einen eng an die Klinik gebundenen Personalstamm gesorgtwerden. Dazu gehöre, die Wohnverhältnisse der Pfleger zu verbessern und ihnen Wohnraum auf dem Anstaltsgelände zurVerfügung zu stellen. Die Eigenversorgung der Anstalt müssein Zukunft auf enge Zusammenarbeit mit Produktionsgenos-senschaften ausgerichtet sein statt sich vom Markt abhängig zumachen. Schließlich gelte es, alle Arbeiten soweit möglich maschi-nell zu erledigen, vor allem die Küche brauche Küchenmaschi-nen.

Bei aller nüchternen Protokollierung der Schrecknisse des

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Zeit. Doch bevor sich die Verhältnisse stabilisierten vergingennoch einige Jahre fortgesetzter Schwierigkeiten. Zum Beginnder Besatzungszeit Ende Dezember 1918 wurde in der Anstaltein amerikanisches Feldhospital errichtet. Weil die PHP Ander-nach, ähnlich wie die anderen Anstalten, nach dem Kriegsendereichlich über freie Plätze verfügte, wurden 1920 die von derProvinz bezahlten Kranken aus der Irrenbewahranstalt St. Tho-mas in Andernach sowie aus der evangelischen Anstalt Wald-bröl in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach über-führt und St. Thomas aufgelöst. Der Gutshof von St. Thomaswurde für die PHP erworben, die ihr Gut dafür aufgab.

Im November 1921 verlor die Rheinprovinz im Zuge desVersailler Vertrages das Saargebiet: für einen Teil der Patientender PHP Merzig musste die PHP Andernach einspringen undsie aufnehmen. 1921 war erstmals wieder ein Anstieg des Patien-tenbestandes in Andernach zu beobachten.

Im Zuge der Novemberrevolution 1918 wurden Arbeitszeit,Lohn und Urlaub des Pflegepersonals und der sonstigen Ange-stellten an den Heil- und Pflegeanstalten geregelt. Damit warder erste Schritt getan, den Pflegerberuf im Bereich der Irren-pflege zu etablieren. Die 1. und 2. Pflegeklasse wurden aufge-hoben, 3. und 4. wurden zur 1. und 2. Klasse.

VII. 1920–1933: Aufbruch in die Moderne

Das Wissen um die Ursachen geistiger Erkrankungen undStörungen hatte sich seit der Jahrhundertwende mit zuneh-mender Schnelligkeit erweitert. Die Psychiatrie war als Fachdis-ziplin an den medizinischen Fakultäten etabliert, die alte Ein-heit von praktischer Irrenpflege, Forschung und Lehre an denAnstalten der ersten Hälfte des 19. Jh. war längst der Tren-nung in Praxis in den Anstalten einerseits und Forschung undAusbildung in den Universitätskliniken andererseits gewichen.Von dem internationalen Ansehen der deutschen Psychiatriean der Schwelle zum 20. Jahrhundert zehrte das Fach lange. Eswaren keine spezifisch deutschen Überlegungen, die nach derErblichkeit geistiger Störungen zu fragen begannen, in vielenLändern Europas und in den USA gab es diese Diskussion.

Eine besondere Brisanz erhielten diese Fragen aber wohl durchdie Ernüchterung des Ersten Weltkrieges in Deutschland. DasHeer der Kriegsversehrten, ihr unübersehbares Elend und diewirtschaftliche Notlage der unmittelbaren Nachkriegsjahre warenvergleichendem Denken förderlich: man begann, die Versorgungunproduktiver Kranker in »palastähnlichen« Anstalten gegen dieLage bettelnder Kriegskrüppel und arbeitsloser Proletarier auf-zurechnen. Die Erinnerung an den dramatisch anschwellen-den Strom von anstaltsbedürftigen Geisteskranken vor dem Kriegstand im Gegensatz zu den drastisch gesunkenen realen Bestands-zahlen in den Anstalten. Auf der Suche nach ökonomischenLösungen begannen manche Experten, erste bedenkliche Vor-schläge ernsthaft in Betracht zu ziehen. Parallel zur Einfüh-rung der Familienpflege nach dem Vorbild des belgischen Gheel,zu Versuchen, mit »Offener Fürsorge« die Provinzialanstaltenzu entlasten und die Wohlfahrts- und Gesundheitsämter regu-lär in die Irrenfürsorge mit einzubeziehen, begannen Diskus-sionen um Rassehygiene und die Unterscheidung von »lebens-wertem« und »lebensunwertem« Leben lauter zu werden. DerWeg in die »Moderne« in den Jahren nach dem Ersten Welt-krieg beinhaltete für die Psychiatrie beides: Fortschritte in derBehandlung mit neuen Therapien, gleichzeitig rigoroseres Um-gehen mit dem Patienten: der Mensch war in ganz neuen Dimen-sionen »Material« geworden, eine zu berechnende Größe.

Rückgang von Alkoholismus Während die vor dem Krieg so hoffnungsvoll begonnene Fami-

lienpflege seit 1917 wegen der schwierigen Versorgungslage rück-läufig war und die Familien ihre Pfleglinge zurück in dieAnstalten schickten, gab es in anderen Hinsichten Neuigkeitenim therapeutischen Bereich. Offenbar mit großem Erstaunennahmen die rheinischen Psychiater wahr, dass die vor dem Krieghohe Anzahl Alkoholkranker in den Anstalten während derKriegsjahre rapide und bis auf Null gesunken war – Anlass füreine medizinische Dissertation, erschienen in Bonn 1918: »Überden Rückgang der Alkoholistenaufnahmen bei der Civilbevöl-kerung seit Ausbruch des Krieges an der PHP Andernach«.Der Autor Willy Josten verglich mit den bekannten statisti-schen Verfahren die infrage kommenden Patientengruppen.

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Seine Überlegungen deckten sich mit den Vermutungen ande-rer Ärzte, unter ihnen Joseph Peretti, auf den er sich ausdrück-lich berief: Im Krieg war das Bier so verwässert, dass man sich daran unmöglich betrinken konnte; die Produktion von Korn-branntwein, dem bevorzugten »Schnaps der Armen« wurdeeingestellt; alle übrigen Alkoholika konnten sich die Anstalts-alkoholisten nicht mehr leisten; die Einführung der Polizei-stunde machte das Übernächtigen in Kneipen schwer; es gabfast keine Feste mehr. Das Ergebnis, das praktisch vollständige Ver-schwinden des Alkoholistenproblems, lege nahe, in Zukunftdie Erreichbarkeit von Alkoholika zu erschweren.

Typhus1927/28 erschien in der »Psychiatrisch-neurologischen

Wochenschrift« ein Bericht von Dr. Dietrich über das Auftre-ten von Typhus in Andernach. 22 Wiederholt war Typhus (»Darm-katarrh«) in der Anstalt aufgetreten. Bei zwei dokumentiertenAusbrüchen 1905/06, bei denen die Anstalt »in ungewöhnlichemGrade« von Abdominaltyphus heimgesucht worden sei, mitvier Todesfällen, vermutete er die Ursache in der Anstalts-küche, da auch Pflegepersonal betroffen war. Für drei weitereepidemieähnliche Erkrankungswellen in den Jahren 1907/08,Sommer 1916/17 und Sommer 1926 kann er keine Ursachenbenennen. Das einzig probate Mittel sei die Isolierung derErkrankten.

Mitte der zwanziger Jahre gibt es deutliche Anzeichen fürdie zunehmende Bedeutung medikamentöser Behandlung inder PHP Andernach. Am 1. April 1924 wurde eine anstalts-eigene Apotheke eingerichtet. Unter der Leitung von DirektorAdams und später Direktor Recktenwald fand sich die Ander-nacher Anstalt in vorderster Front beim Experimentieren mitneuen Therapien, vor allem den Schocktherapien mit Malaria-fieberanfällen, Insulin und Cardiazol und schließlich Elektro-schocks.

Malariabehandlung Als erster aus den Anstalten der Rheinprovinz berichtete

der Andernacher Anstaltsarzt Dr. Dietrich von Experimenten

Andernacher Direktors Adams wurden seit 1926 männliche undweibliche Patienten in einer eigens dafür eingerichteten Abtei-lung mit künstlichen Fieberschocks behandelt. Dietrich klagteüber die niedrige Aufnahmeziffer: »Mangels frischer Paralyti-ker mußte – um den Malariastamm zu erhalten – vielfach aufältere Paralysefälle zurückgegriffen werden, die voraussichtlichauch durch die Behandlung mit Malaria keine Aussicht aufBesserung boten.« Als der Malariastamm dennoch ausstarb,bekam man Unterstützung aus der Ehrenwall’schen Anstalt inAhrweiler. Aus der Zusammenfassung der Jahre 1926 bis 1928geht hervor, dass von 44 behandelten Paralytikern - 6 gestorben sind (einer nachweislich an den Folgen der Behand-

lung)- 6 mit gutem Erfolg entlassen werden konnten- 9 gebessert entlassen werden konnten, wovon 2 in die Anstalt

zurückkehrten- 6 erheblich gebessert in der Anstalt wertvolle Arbeit leisteten- 6 eine leichte Besserung aufwiesen- 11 unverändert blieben.

CardiazolbehandlungDie Erprobung neuer Therapien wurde unter dem Nachfol-

ger Adams, Dr. Recktenwald, weitergeführt. 1938 berichteteder Anstaltsarzt Dr. Gies über ähnliche Experimente mit Insu-lin- und Cardiazolschocks 23 – Elektroschocks werden an ande-rer Stelle ebenfalls erwähnt. In 13 Monaten seien 143 Fälle mitInsulin behandelt worden und es habe sich gezeigt, dass dieGefahren der Behandlungsmethode bei weitem nicht so wesent-lich waren, wie man früher glaubte annehmen zu müssen. Beieiner durchschnittlichen Behandlungsdauer seien in der Regel60–70 Schocks von nicht mehr als 1–11⁄4 Std. Dauer, öfter auch2 Std., verabreicht worden. Es werden unangenehme Begleit-und Folgezustände erwähnt, »die aber im Verhältnis zur ange-strebten Besserung nicht zu sehr ins Gewicht zu fallen schei-nen«. Fazit: »Nach unseren Erfahrungen stellt die Insulin- undCardiazolbehandlung bei der Schizophrenie einen wesentlichenFortschritt dar und verdient weiteren Ausbau«.

