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Literaturberichte Rezensionen Hans-Henning Kort Um, Menschen und Mentalitäten. Einführung in Vorstel- lungswelten des Mittelalters. Akademie, Berlin 1996. 373 S. Obwohl heute die Mentalitätsgeschichtsforschung - Kortüm spricht hingegen bewußt von Mentalitäten oder präferiert den von H.-W. Goetz vorgeschlagenen Begriff der „Vorstellungs- geschichte" (Vorwort, 10) - ζ. T. durch andere mit ihr konkurrierende Konzepte modifiziert oder sogar abgelöst erscheint (vgl. etwa die ausdrückliche Distanzierung von dem als unzuläng- lich empfundenen Mentalitätsbegriff durch den kürzlich verstorbenen französischen Mediä- visten Georges Duby, einen der „Väter" der Mentalitätengeschichtsschreibung, in dessen 1991 erschienener Autobiographie „L'Histoire continue"), hat sie dennoch ihren Wert, und ihr Hauptverdienst liegt wohl in der Sensibilisierung gegenüber Fragestellungen, die von der älte- ren Geschichtsschreibung fiir nicht wesendich gehalten, vernachlässigt oder nur am Rande be- handelt worden waren, wie ζ. B. die Geschichte menschlicher Gefühle und Affekte. Als histo- rische Anthropologie und Geschichte der kollektiven Vorstellungen widmet sich die Mentalitä- tengeschichte vor allem auch der Erforschung unbewußter Mentalitäten bestimmter histori- scher Kollektive. Das Einleitungskapitel (13-34) der zu besprechenden Arbeit, die als Frucht einer zwei- semestrigen Vorlesung über Mentalitätsgeschichte des Mittelalters an der Universität Tübingen entstand und vom Autor als „Einführung" in die Materie bzw. als Studienbuch konzipiert wurde, bietet neben Begriffserklärungen einen kurzen Überblick über die historische Entwick- lung der Mentalitätsgeschichte (Die „Schule" der Annales, 19-23), die Rezeption der Annales- Schule sowie über Probleme und Axiome der Mentalitätsforschung. Der Definition Jacques LeGoffs folgend, derzufolge „die Mentalität eines historischen In- dividuums ungeachtet seiner möglichen Größe gerade in dem liege, was es mit anderen Men- schen seiner Zeit gemeinsam habe", zerfällt Kortüms weitere Darstellung inhaldich in zwei Teile: in einem ersten, stärker synchron orientierten Abschnitt Α wird die Mentalität von ver- schiedenen Gruppen (Adel, Geisdichkeit, Bürger, Randgruppen, Bauern, Intellektuelle) der mittelalterlichen Gesellschaft untersucht, danach folgt im Teil Β die Beschreibung der Menta- lität auf einer diachronen Ebene; dabei steht stärker als im ersten Teil der Mentalitätswandel im Vordergrund, der anhand verschiedener Themen (Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen, Einstellung zu Krankheit, Alter, Sterben und Tod, Sexualität und Liebe, Religiöse Vorstellun- gen) beleuchtet wird. Hier gibt Kortüm u. a. in bezug auf Aussagen einiger deutscher Mentali- tätsforscher (ζ. B. Peter Dinzelbacher in der von ihm 1993 herausgegebenen „Europäischen Mentalitätsgeschichte", 70ff), es habe im Frühmittelalter keine als raison d'etre empfundene „Liebe" gegeben - diese sei erst eine Erfindung bzw. Wiederfindung des Hochmittelalters -, zu MIÖG 105(1997) Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/22/14 4:06 AM

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Literaturberichte

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Hans-Henning Kor t Um, Menschen und Mentalitäten. Einführung in Vorstel-lungswelten des Mittelalters. Akademie, Berlin 1996. 373 S.