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Offene Fürsorge Eine neue Form der Versorgung Geisteskranker in der Rhein-

provinz kam ab 1923 mit der »Offenen Fürsorge« auf. Auchhier spielte Andernach eine Vorreiterrolle. Der spätere Direk-tor Recktenwald und Dr. Dietrich berichteten ausführlich inder »Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift« 1928 über dieersten Erfahrungen. 24 Der Anfang der Offenen Fürsorge imRegierungsbezirk Koblenz wurde in Mayen gemacht und vonder dortigen Kreisfürsorgerin unterstützt. Die Besuchszahlenvon »freiwilligen und zugewiesenen Patienten« bei den regel-mäßig 1–2 mal monatlich abgehaltenen Sprechstunden einesAndernacher Anstaltsarztes stieg kontinuierlich. Die Sprechstun-den wurden auf Koblenz und nach und nach in alle Kreise des Regierungsbezirkes ausgedehnt. Städtische Fürsor-gerinnen wurden in der Anstalt in mehrtägigen Kursen ausge-bildet. Bis März 1928 waren 1 075 Freiwillige, Zugewieseneund Entlassene erfasst und wurden regelmäßig betreut. Alshäufigste Krankheitsformen wurden genannt: »Hysterie, Imbe-zillität und Idiotie, genuine Epilepsie, Schizophrenie, Manisch-Melancholische.« Aufgebaut wurde ein System der Fürsorge, dasAnstalt und städtische Wohlfahrt und Gesundheitsfürsorge engverknüpfte. Bis Ende 1928 erhielten sämtliche Kreise des BezirksFürsorgesprechstunden. Den seit 1924 wieder steigendenAufnahmezahlen in der PHP steuerte man auf diese Weiseentgegen: »Frühentlassung hat sich längst eingebürgert, Beur-laubung ist schon längst zur Regelentlassung geworden.«

Im Jahresbericht der PHPs von 1929/30 wurde zum langsa-men Absinken der Bestandszunahmen in Verbindung mit demseit Jahren nicht mehr wesentlichen Steigen der Neuaufnah-men kommentiert, dies stehe in Zusammenhang mit der imgrößten Teil der Rheinprovinz eingeführten Offenen Fürsorge,die es ermögliche, relativ harmlose Kranke in der Familie zubelassen, da sie dort von der Fürsorge weiter besucht, beratenund dadurch sachgemäß behandelt werden könnten. Eine derFolgen für die Anstalten sei, dass die Zahl der körperlich undgeistig Altersschwachen sich immer mehr anhäufe. Im darauffolgenden Jahr ähnliches: »Die Bestandszunahmen haben wesent-lich nachgelassen«, was darauf zurückzuführen sei, dass dieBezirksfürsorgeverbände harmlose Schwachsinnige

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»Bügelstube« Andernach (undatiert)Schon in den Anfangsjahren lag der durchschnittliche Beschäftigungsgrad derFrauen in Andernach bei 60–70%. Deren Mitarbeit bei den zahlreichen haus-wirtschaftlichen Aufgaben innerhalb der Klinik sicherte diese sehr hohe Quote.

aus den Anstalten herausgeholt hatten und gegenüber früherviel weniger Schwachsinnige in Anstalten neu eingewiesenwurden.

Erst 1934 war wieder die Rede davon, dass sich der Zugangbeträchtlich steigere. Gegenüber den Jahren zuvor, in denendie Bezirksfürsorgeverbände die »Anstaltsbedürftigkeit nur beibeträchtlicher Störung anerkannt hätten«, habe das »große undberechtigte Interesse, welches seit dem Siege der nationalsozia-listischen Bewegung den Fragen der geistigen Störung gilt«,Behörden und Familien leichter als früher die Notwendigkeitder Anstaltspflege erkennen lassen. Ein Teil der Steigerung seiauch den Maßnahmen in Durchführung des Gesetzes zur Ver-hütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 zuzuschrei-ben, die von Januar 1934 an die Entlassung von unter dasGesetz fallenden Personen aus der Anstalt vorübergehenderschwerten.

VIII. 1933 – 1945: Absturz in die Finsternis: Andernach wird »Zwischenanstalt«

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten wirkte sich inder Psychiatrie vom ersten Jahr an spürbar aus.

ZwangssterilisationDas »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« wur-

de am 14.7.1933 erlassen und ein Jahr später wirksam. »Wererbkrank ist«, war in Paragraph 1 des Gesetzes formuliert, »kanndurch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht werden, wennnach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großerWahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommenan schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden wer-den.« Erbkrank »im Sinne des Gesetzes« war, wer an folgen-den »Krankheiten« litt:- angeborener Schwachsinn- Schizophrenie- zirkuläres (manisch-depressives) Irresein- erbliche Fallsucht- erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea)- erbliche Blindheit- erbliche Taubheit

- schwere körperliche Missbildung Außerdem konnte unfruchtbar gemacht werden, wer an

»schwerem Alkoholismus« litt.

Das Verfahren setzte die Anzeige durch einen Arzt undeinen Beschluss durch ein »Erbgesundheitsgericht« voraus.Lag dieser Beschluss vor, forderte das Gesetz, so »ist die Unfrucht-barmachung ... auch gegen den Willen des Unfruchtbarzu-machenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antraggestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde dieerforderlichen Maßnahmen zu beantragen.«

Wie dieses Gesetz in den rheinischen Anstalten und darü-ber hinaus umgesetzt wurde, erfahren wir aus den jährlichenRechenschaftsberichten des Gesundheitsdezernenten der Pro-vinzialverwaltung, Walter Creutz. 25 Im Jahresbericht »Volksfür-sorge« 1934/35 führte er aus:

»Das Jahr 1934/35 war auf dem Gebiete des provinziellenFürsorgewesens für Geisteskranke, Schwachsinnige und Epi-leptiker erfüllt von einer zielbewußten und intensiven Arbeit,die weit über das hinausging, was unter dem alten Begriff derFürsorge für geisteskranke und geistesschwache Menschen entfällt.

Das vergangene Jahr stand vor allem im Zeichen reger Akti-vität auf erbbiologischem Gebiet ...« [Die Zeit bis zum Inkraft-treten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchseswar ausgefüllt mit Vorbereitungsarbeiten, besonders der Kon-stituierung von Erbgesundheitsgerichten] »Dann aber setztedie praktische Arbeit an der Durchführung ... ein und führtein kurzer Zeit an allen Stellen, an denen sich Erbkranke inFürsorge des Provinzialverbandes befinden, zu beträchtlichenund sehr begrüßenswerten Ergebnissen … In den 7 öffent-lichen rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten sind inder Zeit vom 1.4.–30.9.1934 insgesamt 12 390 Kranke behan-delt worden ... Von dieser Gesamtkrankenzahl wurden in demgenannten Halbjahr 7 265 als unter das Gesetz zur Verhütungerbkranken Nachwuchses fallend angezeigt, 2 044 zur Unfrucht-barmachung beantragt und entsprechend begutachtet. Bis zum30.9.1934 waren durch die Erbgesundheitsgerichte 1 568 Be-schlüsse auf Unfruchtbarmachung gefaßt, und bis zum glei-

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chen Tage war in 949 Fällen der unfruchtbarmachende Ein-griff bereits ausgeführt. Nach diesem Eingriff konnten bis zum30.September 416 Kranke aus den Anstalten entlassen werden.

In zahlreichen weiteren Fällen waren die Anstalten überihre Mauern hinaus durch ihre in der Offenen Fürsorge täti-gen Ärzte bei der Erfassung, Anzeige, Antragstellung und Begut-achtung von Erbkranken, die außerhalb der Anstalt in der Betreu-ung der Offenen Fürsorge stehen, beteiligt ...

In der Zeit vom 1.10.34 bis heute ist die Arbeit an der Durch-führung des Gesetzes weitergegangen ... Anhand der Monats-meldungen der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten läßt sichaber bereits jetzt sagen, daß in den Monaten Oktober, Novem-ber und Dezember 1934 und Januar 1935 insgesamt weitere774 Anträge auf Unfruchtbarmachung gestellt und die dazugehörigen Gutachten erstattet wurden. In einer entsprechen-

den Relation hat sich auch die Anzahl der durchgeführtenUnfruchtbarmachungen inzwischen erhöht.

Man darf wohl sagen, daß in den Provinzial-Heil- und Pflege-anstalten im Lauf des Berichtsjahres auf dem Gebiete der Durch-führung des Gesetzes eine ganz außerordentliche Arbeit geleis-tet worden ist, in erster Linie naturgemäß durch die Ärzte, desweiteren aber auch durch das Büropersonal, dem die Arbeit ander Durchführung des Gesetzes ebenfalls eine beträchtlicheMehrarbeit auferlegt, und durch das Pflegepersonal.«

Ein Jahr später erstattete auch das 1935 bei der PHP Bonngegründete »Rheinische Provinzial-Institut für Psychiatrisch-neurologische Erbforschung« Bericht, gezeichnet von Dr. Panse. 26 Dieses Institut hatte den Auftrag, die zentrale Erfas-sung von Erbkranken in der gesamten Provinz zu koordinie-ren und anzuleiten.

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Pflegekräfte einer Männerstationvermutl. Andernach (undatiert)

Panse berichtet nach dem ersten Jahr: »Zahl der verkartetenPersonen: 300 000 (etwa ein Drittel davon Erbkranke), undetwa 13 000 Sippentafeln … Die Sammelarbeit bei den Provin-zial-Heil- und Pflegeanstalten sowie bei den charitativen [sic!]Anstalten wurde in raschem Tempo fortgesetzt. Die Provinzial-Anstalten haben zum Teil bereits die Verkartung ihres Gesamt-materials durchgeführt, zum anderen Teil sind die Arbeiten invollem Gange. Auch zahlreiche charitative Anstalten beteili-gen sich rege. Bedenken wurden bisher von keiner Stelle geäußert.« 27

Wir wissen heute, dass diesem Gesetz bis 1945 schätzungs-weise 400 000 Menschen zum Opfer fielen.

Etwa 6 000 starben im Zusammenhang mit der Operation,viele Zwangssterilisierte kämpfen bis heute um Rehabilitationund eine finanzielle »Entschädigung«.

AnstaltsalltagCreutz kam im schon erwähnten »Jahresbericht Volksfürsorge1934/35« 28 auf einen weiteren Aspekt zu sprechen: »Niemandkann sich der Erkenntnis verschließen, daß die ungeheureLast, welche die Versorgung einer so großen Zahl geisteskran-ker und geistesschwacher Menschen für die rheinische Bevöl-kerung darstellt, auf das Mindestmaß herunterzudrücken ist ...Die Provinzialverwaltung hat auch im Berichtsjahre den Wegeiserner Sparsamkeit auf dem Gebiet der Geisteskrankenfür-sorge beschritten.«

Das bedeutete: Der Pflegesatz (pro Kopf / pro Tag) in denProvinzialanstalten war von 2,60 RM auf 2,50 RM gesenktworden. In den Privatanstalten, die hauptsächlich Langzeit-kranke versorgten, lag er unter 1,70 RM.

»Es ist notwendig, zu einer weiteren Senkung der Kosten zugelangen ...«, kündigte Creutz an. Er habe deswegen eine um-fassende Wirtschaftlichkeits- und Organisationsprüfung in allenAnstalten veranlasst.

Sparsamkeit bedeute u.a., »stets die Differenzierung in denAufwendungen für die nicht heilbaren und nur pflegebedürf-tigen Kranken und denjenigen, bei denen die zu treffenden Maß-nahmen einen Heilerfolg herbeizuführen vermögen ... « imBewusstsein zu halten.

Die interne Rechenschaftslegung lässt keinen Zweifel offen,auf welchen Kurs die Verantwortlichen eingestimmt waren. Sehr viel schwieriger aus heutiger Sicht zu beurteilen sind dieFragen, was denn die Ärzte »vor Ort«, das Pflegepersonal, dassonstige Personal von den Erwartungen ihrer Trägerverwaltunghielten und vor allem, was sie wirklich taten. Was konnten sietun? Von den Patienten wissen wir noch weniger. Für Ander-nach gibt es, soweit bisher bekannt, keinerlei Zeitzeugenaus-sagen von Patienten. Da lässt sich nur aus Berichten von Kran-ken anderer Anstalten rückschließen. Sie berichten über diespürbar sich verschlechternden Verhältnisse, Unsicherheit undAngst schon in den Jahren bis zum Ausbruch des ZweitenWeltkrieges. Danach, bei immer mehr Gerüchten über die Ermor-dung von Kranken: offene Angst, eine täglich empfundeneLebensbedrohung. Die herrschenden alltäglichen Verhältnisse in den Anstaltendürften die Handlungsspielräume sehr reduziert haben. Sei-tens der Provinzialverwaltung war das, wie wir gesehen haben,beabsichtigt und geplant. Der Jahresbericht über die AnstaltAndernach von Direktor Recktenwald aus dem Jahr 1934/35 29

führte die übliche Krankenstatistik auf, Gesamtbestand 1935:1 208 Patienten, davon 525 Männer und 683 Frauen. Damitwar die Anstalt reichlich überbelegt. Die notwendigerweise da-mit heraufbeschworene Verwaltung von Mängeln erleichtertewomöglich Entscheidungen wie: das Wenige, was überhaupt zur Verfügung stand, gezielt zu verteilen: »Lohnt den Aufwand« –»lohnt nicht den Aufwand«. Zu sparen: an Essen, an Kleidungund Bettwäsche bis hin zur Zeit, Qualität und Energie derärztlichen und pflegerischen Betreuung.

Behandlung≤Die schon in den 20er Jahren begonnenen Behandlungen mit

Schockverfahren bei Syphilitikern (Paralyse) und Schizophrenenwurde in den 30er Jahren in Andernach fortgesetzt. Insulin- undCardiazolschock wurden weiter angewendet und gehörten in denjährlichen Tätigkeitsberichten inzwischen zur Routine. In denNachkriegsprozessen gegen leitende Ärzte der AndernacherAnstalt wird zu ihren Gunsten angeführt, dass sie sich um diemodernsten Heilmethoden für ihre Patienten, wie Insulin-,

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Cardiazol- und Elektroschock, bemüht hätten, die ja bekannt-lich hoffnungslosen Fällen die Aussicht auf Besserung böten.Weiter heißt es in diesen Ausführungen auch, dass unter Direk-tor Recktenwald die rühmliche Tradition der Andernacher Arbeits-therapie fortgesetzt worden sei. Als hervorragender Spezialistauf diesem Gebiet habe er es fertig gebracht, 85% der Krankenzu beschäftigen.

Quellen für die Geschichte der Anstalt Andernach währendder NS-Zeit liegen gedruckt und veröffentlicht vor 30 in denUnterlagen zum Prozess, der gegen Direktor Recktenwald unddie Oberärzte der Männer- und der Frauenseite, Dr. Kreisch

und Frau Dr. Kalt, 1948 vor dem Oberlandesgericht Koblenzangestrengt wurde. Die Anklage lautete »Verbrechen gegen dieMenschlichkeit«, Beihilfe zum Mord. Im Zentrum der Aus-führungen der Anklage und der Urteilsbegründung stehen dieAktivitäten der Anstalt und ihrer Verantwortlichen im Zusammen-hang mit der Weiterverlegung von Patienten aus Andernach undanderen rheinischen Anstalten in Mordanstalten. Sie sind gefil-tert durch das sich wandelnde Verständnis für »Verbrechen imNationalsozialismus«, das die unterschiedlich ausfallenden Urtei-le 1948 bzw. 1951 erkennen lassen. Dennoch fließen Zeugen-aussagen in die Argumentationen ein, die aufschlussreicheAnhaltspunkte vermitteln über die Zeit des Nationalsozialismus,insbesondere die Zeit des Krieges in der Anstalt Andernach.

Andernach wird ZwischenanstaltHitler hatte wohl den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am

1. September 1939 genutzt, um den rassehygienischen Bestre-bungen des NS-Staates den nächsten konsequenten Schritt folgen zu lassen. Im Februar 1939 wurde der »Reichsausschußzur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebeding-ten schweren Leiden« gegründet, im August 1939 machte manÄrzte, Hebammen und andere »Meldepflichtige« mit dem»Runderlaß des Reichsministeriums des Innern zur Melde-pflicht behinderter Kinder« 31 bekannt. Datiert auf den 1. Sep-tember 1939 hatte Hitler, wohl erst im Oktober 1939, auf sei-nem persönlichen Briefpapier niedergeschrieben, dass Reichs-leiter Bouhler und sein Leibarzt Dr. Brandt »unter Verantwor-tung beauftragt sind, die Befugnisse namentlich zu bestim-mender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermes-sen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihresKrankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.« Das war die Grundlage für ein Verfahren, dem unter dem Namen»Euthanasie« etwa 200 000 Patienten aus psychiatrischen An-stalten zum Opfer fielen. 32

Die Rheinprovinz musste keine eigene Tötungsanstalt ein-richten.33 Die zentralen Stellen einigten sich mit dem rheini-schen Landeshauptmann Haake auf die Lösung zweier»Zwischenanstalten«, wo die zu »verlegenden« Kranken gesam-melt und von dort von der GEKRAT in Tötungsanstalten abge-

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Hitlers Brief an Bouhler und Brandt (Ausschnitt). » … dass nach menschlichem Ermessen … «

holt werden sollten. Die PHP Galkhausen wurde Zwischen-anstalt für die nördliche, die PHP Andernach Zwischenanstaltfür die südliche Rheinprovinz. Als Direktor einer solchenZwischenanstalt wurde Dr. Recktenwald im Februar 1941 nachBerlin gerufen, wo er mit etwa hundert Kollegen in die Einzel-heiten der Organisation und des Ablaufes der Krankentran-sporte eingeweiht wurde. 34 Vor allem war die Aktion als »Geheime Reichssache« zu behandeln und unter Androhungschwerer Strafen strengstes Schweigen zu bewahren. Je zweiÄrzte (Männer-/Frauenseite) pro Anstalt sollten so weit in Kennt-nis gesetzt werden, dass sie in die Vorbereitung der Trans-porte einbezogen werden konnten. In Andernach waren das Dr. Kreisch und Dr. Gies, an dessen Stelle nach seinem TodFrau Dr. Kalt trat.

Bevor die Aktion T4 Andernach erreichte, erhielt die Anstaltim Januar 1941 Anweisung aus Berlin, jüdische Patienten aus der ganzen Rheinprovinz aufzunehmen und, einschließ-lich der jüdischen Patienten der eigenen Anstalt, für den Trans-port in die einzige jüdische Einrichtung in Deutschland, die »Israelitischen Kuranstalten« in Sayn bei Koblenz vorzuberei-ten. Am 11. Februar 1941 wurden 58 in Andernach zusammen-gefasste jüdische Patienten von den GEKRAT-Bussen mit unbe-kanntem Ziel abgeholt. 35

Die Meldebögen trafen im Rheinland im Sommer 1940 ein.Den mit dem Ausfüllen der Bögen beauftragten Ärzten und Pflegern war möglicherweise nicht von Anfang an der Zweckdieser Bögen klar, so dass sie viele Patienten im vermeint-lichen Glauben, sie so in der Anstalt behalten zu können, krän-ker schrieben, als es der Wahrheit entsprach. Wie sich späterherausstellte, gehörte für die »Euthanasie«-Gutachter die »Arbeits-fähigkeit« zu den Hauptkriterien, die über Leben oder Ver-nichtung eines Kranken entschieden.

Mitte März 1941 wurde Recktenwald informiert, dass die inAndernach zu sammelnden Patienten in die benachbarte hes-sische Anstalt Hadamar transportiert werden sollten. Hadamarwar geräumt und von der GEKRAT als Tötungsanstalt einge-richtet worden. Dazu hatte man einen Kellerraum zu einer alsDuschraum getarnten Gaskammer umgebaut und, von dortaus leicht erreichbar, einen Leichenverbrennungsofen installiert.

Am 29. März 1941 kam eine vierköpfige Ärztekommissionaus Berlin nach Andernach. Anhand der ausgefüllten Melde-bögen prüfte sie ohne die Anwesenheit von Andernacher Ärzten in wenigen Stunden 546 Andernacher Patienten. 484von ihnen wurden zum Transport bestimmt, von denen letzt-lich 469 Kranke in mehreren Transporten bis zum 21. Juli1941 nach Hadamar kamen. Sicher ist, dass 466 von ihnendort ermordet wurden. Bis zum 11.7. 1941 wurden dann 517Patienten aus anderen rheinischen Anstalten nach Andernachverlegt. Einige von ihnen wurden in Andernach zurückbe-halten, 448 Kranke aber in 5 Transporten nach Hadamar gebracht:am 18.6.1941: 115 Patientenam 20.6.1941: 105 Patientenam 7.7.1941: 87 Patientenam 25.7.1941: 65 Patientenam 15.8.1941: 76 PatientenAußer einem Patienten überlebte keiner.

Bis zum Sommer 1941 hatten zahlreiche Angehörige erfah-ren, dass ihre Kranken »aus kriegswichtigen Gründen verlegt«und unerwartet gestorben waren. Im Andernacher Prozess von 1948 lag dem Gericht noch das Tagebuch des verstorbenenDr. Gies vor, in dem dieser die wachsende Unruhe und Ungewissheit in der Bevölkerung, das Misstrauen unter den Ärzten und dem Anstaltspersonal und die von Gewissheitgeschürte Angst unter den Patienten erschütternd protokol-liert. Es wird deutlich, dass sich die Gerüchte über die Ermor-dung der unbekannt abtransportierten Patienten täglich verdichteten.

352 Patienten, die für den Abtransport nach Hadamar nocheinmal aus rheinischen Anstalten gesammelt wurden, entka-men der Weiterverlegung, weil inzwischen die »Aktion T4«eingestellt wurde.

Als das Rheinland in zunehmendem Maß bombardiert wur-de, mussten die Anstalten Platz schaffen für zivile Kriegsopfer.Es begannen erneut Verlegungen in großem Maßstab, diesesMal in Anstalten »im Osten«, angeblich in Sicherheit vor derFront im Westen. 1943/44 wurden aus Andernach 595 Patien-ten »nach Osten« transportiert: in die Anstalten Kulparkow,

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Tworki, Landsberg, Lüben und Meseritz. Im Prozess bestrittendie Ärzte, davon gewusst zu haben, dass in den Zielanstaltenebenfalls gemordet wurde, jedoch mit anderen Mitteln als Gas.Die Transporte in der zweiten Phase der »Euthanasie« wurdendeshalb nicht in Betracht gezogen. Von allen angegebenenZielanstalten wissen wir heute, dass sie Mordanstalten warenund bis auf wenige Ausnahmen alle dorthin verbrachten Kran-ken elend starben.

Eine weitere Verlegung wird in den Andernacher Prozessengenannt: der Abtransport von 4 männlichen und 3 weiblichen»Ostarbeitern« im Jahr 1944 von Andernach nach Hadamar.Was aus diesen Patienten wurde, ist bisher nicht dokumen-tiert.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zwischen 1941und 1945 mindestens 920 Opfer aus der Anstalt Andernach inandere Anstalten abtransportiert worden sind, von denen nurEinzelne den Krieg überlebten.

Frau Dr. Kalt wurde 1948 freigesprochen, Dr. Recktenwaldund Dr. Kreisch nach dem Kontrollratsgesetz verurteilt zu achtbzw. fünf Jahren Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für fünf Jahre. Die Angeklagten gingen in Revi-sion. 1949 wurde das Verfahren, nun in der neugegründetenBundesrepublik unter deutschem Recht, vor dem Landgericht,dann Oberlandesgericht Koblenz wieder aufgerollt. Die Ange-klagten gingen mit Freispruch und Rehabilitation aus demzweiten Prozess hervor. Die Begründung lautete: Hätten sie nichtan ihrem Platz ausgeharrt, so hätten überzeugte Nazi-Ärzte anihrer Stelle noch viel mehr Patienten umgebracht.