Obwohl heute die Mentalitätsgeschichtsforschung - Kortüm spricht hingegen bewußt von Mentalitäten oder präferiert den von H.-W. Goetz vorgeschlagenen Begriff der „Vorstellungs-geschichte" (Vorwort, 10) - ζ. T. durch andere mit ihr konkurrierende Konzepte modifiziert oder sogar abgelöst erscheint (vgl. etwa die ausdrückliche Distanzierung von dem als unzuläng-lich empfundenen Mentalitätsbegriff durch den kürzlich verstorbenen französischen Mediä-visten Georges Duby, einen der „Väter" der Mentalitätengeschichtsschreibung, in dessen 1991 erschienener Autobiographie „L'Histoire continue"), hat sie dennoch ihren Wert, und ihr Hauptverdienst liegt wohl in der Sensibilisierung gegenüber Fragestellungen, die von der älte-ren Geschichtsschreibung fiir nicht wesendich gehalten, vernachlässigt oder nur am Rande be-handelt worden waren, wie ζ. B. die Geschichte menschlicher Gefühle und Affekte. Als histo-rische Anthropologie und Geschichte der kollektiven Vorstellungen widmet sich die Mentalitä-tengeschichte vor allem auch der Erforschung unbewußter Mentalitäten bestimmter histori-scher Kollektive.

Das Einleitungskapitel (13-34) der zu besprechenden Arbeit, die als Frucht einer zwei-semestrigen Vorlesung über Mentalitätsgeschichte des Mittelalters an der Universität Tübingen entstand und vom Autor als „Einführung" in die Materie bzw. als Studienbuch konzipiert wurde, bietet neben Begriffserklärungen einen kurzen Überblick über die historische Entwick-lung der Mentalitätsgeschichte (Die „Schule" der Annales, 19-23), die Rezeption der Annales-Schule sowie über Probleme und Axiome der Mentalitätsforschung.

Der Definition Jacques LeGoffs folgend, derzufolge „die Mentalität eines historischen In-dividuums ungeachtet seiner möglichen Größe gerade in dem liege, was es mit anderen Men-schen seiner Zeit gemeinsam habe", zerfällt Kortüms weitere Darstellung inhaldich in zwei Teile: in einem ersten, stärker synchron orientierten Abschnitt Α wird die Mentalität von ver-schiedenen Gruppen (Adel, Geisdichkeit, Bürger, Randgruppen, Bauern, Intellektuelle) der mittelalterlichen Gesellschaft untersucht, danach folgt im Teil Β die Beschreibung der Menta-lität auf einer diachronen Ebene; dabei steht stärker als im ersten Teil der Mentalitätswandel im Vordergrund, der anhand verschiedener Themen (Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen, Einstellung zu Krankheit, Alter, Sterben und Tod, Sexualität und Liebe, Religiöse Vorstellun-gen) beleuchtet wird. Hier gibt Kortüm u. a. in bezug auf Aussagen einiger deutscher Mentali-tätsforscher (ζ. B. Peter Dinzelbacher in der von ihm 1993 herausgegebenen „Europäischen Mentalitätsgeschichte", 70ff) , es habe im Frühmittelalter keine als raison d'etre empfundene „Liebe" gegeben - diese sei erst eine Erfindung bzw. Wiederfindung des Hochmittelalters - , zu

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bedenken, daß aus dem Schweigen der Quellen über bestimmte Phänomene noch lange nicht auf deren tatsächliche Nichtexistenz geschlossen werden darf, zumal darauf hingewiesen wer-den müsse, daß Quellen für den Historiker immer nur bedingt aussagekräftig sind. Zudem wäre zu klären, inwieweit das Streben nach Liebe als anthropologische Grundkonstante jedem menschlichen Dasein zu eigen sei.

Kortüm zeigt (284 flf.), daß auch Gregor von Tours, welcher von Dinzelbacher als Kron-zeuge dieser im Frühmittelalter angeblich fehlenden „Liebe" herangezogen worden war, die ganze Bedeutungsfiille des Wortes „amor" und nicht nur dessen Reduktion auf eine körperliche Begierde des Mannes gekannt habe; er bezeugt dies mit Textstellen Gregors, die den Begriff „amor" (Liebe) eindeutig im Vollsinn des Wortes gebrauchen.