IX. Kurzbiographien der ärztlichen Direktoren 1876 bis 1945

Porträt Dr. Werner NasseDirektor der Provinzialirrenanstalt Andernach: 1876–1881

Nasse, Karl Friedrich Wernergeb. 7.6.1822 in Bonngest. 19.1.1889 in Bonn

Werner Nasse war der Sohn von Friedrich Nasse, dem erstenProfessor der medizinischen Klinik an der 1818 errichtetenUniversität Bonn. Er besuchte das Gymnasium in Bonn undErlangen und machte 1839 Abitur. Er studierte zunächst ein JahrPhilologie und Philosophie in Bonn, danach Medizin in Marburg und Bonn. 1845 promovierte er in Bonn »De singu-lare cerebri partium functionibus perscrutatione indagatis«.Approbation 1846. Weitere Ausbildung an den UniversitätenPrag, Wien und Paris sowie bei dem Freund seines Vaters,dem Direktor der Siegburger Irrenheilanstalt, Maximilian Jacobi. 1847 ließ er sich als Arzt in Bonn nieder, 1848 gründe-te er zusammen mit seinem Vater eine Heilanstalt für männ-liche Gemütskranke in Bonn. Im Frühjahr 1854 wurde Nasseals Nachfolger von Flemming zum Direktor der Anstalt Sach-senberg bei Schwerin berufen. Schon dort beteiligte er sichaktiv an der Reorganisation des Anstaltswesens in enger Ver-knüpfung mit der Universität. Er war an der Gründung einerIdiotenanstalt bei Schwerin beteiligt und plante eine neueIrrenanstalt bei Rostock. Am 6.2.1863 wurde Nasse als Nach-folger von Friedrich Hoffmann zum Direktor der Anstalt Sieg-burg ernannt. Er fand Siegburg in heruntergekommenemZustand vor. Seine Frau starb an einer Typhusepidemie derAnstalt im Jahr ihrer Ankunft in Siegburg. Er schaffte es, eineKommission des rheinischen Provinziallandtages nach Sieg-burg zur Besichtigung einzuladen und legte ihr dort 1864 seine »Denkschrift« zur Neuorganisation des rheinischen Irren-wesens vor. 1865 beschloss der 18. Provinziallandtag den Baufünf neuer verbundener Heil- und Pflegeanstalten und folgteden Vorschlägen in Nasses Denkschrift. Nasse wurde neben

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Heinrich Laehr und Snell als Berater bei der Errichtung derneuen Anstalten hinzugezogen; er arbeitete die Pläne fürMerzig, Düren und Bonn aus. Er wurde zum Mitglied desRheinischen Medizinalkollegiums ernannt. 1876 wechselte ervon Siegburg an die neue Provinzialirrenanstalt nach Andernachals dortiger erster Direktor. 1879 wurde auf Anregung Nassesdas erste deutsche Trinkerasyl in Lintorf errichtet. 1879 wurdeNasse Mitredakteur der »Allgemeinen Zeitschrift für Psychia-trie«. 1881 verließ er Andernach und übernahm die Leitungder 1882 eröffneten Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn.Gleichzeitig war er Honorarprofessor für Psychiatrie an derUniversität Bonn. Von 1873 bis 1885 war Nasse Vorsitzenderdes Deutschen Vereins für Psychiatrie. Er war Mitbegründerdes Psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz und führte des-sen Vorsitz von 1867 bis 1889. 1883 gründete er die Vereini-gung gegen Missbrauch des Alkohols in Deutschland. Er starb1889 in Bonn. 1890 wurde vor der PHP Bonn ein Denkmalfür ihn enthüllt.

Porträt Dr. Friedrich NötelDirektor der Provinzialirrenanstalt Andernach: 1881–1899

Nötel, Friedrich Gustavgeb. 21.11.1839 in Posengest. 31.10.1899 in Andernach

Friedrich Nötel wurde als Sohn eines Juristen geboren. Erbesuchte das Gymnasium in Posen, Stettin, Frankfurt/Oderund Arnsberg/Westfalen. Von 1857 bis 1861 studierte er Medi-zin in Heidelberg und Berlin. Er promovierte in Berlin 1862:»De meningite spinali«. Er nahm am Feldzug 1864 (»Däni-scher Krieg«) als Assistenzarzt eines Feldlazaretts teil, ebenso1866 am »Deutschen Krieg«. Von Mai 1865 bis Juni 1868 warer Hilfsarzt in der Heilanstalt Sachsenberg unter Emil Löwen-hardt. Von Juli 1868 bis März 1876 war er zweiter Arzt in derAnstalt Neustadt-Eberswalde unter August Zinn. Am 1. April1876 wurde er zum Direktor der neuen rheinischen Provinzial-irrenanstalt Merzig berufen, von wo er im Juni 1881 als Nach-folger Werner Nasses an die Provinzialirrenanstalt Andernachwechselte. Ab Sommer 1895 litt er unter einem Herzleiden. Inseinen letzten Lebensjahren war Nötel im Zusammenhang mitdem »Fall-Weber-Andernach« das Ziel von Angriffen und Ver-dächtigungen. Er ging rehabilitiert aus dem Fall hervor. AmVorabend des Weihnachtsfestes 1896 wurde er das Opfer einestätlichen Angriffes eines verwirrten Patienten, von dem er sichnach einigen Wochen erholte. Am 1. November 1897 erlitt ereinen Gehirnschlag und blieb linksseitig gelähmt. Da keineentscheidende Besserung eintrat, ließ er sich im Juli 1899frühzeitig pensionieren. Er starb kurz darauf und wurde aufdem Anstaltsfriedhof Andernach begraben.

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Porträt Dr. Nicolaus LandererDirektor der PHP Andernach: 1900–1912

Landerer, Nicolausgeb. ca. 1854gest. 13.2.1912 als Direktor der Provinzial-Heil- und PflegeanstaltAndernach

Nach seinem Studium wurde Landerer etwa 1877 Assistenz-arzt der niederbayrischen Heil- und Pflegeanstalt Deggendorf,zunächst unter Hubert Grashey, später unter Anton Bumm. 1889wurde er zum dritten Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Illenauernannt. Später rückte er dort zum 2. Arzt auf. 1897 wurde erleitender Arzt der rheinischen Provinzial-Heil- und PflegeanstaltMariaberg bei Aachen. 1900 folgte er Friedrich Nötel als Direk-tor der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach. Er starbunerwartet an Gehirnschlag.

Porträt Dr. Franz Friedrich AdamsDirektor der PHP Andernach: 1912–1934

Adams, Franz Friedrichgeb. 1869gest. nach 1934

Nach der Approbation 1892 wurde er zweiter Assistenzarztder Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Düren unter WilhelmFabricius. 1899 kam er als dritter Arzt an die neu gegründeteProvinzial-Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen/Langenfeld beiDüsseldorf unter Johannes Herting. 1903 wurde er dort zumOberarzt ernannt. 1905 wurde er von Galkhausen an die neueröffnete Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Johannisthal bei Viersen unter Gustav Flügge versetzt. 1912 wurde er Nachfol-ger von Nicolaus Landerer an der PHP Andernach. Nach sei-ner Pensionierung 1934 siedelte er nach Koblenz über.

Porträt Dr. Johann RecktenwaldDirektor der PHP Andernach: 1934–1945

Recktenwald, Johanngeb. 24.6.1882 in Bliesen, Saargest. 16.4.1964

Der Sohn eines Landwirts besuchte das Gymnasium in St. Wendel und Trier, wo er 1902 das Abitur machte. Er stu-dierte Medizin in Straßburg, Bonn, Marburg, Berlin, Heidel-berg und Freiburg. 1907 machte er das Staatsexamen in Marburg und arbeitete anschließend als Arzt im Knappschafts-lazarett in Neunkirchen/Saar. Nach seiner Promotion1909 in Freiburg ging er an die Psychiatrische Klinik und Lan-desheilanstalt Marburg. 1911 trat er in die Dienste der Rhein-provinz. Er begann als Arzt in der PHP Viersen und wechsel-te von 1912 bis 1920 von der PHP Düren über die PHP Galk-hausen an die PHP Merzig. 1920–1927 war er Arzt in derPHP Andernach, von 1927–1930 an der PHP Bonn. 1930–1934 wurde er zum Stellvertretenden Direktor der PHP Bed-burg-Hau berufen. 1934 folgte er Franz Friedrich Adams alsDirektor an der PHP Andernach. 1945 wurde er wegen desVerdachts auf Verstrickung in Krankentransporte von Ander-nach in Tötungsanstalten verhaftet und 1948 vor dem OLGKoblenz als schuldig verurteilt. Auf Revision des Angeklagtenwurde 1950 neu verhandelt vor dem Schwurgericht Koblenz.Recktenwald wurde freigesprochen. Danach war er nicht mehrberufstätig. Kurz vor seinem Tode verfasste er eine Studie:Woran hat Adolf Hitler gelitten? Eine neuropsychiatrische Deu-tung. München, Basel 1963.

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teil zweiZur Geschichte der Rhein-Mosel-FachklinikAndernach von 1945 bis 2001von dr. med. stefan elsner

I. Neubeginn nach dem Krieg

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Deutschland ein mate-riell und moralisch zerrüttetes Land, das nie dagewesene Ver-luste an Soldaten und unter der Zivilbevölkerung zu beklagenhatte. Dazu kam die schwere Hypothek der Morde an Millio-nen Menschen, die einer antihumanen Ideologie und Diktaturzum Opfer gefallen waren. Unter den vielen Ermordeten warenauch etwa 200 000 psychisch Kranke und geistig Behinderte,die sterben mussten, weil das Regime der Verbrecher für siedie »Euthanasie« vorgesehen hatte, wie ihre systematische Tötungeuphemistisch genannt wurde.

Die Andernacher Klinik hatte ihren Anteil an der Maschine-rie des Todes, wie Frau Dr. Bouresh in ihrem Aufsatz darge-stellt hat.

Im Juli 1948 wurden der frühere Anstaltsleiter Dr. JohannRecktenwald und der Abteilungsarzt Dr. Ewald Kreisch »wegengemeinschaftlichen Verbrechens gegen die Menschlichkeit inTateinheit mit gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord in einerunbestimmten Anzahl von Fällen« zu acht bzw. fünf JahrenZuchthaus verurteilt. Dieses Urteil wurde nicht rechtskräftig,sondern nach Revisionsanträgen der Verteidigung vom Ober-landesgericht Koblenz aufgehoben. Ein neues Verfahren vor demKoblenzer Schwurgericht endete im Juli 1950 mit einem Frei-spruch »wegen erwiesener Unschuld.« Den Angeklagten wur-de nun bescheinigt, »daß sie die Tötungsaktion aus Überzeu-gung mißbilligt und sich ausschließlich an ihr beteiligt haben,um sie nach besten Kräften zu verhindern, zu stören und ein-zuengen.«

Nach diesem juristischen Abschluss wurde die Ermordungvon Patienten aus der Andernacher Klinik lange verdrängt. Die

Opfer der »Euthanasie« waren auch sonst in Deutschland fürJahrzehnte kein Thema. Erst 1996 wurde in der AndernacherInnenstadt ein Mahnmal errichtet, mit dem der Toten gedachtwird.

Von Bombenschäden war die Klinik, anders als die StadtAndernach, verschont geblieben. Aber der Mangel an allem,der in den ersten Jahren nach dem Krieg herrschte, und dieBesatzung machten sich auch in der »Anstalt« bemerkbar.

Anfang März 1945 marschierten amerikanische Truppen inAndernach ein und besetzten die ganze Stadt nach eintägigemWiderstand der Wehrmacht. Im Juli 1945 wurden die Franzo-sen anstelle der Amerikaner zur Besatzungsmacht und nutz-ten einen Teil der »Provinzialheilanstalt«, die schon bald dar-auf zur »Landesnervenklinik« wurde, als Lazarett. Ein Doku-ment aus dem Jahre 1951 weist aus, dass zu diesem Zeitpunktnoch ein Teil des früheren Männerhauses III (heute »HausEifel«) von französischem Militär belegt war. Wenige Jahre spä-ter zogen die Franzosen endgültig aus der Klinik und der Stadtab.

Nachdem Dr. Recktenwald Ende April 1945 von den Ameri-kanern festgenommen worden war, wurde zunächst Dr. Kreischals Anstaltsleiter eingesetzt. Schon bald aber wurde auch gegenihn wegen seiner Beteiligung an der Ermordung psychisch Kran-ker ermittelt, und im August 1945 wurde er von den Franzo-sen verhaftet. Nach Monaten der Vakanz, in denen lediglicheine Ärztin für alle Patienten zur Verfügung stand, folgte ihmDr. Paul Kopp nach, der die Klinik in den ersten schwierigenNachkriegsjahren leitete, bis er im Sommer 1949 starb. SeinNachfolger war ab Dezember 1949 Dr. Karl Scheid, ÄrztlicherDirektor bis 1970.

Die Gründung des Landes Rheinland-Pfalz duch die franzö-sische Militärregierung im Jahre 1946 bedeutete de facto auchdas Ende der preußischen Rheinprovinz, in der die Anderna-cher Klinik bis dahin psychiatrisches Versorgungskranken-haus für einen Regierungsbezirk gewesen war, wie die großenKliniken in Grafenberg (Düsseldorf), Düren, Bonn und Mer-zig, die ebenfalls in den 1870er Jahren gegründet wordenwaren. Die Andernacher Klinik gehörte nun mit den Groß-krankenhäusern im rheinhessischen Alzey und dem pfälzischen

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Klingenmünster zu einer neuen Gruppe von psychiatrischen Kli-niken, die für die stationäre Versorgung des eben gegründetenLandes zuständig waren.

Nach dem Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs mitder Währungsreform von 1948 und der Gründung der Bundes-republik im Jahr darauf wurden in der Klinik zahlreiche Reno-vierungsmaßnahmen vorgenommen und Neubauten erstellt, diedem therapeutischen Fortschritt und der steigenden BelegungRechnung tragen sollten. Dazu zählen

1950/52 ein Bäder- und Röntgenhaus,1952/53 eine gerichtspsychiatrische Abteilung im

Männerhaus IV (später abgerissen),1956 eine Männer-Tbc-Abteilung und die Einrichtung

einer Neurologischen Abteilung im Männer-haus I (heute »Haus Kirchberg«),

1959/60 ein so genanntes Infektionshaus, das 1970 in eineinternistische Station umgewandelt wurde (heute»Haus Vulkanstraße«),

1960 ein Schwesternwohnheim (nahe der heutigenHauptpforte, später abgerissen),

1964 zwei Pavillons für tuberkulöse Frauen undgerontopsychiatrische Patienten (»HausMartinsberg« und »Haus Krahnenberg«) und

1965 eine »Pflegevorschule« (heute u.a. Sitz der Pflege-direktion und der Cafeteria).

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Das Klinische Zentrum der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach

In den Jahren nach dem Krieg hat sich die Psychiatrie mehrund mehr zu einer therapeutisch ausgerichteten medizinischenDisziplin entwickelt.

Bereits 1938 hatte der Andernacher Psychiater Dr. Paul Giesüber seine Erfahrungen mit Insulinkuren und Cardiazolschocksbei schizophrenen Patienten publiziert. 1946 wurden die erstenElektrokrampftherapien in Andernach durchgeführt. Bei die-sen Methoden handelt es sich um Verfahren zur Auslösungvon epileptischen Krampfanfällen, bei der Insulinbehandlungeines Unterzuckerungskomas. Bei vielen psychotisch Krankenhatten sich diese so genannten Schocktherapien als therapeu-tisch wirksam erwiesen. In der Frühphase ihrer Anwendungwaren diese Maßnahmen für die Patienten sehr belastend undhäufig mit ernsten Komplikationen verbunden, weshalb siespäter zunehmend in Verruf gerieten.

Therapeutische Erfolge ganz anderen Ausmaßes wurden jedocherst durch die Einführung der modernen Psychopharmaka inden 50er Jahren möglich. 1952 berichteten die französischenPsychiater Delay und Deniker über die günstige Beeinflussungvon manischen und schizophrenen Psychosen durch Chlorpro-mazin, das später als erster Vertreter der Pharmakagruppe derNeuroleptika bezeichnet wurde. 1957 beschrieb der SchweizerPsychiater Kuhn die antidepressive Wirksamkeit von Imipramin,und ab 1960 wurde die prophylaktische Wirkung von Lithiumbei manisch-depressiven Erkrankungen systematisch untersucht.Die Erfolge der modernen Psychopharmakotherapie trugenwesentlich zur Verkürzung der Aufenthaltsdauern der Patien-ten in der Klinik bei und erleichterten ihre Reintegration indas normale soziale Umfeld.

In der Andernacher Klinik wurden die neuen Medikamenterasch eingeführt, wie etwa eine Übersicht von 1955 zeigt, dieunter den therapeutischen Angeboten auch die »Megaphen-Schlafbehandlung« (Megaphen = Chlorpromazin) aufführt. Die»Schock«-Behandlungen wurden noch bis zum Ende der 60erin großem Umfang durchgeführt. Während Insulinkuren undCardiazolschocks längst entbehrlich geworden sind, haben dieElektrokrampftherapien wieder an Bedeutung gewonnen, wer-den heute aber viel seltener und schonender eingesetzt als früher.

Schon immer spielte die Arbeitstherapie in der Anderna-cher Klinik eine wesentliche Rolle, so besonders landwirtschaft-liche Tätigkeit auf dem »Gut zur Nette«, das 1925 dazugekom-men und für die Lebensmittelversorgung der Klinik

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Neurologische Diagnostik: Elektroenzephalographie (EEG)

Klinisches Labor: zwei Mitarbeiterinnen bei ihrer Tätigkeit

lange Zeit von großer Bedeutung war. Die Patientinnen undPatienten wurden daneben auch in den Handwerksbetrieben derKliniken eingesetzt, etwa in der Küche und Bäckerei, der Wäsche-rei, der Gärtnerei oder bei den Schlossern.

Nach dem Krieg gab es auch wieder die »Offene Fürsorge«durch Ärzte der Klinik, deren Anfänge in unserer Region bis1923 zurückreichen. Diese ambulante psychiatrische Versorgungbestand in Hausbesuchen als Nachsorge zur stationären Behand-lung und in Sprechstunden, die monatlich in den umliegen-den Gesundheitsämtern angeboten wurden.

Bis zum Beginn der 1970er Jahre hatte die Klinik eine ste-tige Zunahme der Patientenzahlen zu verzeichnen. Waren Ende1945 nur 655 Patienten in der Klinik, so waren es 1970 1 281,zeitweise nahm die Belegung bis auf 1 460 Patienten zu. Zwarkam es in dieser Zeit auch zu einer deutlichen Personalver-mehrung, doch bei weitem nicht in dem Maße, wie die neuentherapeutischen Möglichkeiten es erfordert hätten. So gab es1970 für die große Patientenzahl lediglich 15 Ärzte und 245Pflegekräfte (unter Einschluss der Lern- und Aushilfskräfte).Hinzu kam eine bedrückende räumliche Enge, da die Bau-tätigkeit in den zurückliegenden Jahren mit der Belegungs-entwicklung nicht Schritt gehalten hatte.

II. Aufbruch zur Psychiatriereform

Engagierte Sozialpsychiater der 1960er Jahre wie Häfner,Kisker und Kulenkampff machten immer deutlicher auf diebundesweit oft menschenunwürdigen Versorgungsbedingungenin den psychiatrischen Krankenhäusern aufmerksam und wur-den zu entscheidenden Anregern und Mitarbeitern an der Psy-chiatrie-Enquete des Bundestages von 1975, die eine funda-mentale Psychiatriereform im ganzen Land in Bewegung brach-te. Die Studentenbewegung von 1968 und die allgemeine poli-tische Aufbruchstimmung am Anfang der 70er Jahre trugenebenfalls dazu bei, dass die Behandlung und Integration derpsychisch Kranken erstmals zu einem gesellschaftspolitisch wich-tigen Thema wurde.

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Patientenzimmer im Klinischen Zentrum

Computertomographie: Ein Schwerpunkt in der bildgebenden Diagnostikneurologischer Erkrankungen

In der Landesnervenklinik Andernach wurde 1970 Dr. JochenKatscher Ärztlicher Direktor, der in seiner Amtszeit bis 1985wesentliche Verbesserungen erreichen konnte. Die Landesver-treter als Träger der Klinik hatten erkannt, dass großzügiginvestiert werden musste, um die Unterbringungsbedingungender Patienten spürbar zu verbessern. Außerdem sollte die Gesamt-zahl der Patienten deutlich verringert und der Personalschlüs-sel verbessert werden.

In Dr. Katschers Zeit fielen ausgedehnte Baumaßnahmen, die der Klinik die bis dahin intensivsten Veränderungen seitihrer Gründung brachten:

1972 wurde die Forensisch-psychiatrische Abteilung »Nette-Gut« für ca. 100 psychisch kranke Rechtsbrecher, fünf Kilome-ter von der Hauptklinik entfernt, eingeweiht. Zeitweise wurdendort auch behandlungsunwillige Tuberkulosekranke behandelt.

1974 wurde das »Haus am Rennweg«, ein Neubau mit 180akutpsychiatrischen Betten, eröffnet;

1975 folgte ein Neubau für die Gerontopsychiatrie, das »Maria-Hafner-Haus«, anstelle des alten »Männerlazaretts« und

1980 das »Klinische Zentrum«, der bislang großzügigste Neu-bau, in dem außer mehreren modernen Stationen für psychi-atrische Patienten die Neurologische Abteilung mit 54 Bettenauf drei Stationen eingerichtet wurde, eine große Abteilungfür Krankengymnastik und Physiotherapie und ein zeitgemä-ßes klinisches Labor.

1971 wurden der erste Psychologe und die erste Sozialarbei-terin in der Klinik eingestellt. Kurz darauf wurde neben derbisher dominierenden Arbeitstherapie die Beschäftigungsthe-rapie eingeführt. Erstmals gab es auch ein sporttherapeuti-sches Angebot.

Eine Gruppe von Laienhelfern erhielt 1973 mit der Grün-dung des Vereins »Freunde und Helfer für psychisch Krankee.V. Andernach« einen institutionellen Rahmen.

Die erste psychiatrische Tagesklinik in Rheinland-Pfalz wur-de 1975 auf dem Gelände der Klinik eröffnet.

Mit der Einrichtung einer Kunstwerkstatt im Jahre 1981 bekamdie Kunsttherapie ihren Platz in der Klinik.

Als Folge einer Reform des Medizinstudiums wurde dieLandesnervenklinik 1979 »Akademisches Lehrkrankenhaus« der

Universität Mainz und beteiligt sich seitdem an der psychia-trisch-neurologischen Ausbildung der Medizinstudenten im Praktischen Jahr.

Mit einer veränderten Krankenhausgesetzgebung in der Mitte der 70er Jahre bekam die Klinik eine neue Führungs-struktur. Fortan bildeten der Ärztliche Direktor, der Verwaltungs-direktor und die Leitende Pflegekraft ein kollegiales Leitungs-gremium.

Ende 1985 war die Bettenkapazität der Klinik auf 954 zurück-gegangen, die Zahl der Aufnahmen und Entlassungen hattesich gegenüber 1970 allerdings mit je 3 820 nahezu verdop-pelt. Zu dieser Entwicklung trug einerseits die deutliche Verringe-rung der durchschnittlichen Verweildauer der Patienten auf-grund verbesserter Behandlung und einer liberaleren Thera-peutenhaltung bei, andererseits aber auch die zunehmendeFrequenz von Behandlungsepisoden der einzelnen Patienten.Die Zahl der Mitarbeiter war weiter gewachsen, u.a. auf 24Ärzte und 383 Pflegekräfte im Jahre 1985.

Der zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung desBehandlungsangebotes wurde 1984 durch eine neue Strukturder Psychiatrie Rechnung getragen. Zwei akutpsychiatrische,eine gerontopsychiatrische und eine Abteilung für Suchtkran-ke wurden geschaffen, deren Leitung von nun an in den Hän-den eigenständiger Chefärzte lag. Der Ärztliche Direktor wur-de neben seinen übergeordneten Aufgaben Chefarzt einer akut-psychiatrischen Abteilung.

Die Neurologie hatte bereits 1975 den Status einer Abtei-lung bekommen, anlässlich der Berufung von Dr. Fritz Hilgen-stock zum Leitenden Arzt. 1981 wurde für diese Abteilungerstmalig ein Computertomograph angeschafft, der die dia-gnostischen Möglichkeiten wesentlich erweiterte.

Während der Amtszeit des Ärztlichen Direktors Priv.-Doz. Dr. Gerd Krüger ab 1985 wurde die Entwicklung der Klinikweiter vorangetrieben. Schon bald nach seinem Dienstantrittwurde im Langzeitbereich der Klinik eine Enthospitalisierungs-station eingerichtet. Bis 1996 konnten mehr als hundert Patien-tinnen und Patienten, die z.T. über Jahrzehnte als so genann-te Pflegefälle in der Klinik gelebt hatten, in ihre Fami-

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lien, in betreute Wohnformen anderer Träger und ab Mitte der90er Jahre auch in Außenwohngruppen der Klinik in Ander-nach umziehen.

Die psychotherapeutische Kompetenz der Ärzte und Psycho-logen hatte sich bereits seit den 1970er Jahren mehr und mehrerweitert. 1989 wurde eine spezielle Psychotherapiestation imKlinischen Zentrum eröffnet, mit einem multimodalen Behand-lungskonzept, das unterschiedliche einzel- und gruppenthera-peutische Elemente umfasst.

In der ersten Hälfte der 90er Jahre gab es einige Zwischen-fälle in der Forensisch-psychiatrischen Abteilung, die großeAufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und den Medien erreg-ten. In der Folge wurden in der Abteilung Nette-Gut umfang-reiche zusätzliche Bau- und Sicherungsmaßnahmen realisiert,für die das Land beträchtliche Finanzmittel zur Verfügungstellte. Außerdem wurde der Stellenplan des Maßregelvollzugsdeutlich aufgestockt. Damit hat man u.a. auf die bundesweitzu beobachtende Entwicklung reagiert, dass die Forensische Psy-chiatrie seit den 80er Jahren zunehmend mit schwierigerenund gefährlicheren Patienten konfrontiert ist.

III. Der Weg zum modernen Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie

In den 90er Jahren vollzogen sich besonders tiefgreifendeVeränderungen und brachten einen außerordentlich dynami-schen Entwicklungsprozess in Gang, der bis heute andauert.

Auf der Grundlage der Psychiatrie-Enquete von 1975 unddes Berichtes der Expertenkommission der Bundesregierung von1988 zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psycho-therapeutisch/psychosomatischen Bereich entwickelte die sozial-liberale Koalition, die 1991 die Regierung in Mainz übernahm,ein Reformprogramm, das die psychiatrische Versorgungsland-schaft in Rheinland-Pfalz erheblich veränderte und moderni-sierte.

Konsequenter als früher sollte nun Ernst gemacht werden mitder Gemeindenähe der Versorgung, mit der Gleichstellung vonkörperlich und psychisch Kranken und mit dem Vorrang derambulanten vor der stationären Behandlung. Rechtliches Fun-

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dament für diese Reform wurde das Landesgesetz für psy-chisch kranke Personen, das der Landtag im Oktober 1995 ver-abschiedete. Darüber hinaus beschloss die Mainzer Landes-regierung eine Neustrukturierung der Kliniken in Landesträ-gerschaft, um den verschärften gesundheitsökonomischen Rah-menbedingungen gerecht zu werden. In neuer Rechtsträger-schaft sollten die Kliniken mehr Eigenständigkeit und Flexibi-lität bekommen als die bisherigen Landesbetriebe und ein moder-nes Krankenhausmanagement, damit ihre Leistungsfähigkeitgesichert und ihre Wettbewerbsfähigkeit gesteigert wird.

Am 1.1.1997 wurde das »Landeskrankenhaus-Anstalt des öffent-lichen Rechts« gegründet, Träger von zunächst drei Kliniken,die neue Namen erhielten: die Rhein-Mosel-Fachklinik Ander-nach, die Rheinhessen-Fachklinik Alzey und die NeurologischeKlinik Meisenheim. Am 1.1.2000 kamen drei weitere Betriebs-stätten hinzu, das Kinderneurologische Zentrum Mainz, dieReha-Klinik Rheingrafenstein in Bad Münster am Stein-Ebern-burg und das Sprachheilzentrum Meisenheim.

Seit dem 1. Januar 1997 steht Norbert Finke als Geschäfts-führer an der Spitze des Landeskrankenhauses (AöR) mit Dienst-sitz in der Andernacher Klinik. Dem bereits im Jahr 1996gebildeten Aufsichtsratsgremium steht von Beginn an Staats-minister Florian Gerster vor.

1998 wurde Dr. Fritz Hilgenstock Ärztlicher Direktor, derdie Klinik nach dem Ausscheiden von Dr. Krüger bereits meh-rere Jahre kommissarisch geleitet hatte. Mit dem Verwaltungs-direktor Hans-Willy Weidenbach und der Pflegedirektorin Sie-glinde Hanßen, die ihre Aufgaben bereits seit vielen Jahrenversahen, bildete er das neue Direktorium. Sieglinde Hanßenwurde im Herbst 1999 in den Ruhestand verabschiedet, ihrfolgte am 1.4.2001 Rita Lorse als Pflegedirektorin der Rhein-Mosel-Fachklinik und in Personalunion des Landeskranken-hauses (AöR).

Nachdem die Psychiatriereform seit Beginn der 90er Jahredie konsequente Dezentralisierung der psychiatrischen Versor-gung in Rheinland-Pfalz vorsah, hat sich die Rhein-Mosel-Fach-klinik Andernach – nicht zuletzt in Folge der Veränderung derUnternehmensstruktur – zu einer treibenden Kraft im Psychia-triereformprozess entwickelt.

Im Landespsychiatriebericht von 1990 wurde noch festge-stellt, dass die damalige Landesnervenklinik Andernach mit nahe-zu 10400 km2 den größten Pflichtversorgungsbereich von Rhein-land-Pfalz hatte, ein Gebiet, in dem ca. 1 500 000 Menschenlebten. Durch die Einrichtung verschiedener psychiatrischer Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern (z.B. in Gerol-stein, Lahnstein, Trier und Wissen) und die Wandlung anderer psychiatrischer Fachkliniken zu regionalen Vollversorgungs-häusern (z.B. das St. Antonius-Krankenhaus in Waldbreitbach,die Dr. von Ehrenwall`sche Klinik in Bad Neuenahr-Ahrweiler)soll der Pflichtversorgungsbereich der Andernacher Klinik erheb-lich verkleinert und die Bettenkapazität entsprechend ange-passt werden.

Zu den Zielen der Landespsychiatriereform gehört auch dieFörderung der Einrichtung von Tageskliniken, durch die Bet-ten für die vollstationäre Versorgung wegfallen sollen. 1995und 1996 wurden zwei psychiatrische Tageskliniken der Rhein-Mosel-Fachklinik mit je 15 Plätzen in Koblenz und Mayen eröff-net, im Sommer 1999 kam eine weitere für 15 Patienten inCochem hinzu.

Nachdem die Außenfürsorge klassischen Stils mit Hausbe-suchen von der Klinik aus lange Zeit wegen der verändertenVersorgungsbedingungen im ambulanten kassenärztlichenBereich nicht mehr durchgeführt werden konnte, kam es imFrühjahr 1998 zur Eröffnung der Psychiatrischen Institutsam-bulanz in der Andernacher Klinik. Von dort werden bestimm-te Patientengruppen überwiegend aufsuchend betreut, die auf-grund der Schwere ihrer Krankheitsbilder nicht in der Lageoder bereit sind, niedergelassene Fachärzte aufzusuchen. Inder Ambulanz können außerdem Drogenabhängige mit Metha-don substituiert werden. Die aufsuchende Betreuung von psy-chisch Kranken im Koblenzer Raum wurde außerdem seit 1997durch die Tätigkeit eines Andernacher Facharztes im Sozial-psychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes in Koblenz ver-bessert, der mit der Hälfte seiner Stelle in der dortigen Tages-klinik beschäftigt ist.

Der psychiatrische Behandlungsbereich bekam Ende 1997 sei-ne jetzige Struktur mit den Abteilungen Allgemeinpsychiatrieund Psychotherapie, Sucht und Sozialpsychiatrie und Geron-

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Konsultation auf dem Klinikgelände

topsychiatrie. Gleichzeitig wurde die innere Sektorisierung inder Allgemeinpsychiatrie eingeführt und die Geschlechter-trennung der letzten Stationen aufgehoben.

1999 konnte das therapeutische Angebot in der Psychiatriedurch die Beschäftigung einer Musiktherapeutin erweitert wer-den.

Seit dem 1.2.2001 befindet sich in einem völlig renoviertenGebäude des früheren Langzeitbereiches die erste rheinland-pfälzische Station zur qualifizierten Entgiftung Drogenabhän-giger mit 20 Behandlungsplätzen.

Im Jubiläumsjahr wird die Rhein-Mosel-Fachklinik anläss-lich der Neugründung einer psychiatrischen Tagesklinik im Herz-Jesu-Krankenhaus in Dernbach bei Montabaur erstmals eineneue Kooperationsform mit einem anderen Träger eingehen.Die Andernacher Klinik stellt einen Facharzt für das neue Ver-sorgungsangebot im Westerwaldkreis und wird die fachliche Auf-sicht übernehmen.

1991 trat die Psychiatrie-Personalverordnung des Bundes inKraft, die einen neuen Standard setzte, sowohl hinsichtlich derZahl zu besetzender Stellen der verschiedenen Berufsgruppenals auch der Versorgungsqualität. Von 1991 bis 1995 kam esdaraufhin in der Andernacher Klinik zu einer deutlichen Stel-lenvermehrung. Da sich seitdem die wirtschaftliche Situationder Kostenträger verschlechterte, wurde es schwieriger, dasPersonal entsprechend den Soll-Zahlen der Verordnung zu finan-zieren.

Seit einer Reihe von Jahren finden regelmäßig Gruppen-sitzungen mit den Angehörigen der psychisch Kranken statt.Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Professionelle treffen sichaußerdem in Psychoseseminaren, die 1998 eingeführt wurden.

Mit Beginn des Jahres 2000 wurde die Abteilung Langzeit-psychiatrie der Klinik in ein »Psychiatrisches und heilpädago-gisches Heim« umgewandelt. An seine Spitze trat Karl-Heinz

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Gruppengespräch, Tagesklinik Koblenz

Saage als Heimdirektor, der auch für die chronisch psychischKranken und Behinderten in der Rheinhessen-Fachklinik Alzeydie Verantwortung trägt. Im Sommer 2000 wurde eine weite-re Außenwohngruppe für chronisch Kranke in Cochem eröff-net.

Die Klinik Nette-Gut für Forensische Psychiatrie an der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach hat seit Mitte der 90er Jahre einekontinuierliche Zunahme an Patienten zu verkraften. Währendbis 1990 die Belegung nicht über 100 Patienten lag, sindgegenwärtig 270 zu versorgen, darunter auch 15 Frauen, fürdie 1998 erstmals in Rheinland-Pfalz eine eigene Behandlungs-einheit geschaffen wurde.

Die wachsende Patientenzahl machte zusätzliche Baumaß-nahmen erforderlich. 1998 wurde das »Haus Nette« auf demGelände der Andernacher Hauptklinik eröffnet, ein renoviertesund gesichertes Stationsgebäude mit zwei forensisch-psychia-trischen Stationen. Auf dem Gelände der Klinik Nette-Gut wurde im Herbst 2000 nach bemerkenswert kurzer Planungs-und Bauzeit ein neues Gebäude mit vierzig Betten eingeweiht.In den Jahren 1999 und 2000 wurden zwei Außenwohngrup-pen für Maßregelvollzugspatienten eingerichtet.

Die diagnostischen Möglichkeiten der Neurologischen Abtei-lung wurden 1998 durch die Anschaffung eines neuen Com-putertomographen, eines neuen Elektromyographie-Gerätes sowieeines Farb-Triplexdopplergerätes deutlich verbessert.

Anfang 2001 wurden in der Abteilung vier Überwachungs-betten eingerichtet, die insbesondere einer verbesserten Ver-sorgung von Schlaganfallpatienten dienen sollen. Die konven-tionelle Röntgenanlage der Klinik wurde im Jahr 2000 durchein digitales Röntgengerätesystem ersetzt.

Darüber hinaus kamen allen Klinikbereichen zahlreiche Reno-vierungsmaßnahmen zugute, die seit der Gründung des Lan-deskrankenhauses durchgeführt wurden und werden.

teil dreiDie Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach heutevon dr. med. stefan elsner

In den letzten Jahren hat sich die Klinik zu einem moder-nen Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologieentwickelt, das seinen Patientinnen und Patienten umfassendediagnostische und therapeutische Möglichkeiten bietet.

Die Andernacher Klinik ist Mittelpunkt einer gemeindena-hen psychiatrischen Regionalversorgung. Zum Kernbereich derVersorgungsregion gehören die Stadt Koblenz, die LandkreiseMayen-Koblenz, Cochem-Zell und der Westerwaldkreis. Auf-nahmepflicht besteht derzeit außerdem noch für die Landkrei-se Ahrweiler, Altenkirchen, Bitburg-Prüm, Daun, Trier-Saar-burg und für die Stadt Trier. Im Laufe der nächsten Jahre wer-den die neu entstandenen psychiatrischen Fachabteilungen anAllgemeinkrankenhäusern aber so weit ausgebaut sein, dasssie die Vollversorgung ihrer jeweiligen Region übernehmen können. Die Rhein-Mosel-Fachklinik wird dann nur noch fürden Kernbereich zuständig sein.

Die Klinik hat gegenwärtig 829 Planbetten, Behandlungs- undWohnplätze. Davon entfallen 283 Betten auf die Abteilungen All-gemeinpsychiatrie, Gerontopsychiatrie und Sucht, 60 Behand-lungsplätze auf die vier Tageskliniken, 54 Betten auf die Neu-rologische Abteilung, 215 auf die Forensische Psychiatrie und217 Wohnplätze auf den Heimbereich.

Am Ende des Jahres 2000 lag die Fallzahl für das Gesamt-klinikum bei 6 250. In der krankenkassenfinanzierten Psychi-atrie lag die durchschnittliche Verweildauer bei rund 24 Tagen,in der Neurologie bei 12 Tagen.

Insgesamt sind in der Klinik einschließlich des Heimbereichsmehr als 1 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt,darunter 54 Ärzte, 17 Psychologen, 27 Sozialarbeiter/Sozial-pädagogen, 20 Ergotherapeuten, 2 Kunst- und Musiktherapeu-ten, 3 Sporttherapeuten, 7 Physiotherapeuten, 3 Masseure und 543 Krankenpflegekräfte.

Zu den Mitarbeiterinnen gehört auch eine Fachärztin für Inne-re Medizin, die abteilungsübergreifend die internistische Mit-versorgung der Patienten sicherstellt.

Die übrigen Mitarbeiter sind in der Verwaltung, im medizi-nisch-technischen Bereich und in den Versorgungs- und Hand-werksbetrieben tätig.

Am Standort Andernach befindet sich eine Zentralapotheke,die nicht nur die Rhein-Mosel-Fachklinik versorgt, sondernauch das Evangelische und Johanniter-Krankenhaus in Dier-dorf und Selters.

Ein katholischer und ein evangelischer Pfarrer sowie zweiPastoralreferenten stehen der Krankenhausgemeinde vor.

Eine Patientenfürsprecherin, die vom Kreistag des KreisesMayen-Koblenz ernannt wurde, ist ständig für die Krankenansprechbar, die Kritik und Anregungen, aber auch sehr per-sönliche Probleme mit einer von der Klinik unabhängigen Person erörtern möchten.

In der Klinik befinden sich eine umfangreiche wissenschaft-liche Bibliothek und eine Leihbücherei für die Patienten, dievon einer Mitarbeiterin und einer ehrenamtlichen Helferin betreutwerden.

Eine wesentliche Rolle spielen Fort- und Weiterbildung inder Rhein-Mosel-Fachklinik. Sie ist anerkannte Weiterbildungs-stätte für angehende Fachärzte. Die Leitenden Ärzte verfügenüber die volle Weiterbildungsbefugnis zum »Facharzt für Psy-chiatrie und Psychotherapie« und zum »Facharzt für Neurolo-gie«. Regelmäßig finden wissenschaftliche Fortbildungsveran-staltungen mit auswärtigen Referenten statt. Oft werden Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter gebeten, auswärts Fachvorträge zuhalten. Ein Mitarbeiter ist hauptamtlich für die Organisationeines vielfältigen Programms für die innerbetriebliche Fortbil-dung zuständig, das sich an alle Berufsgruppen in der Klinikwendet.

Eine lange Tradition hat die Krankenpflegeschule der Rhein-Mosel-Fachklinik mit z.Z. 85 Ausbildungsplätzen. Weiterhinunterhält die Klinik ein staatlich anerkanntes Institut für dieWeiterbildung zur/zum »Fachschwester/-pfleger für Psychia-trie«. Dort werden auch Lehrgänge für angehende Stations-leiterinnen/-leiter sowie Praxisanleiter angeboten.

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Bereiche der Klinik und des Heims4 allgemeinpsychiatrische Krankenstationen,1 Psychotherapiestation, 2 Tageskliniken in Andernach undCochem4 Krankenstationen (darunter 6 internistische Betten), 1 (allge-meinpsychiatrische) Tagesklinik in Koblenz3 Stationen für Suchtkranke, 1 Station für spezielle Rehabili-tation, 1 (allgemeinpsychiatrische) Tagesklinik in MayenPsychiatrische Institutsambulanz mit Methadonambulanz3 Krankenstationen

11 Krankenstationen, 2 Außenwohngruppen

8 Stationen, 1 Trainingswohngruppe, 2 Außenwohngruppen inAndernach, 1 Außenwohngruppe in Cochem

Abteilung Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie Leitender Arzt: Dr. med. Stefan Elsner

Abteilung GerontopsychiatrieLeitender Arzt: Dr. med. Andreas KornAbteilung Sucht und SozialpsychiatrieLeitender Arzt: Dr. med. Albrecht Quast

Neurologische AbteilungLeitender Arzt: Dr. med. Fritz HilgenstockKlinik Nette-Gut für Forensische PsychiatrieKommiss. Leitender Arzt: Wolfram Schumacher-Wanderslebab dem 15.8.2001Leitende Ärztin: Dr. med. Sylvia LeupoldPsychiatrische und heilpädagogische Heime AndernachLeiter: Karl-Heinz Saage, Dipl.-Päd.

Einrichtungsträger

Die Leitungsstruktur der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach einschließlich des Heimbereichs

Norbert FinkeWerner Schmitt

Dr. med. Fritz HilgenstockDr. med. Stefan ElsnerHans-Willy Weidenbach, ab 1.10.2001 Werner SchmittHans DreyerRita LorseWolfgang KisselKarl-Heinz Saage

Landeskrankenhaus (Anstalt des öffentlichen Rechts)Geschäftsführer: Stellv. Geschäftsführer:

Direktorium der Rhein-Mosel-Fachklinik AndernachÄrztlicher Direktor: Stellv. Ärztlicher Direktor: Verwaltungsdirektor: Stellv. Verwaltungsdirektor:Pflegedirektorin:Stellv. Pflegedirektor:Direktor Heime:

Für die Patientinnen und Patienten der Rhein-Mosel-Fach-klinik stehen vielfältige diagnostische Verfahren zur Verfügung:

·Psychopathologische Diagnostik·Klinisch-neurologische Diagnostik·Testpsychologische Diagnostik (computergestütztes

Testlabor)·Konventionelles Röntgen·Computer-Tomographie·Elektroenzephalographie (EEG)·Elektrokardiographie (EKG)·Evozierte Potentiale (VEP, AEP, SSEP, MEP)·Magnetstimulation·Elektromyographie (EMG)·Elektroneurographie (NLG)·Ultraschalldiagnostik (Sonographie)·Labordiagnostik (Liquorlabor und klinisch-chemisches

Labor)

Alle Patienten werden nach individuellen Therapieplänenbehandelt. Das Angebot umfasst eine Vielzahl von körperorien-tierten, psychotherapeutischen und soziotherapeutischen Ver-fahren:

·Pharmakotherapie (einschließlich Methadonsubstitution)·Elektrokrampftherapie· Internistische Versorgung durch eine Fachärztin für Innere

Medizin·Tiefenpsychologisch orientierte und verhaltenstherapeutische

Psychotherapie in Einzel- und Gruppensitzungen·Hypnotherapie·Sexualtherapie·Traumatherapeutische Gruppe·Entspannungsverfahren (Autogenes Training, Progressive

Muskelentspannung nach Jacobson)·Psychoedukative Gruppen mit Schizophrenen·Spezielle Gruppen für Depressive·Sozialtherapeutische Gruppen·Hilfestellung bei Problemen mit Wohnung, Arbeit und

Sozialversicherung·Computergestütztes kognitives Training·Differenzierte Beschäftigungstherapie·Arbeitstherapie ·Spezielle frührehabilitative Ergotherapie·Sprachtherapie (Logopädie)·Sporttherapie ·Musiktherapie

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In der Holzwerkstatt der Ergotherapie Das Bewegungsbad der physiotherapeutischen Abteilung

·Kunsttherapie·Krankengymnastik·Massagen und andere physikalische Anwendungen·Ambulante aufsuchende Behandlung

über die Institutsambulanz·Angehörigengruppen

Bei Bedarf werden Konsiliarärzte hinzugezogen, die regel-mäßig Sprechstunden in der Klinik durchführen (Augen-, Haut-, HNO-, Zahnarzt). Darüber hinaus besteht eine engeKooperation mit dem Andernacher St. Nikolaus Stiftshospital,in dem weitere körpermedizinische Krankheiten der Patientenbehandelt werden können.

Zu den niedergelassenen Ärzten und Psychologen und zuzahlreichen Einrichtungen der komplementären Betreuungpsychiatrischer Patienten bestehen seit langem enge Kontakte,um jedem Kranken die bestmögliche Behandlung und Versor-gung auch nachstationär zukommen zu lassen.

Viele Mitarbeiter engagieren sich in kommunalen Psychia-triebeiräten und psychosozialen Arbeitsgemeinschaften derRegion, um die Weiterentwicklung des psychiatrischen Ver-sorgungssystems mitzugestalten und die Belange der Klinik zu vertreten.

Regelmäßige Gesprächskontakte bestehen weiterhin zu denVerbänden der Angehörigen und der Psychiatrie-Erfahrenen,deren Kritik und Anregungen gern aufgenommen werden, wennsie zur Verbesserung der klinischen Versorgung beitragen.

Durch die neue Rechtsform hat die Rhein-Mosel-FachklinikAndernach die Möglichkeit bekommen, mit wesentlich größe-rer Flexibilität und deutlichem Zuwachs an innerer Dynamikauf die Herausforderungen zu reagieren, die an ein psychiatri-sches Krankenhaus heute gestellt werden.

Wie schon in den vergangenen fünf Jahren wird die wesent-liche Aufgabe der nächsten Entwicklungsphase sein, die Größe und Struktur der Klinik an die veränderten Bedingun-gen anzupassen, die durch die Psychiatriereform des Landesvorgegeben sind. Parallel zu diesem Prozess werden die The-rapie- und Versorgungsangebote der Klinik entsprechend demwissenschaftlichen Fortschritt weiter differenziert und verbes-sert werden. Dabei wird die psychiatrische Fachklinik ihremAnspruch gerecht werden müssen, einerseits regionale Vollver-sorgung im besten Wortsinn zu leisten, andererseits aber auchtherapeutische Angebote zu machen, die einen überregionalenBedarf decken und damit die Möglichkeiten kleinerer psychia-trischer Fachabteilungen ergänzen.

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Sporthalle der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach Blick in das heutige Foyer des Klinischen Zentrums

anhangVerzeichnis der Textquellen

1 Empfehlenswert zu diesem Aspekt: Dirk Blasius, RheinischePsychiatrie im 19. Jahrhundert, in: Rhein. Vierteljahresblätter62, 1998

2 Der erste ordentliche Professor für Psychiatrie im Rheinlandwar an der Bonner Universität Carl Pelman, zugleich Di-rektor der rheinischen Provinzial-Heil- u. Pflegeanstalt Bonn.

3 Die Krankenakten aus Siegburg sind nahezu vollständig imArchiv des Landschaftsverbandes Rheinland erhalten. Siestellen eine wertvolle und reichhaltige Quelle für Studienund Forschungen aus der Psychiatrie des 19. Jh. dar.

4 Werner Nasse, Denkschrift von 1864, in: Reorganisation derIrrenpflege der Rheinprovinz, ALVR 8032

5 Die rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten Gra-fenberg, Merzig und Andernach in ihrer Entwicklung, Ent-stehung und Verfassung, Düsseldorf, 1904 (gedruckteFassung)

6 Bericht über die rheinische Provinzialirrenanstalt Andernachin den Jahren 1880–1887 (von Dr. Nötel). Koblenz 1888(gedruckte Fassung)

7 Bericht 1880–1887, s.o.8 Friedrich Nötel, Verwaltungsbericht 1880–1887, in: ALVR

146589 Rudolf Finkelnburg, Der Fall-Weber-Andernach und seine

Anwendung auf die Frage der Irrenrechtsreform, in:Deutsche Medizinische Wochenschrift, H. 45 1895, S. 15f.

10 Der »Fall-Weber-Andernach« hatte zu Verdächtigungen undAnschuldigungen gegen die Provinzialirrenanstalt Andernachund die Amtsführung ihres Direktors Friedrich Nötel geführt,die jedoch letztlich zurückgenommen wurden. Nötel gingrehabilitiert aus der Angelegenheit hervor, trug aber gesund-heitliche Einbrüche davon, die ihn nach dem Tod seinerFrau 1899 zu frühzeitiger Pensionierung veranlassten. Erstarb noch im gleichen Jahr.

11 Die rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten Gra-fenberg, Merzig und Andernach in ihrer Entwicklung, Ent-

stehung und Verfassung, Düsseldorf, 1904 (gedruckte Fassg.)12 Bericht 190413 Bericht 1880–1887 14 Werner Nasse, Tätigkeitsbericht 1878,in: Verwaltungsberich-

te der PHP Andernach, 1876–1912, ALVR 1465815 Bericht 1880–188716 Bericht 190417 Bericht 1880–188718 Bericht 1880–188719 Bericht 1880–188720 Akten betr. Einwirkungen der Kriegsereignisse auf das

Anstaltsleben 1919, in: ALVR 875221 Landesmed. Rat Dr. Wiehl, Fürsorge für Geisteskranke, Idio-

ten und Epileptiker, in: Die Rheinische Provinzialverwal-tung, ihre Entwicklung und ihr heutiger Stand, Hrg.: Lan-deshauptmann Dr. Horion, Düsseldorf 1925

22 B. Dietrich, Über Typhus abdominalis in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach, in: Psychiatrisch-neuro-logische Wochenschrift, H. 19, 1928, S. 197f.

23 Paul Gies, Bericht über den Stand der Insulin- und Cardia-zolbehandlung an der Provinzial-Heil- und PflegeanstaltAndernach, in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift,H. 13, 1938, S. 141f.

24 Johann Recktenwald, Offene Fürsorge im Aufnahmegebietder rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Ander-nach, in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift, H. 11,1928, S. 200f. und B. Dietrich, dass., in: Psychiatrisch-neu-rologische Wochenschrift, H. 32, 1929, S. 396f.

25 Verwaltungsberichte der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten1930–1937, in: ALVR 14856 Gesundheitsdezernent Creutzwurde nach dem Krieg vor Gericht angeklagt wegen seinerVerantwortlichkeit für die Verlegung von etwa 10 000 Kran-ken aus rheinischen Anstalten in die Tötungsanstalt Hada-mar und andere Anstalten, in denen – sicher nachgewiesen– mindestens 6 000 Patienten ermordet wurden. Creutz wur-de im Revisionsverfahren freigesprochen und rehabilitiert.Bis zu seiner Pensionierung war er leitender Arzt in derAlexianeranstalt in Neuss.

26 Bericht des Rheinischen Provinzial-Instituts für Psychiatrisch-

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neurologische Erbforschung vom 3.3.1936, in: ALVR 14856.Friedrich Panse wurde zusammen mit anderen Verantwort-lichen, darunter Walter Creutz, 1948 in Düsseldorf der Pro-zess gemacht wegen »Verbrechen gegen die Menschlich-keit« und des Verdachts der Beteiligung an der »Euthana-sie« in der Rheinprovinz. Im zweiten Verfahren wurden erund die anderen Hauptverantwortlichen freigesprochen, einAbteilungsarzt und zwei Krankenschwestern erhielten z.Tschwere Strafen. – Panse war in den 60er Jahren bis zu sei-ner Pensionierung Direktor der nun »Landeskrankenhaus«genannten ehemaligen Anstalt Düsseldorf-Grafenberg mitgleichzeitiger Funktion als Professor für Psychiatrie an dermedizinischen Fakultät der Hochschule Düsseldorf.

27 Die Personenkartei und die Sippentafeln des ErbbiologischenInstitutes Bonn wurden zum Schutz vor dem Bombenkrieg1943 nach Mitteldeutschland ausgelagert. Sie wurden im Zugedes deutsch-deutschen Kulturaustausches ins Rheinlandzurückverbracht und liegen heute im Archiv des Landschafts-verbandes Brauweiler.

28 in: ALVR 1485629 Verwaltungsbericht der PHP Andernach 1934/35, in: ALVR

1485630 Urteil des Landgerichtes Koblenz vom 29.7.1948 in der

Strafsache gegen die Ärzte der Provinzial-Heil- u. Pflegean-stalt Andernach wegen Verbrechens gegen die Menschlich-keit (Euthanasie-Prozess) und: Lfd. Nr. 225 »Euthanasie, Heil-u. Pflegeanstalt Andernach, 1941 bis 1945«, Oberlandesge-richt Koblenz 1949–51, in: Justiz und NS-Verbrechen, Samm-lung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tö-tungsverbrechen 1945–66, Bd. VII, Amsterdam 1971 (Kopienbeider Urteile: Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland)

31 Der »Erlaß über die Meldepflicht geistig bzw. körperlich behin-derter Neugeborener« führte bis zum Ende des Krieges zuetwa 5 000 Kindermorden. Ab August 1941 wurde die »Kin-dereuthanasie« auf Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr aus-geweitet.

32 Weil es mittlerweile zahlreiche Darstellungen zu diesem Thema im Allgemeinen gibt, seien die wichtigsten Datenzum Verständnis hier nur kurz aufgeführt: Die erste Phase

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der Krankenmorde (1939/40–41) wurde zentral gesteuert voneiner eigens dafür eingerichteten Organisation in der Berli-ner Tiergartenstraße 4 (»Aktion T4»). Sie sorgte mit Hilfemehrerer Tarnorganisationen (so u.a. die »GemeinnützigeKrankentransport GmbH«/GEKRAT und die »Gemeinnüt-zige Stiftung für Anstaltspflege« als Kassen- und Personal-abteilung) dafür, dass alle öffentlichen und privaten Anstal-ten Meldebögen zur Erfassung ihrer Patienten erhielten.Die Bögen gingen nach Berlin zurück und wurden erneutzentral an ausgesuchte »Gutachter« verteilt, die aufgrundder Diagnosen auf den Meldebögen entschieden, welchePatienten in Vernichtungsanstalten abzutransportieren waren.Die Anstalten erhielten die Aufforderung, die selektiertenPatienten reisefertig bereit zu halten für die Busse derGEKRAT oder sie im Zug auf Transport zu schicken. DasZiel der Transporte wurde weder den abgebenden Anstaltennoch den Angehörigen mitgeteilt. In eigens dafür einge-richteten Mordanstalten mit T4-Personal wurden die Kran-ken in Gaskammern umgebracht. Die Angehörigen erhiel-ten einen »Trostbrief« aus der Tötungsanstalt mit der Mit-teilung über das plötzliche »Ableben« ihres Kranken unterfingierten Todesursachen. Registriert wurden die Toten inSonderstandesämtern. Wegen wachsender Unruhe angesichtszunehmender Gerüchte wurde die »Aktion T4« im August1941 eingestellt. Die Transporte gingen danach weiter, aller-dings nicht mehr zentral gelenkt. Ziel waren in der zweitenPhase 1943–1945 Anstalten in Mittel- und Ostdeutschland,in denen die Patienten mit Gift, Hunger und Vernachlässi-gung zu Tode gebracht wurden.

33 Allerdings wurde in Waldniel bei Süchteln eine sognannteKinderfachabteilung eingerichtet, in der geistesschwache und-kranke Kinder ermordet worden sind.

34 Der eine Arzt, der hier seine Teilnahme an diesem Programmverweigerte, konnte die Konferenz verlassen und in seinerAnstalt unbehelligt weiterarbeiten. Vgl.: Ernst Klee, Eutha-nasie im NS-Staat, Ffm. 1985, S. 223

35 Wahrscheinlich, aber bis heute nicht geklärt, ist, dass sieins »Gerneralgouvernement« (Polen) gefahren und dort umge-bracht wurden.

Verzeichnis der Bildquellen/Bildautorenteil eins Sämtliche historischen Aufnahmen stammen aus dem Archivder Landesbildstelle Rheinland, Düsseldorfteil zweiS. 43 oben (Computertomograph) von Wolfgang WillenbergDie übrigen Aufnahmen von IN MEDIAS GmbH, Koblenzteil dreiS. 50 links (Holzwerkstatt) von Uwe Feuerbach, SchwabenheimS. 51 rechts (Foyer) von Wolfgang WillenbergDie übrigen Aufnahmen von IN MEDIAS GmbH, Koblenz

Text teil eins: Dr. phil. Bettina Bouresh, Pulheimteil zwei, teil drei: Dr. med. Stefan Elsner, Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach

Redaktionelle Betreuung, KoordinationWolfgang Willenberg, Landeskrankenhaus (AöR)

Layout und HerstellungPeter Zilliken, bfk, Offenbach

RessourcenschutzDas für diese Druckschrift verwendete Qualitätspapier erfülltdie Anforderugen des Nordic Environmental Label (Swan-Umweltzeichen)

DanksagungWir danken den folgenden Firmen für die freundlicheUnterstützung:

Fa. AstraZenica, WedelFa. Janssen-Cilag GmbH, NeussFa. Lundbeck GmbH & Co., HamburgFa. Pharmacia GmbH, ErlangenFa. Wyeth-Pharma GmbH, Münster

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Pantone 292 CV

125 jahre π zukunft

1876

2001

| RMF| Eine Einrichtung des Landeskrankenhauses (AöR)

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rhein-mosel-fachklinik andernach

festschrift zum 125-jährigen gründungsjubiläum

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