Kortüms Darstellung ist m. E. deshalb besonders wertvoll, weil sie die Defizite der Menta-litätsforschung nicht verschweigt oder beschönigt. Diese liegen vor allem in einer bis heute noch nicht gefundenen schlüssigen Definition des Mentalitätsbegriffs (vgl. dazu den eher be-mühten Versuch Dinzelbachers in dessen Einfuhrung seiner Mentalitätsgeschichte, XXI), in der umstrittenen Möglichkeit der Nachweisbarkeit von Mentalitäten (allgemeiner Quellen-mangel für bestimmte Epochen, besonders für das Frühmittelalter; Quellen sind weiters auf-grund möglicher Stilisierung immer nur bedingt aussagekräftig; zudem kann der Historiker Mentalitäten wohl nie direkt, sondern nur mittelbar, d. h. nachdem sich diese in irgendeiner Form materialisiert haben, erschließen), in der Frage nach Abgrenzung bzw. Ineinssetzung von Individuum und Gruppe (sog. Homogenitätsproblem) - d. h. sind ermittelte „Mentalitäten" tatsächlich kollektive Einstellungen sozialer Gruppen oder nur eine individuelle sensibilite? - , und schließlich in der Möglichkeit einer Überlagerung mehrerer Mentalitäten in ein und dem-selben Geist.

Noch gibt es keine schlüssige Theorie der Mentalitäten oder gar des Mentalitätswandels; gerade die Erfassung von Veränderungen der Mentalitäten ist problematisch, da mitunter schwer erklärbar. Auch ist eine festgestellte Mentalität als weitgehend kollektives Phänomen ei-ner Zeit nicht frei von Widersprüchlichkeiten oder Gegensätzen. Als anschauliches Beispiel bie-tet sich hierfür etwa die vielfältige Einstellung zum Tod im Spätmittelalter an: der Tod kann als Jüngling, als abstoßender verwesender Leichnam dargestellt werden, als Sensenmann oder Lehnsmann Gottes; er wird gerühmt, daß nur er völlig gerecht sei und niemanden verschone, und zugleich wird er angeklagt und verflucht.

Da literarische Darstellung und erfahrene Wirklichkeit (so bieten dem Historiker fast aus-schließlich Fremdaussagen mönchisch-klerikaler Kreise Hinweise fiir eine „bäuerliche Mentali-tät") nur selten übereinstimmen, kann die eigentliche Aufgabe der Mentalitätsforschung zu Recht als ein Vordringen hinter die Fassade der Stilisierung angesehen werden. Eine schwierige, aber reizvolle Aufgabe. Bibliographische Hinweise nach jedem einzelnen Kapitel und ein Stel-len-, Personen- und Ortsregister heben noch zusätzlich die Benutzerfreundlichkeit dieser kriti-schen, in die mittelalterliche Mentalitätsforschung einfuhrenden Studie, der viele Leser zu wünschen sind.

Breitenfurt Ilse S c h ö n d o r f e r

K o m m u n i k a t i o n zwischen Ο r i e η t und O k z i d e n t . Alltag und Sachkultur. Internationaler Kongreß Krems an der Donau 6. bis 9. Oktober 1992. (Österr. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., Sitzungsbericht 6 1 9 = Veröffentlichungen des Instituts für Rea-lienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. 16.) österr. Akad. der Wissenschaf-ten, Wien 1994. 448 S„ 79 Abb., Schaubilder, Tabellen.

Die in diesem Band vorgelegten sechzehn Aufsätze zur kulturellen Kommunikation zwi-schen Moslems und dem chrisdichen Abendland (erweitert um ein Resumi des mittlerweile

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verstorbenen Vorstandes des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neu-zeit, Harry Kühnel) wurden im Rahmen einer gemeinsam mit dem Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien veranstalteten internationalen Konferenz in Krems als Vorträge präsentiert. Die Veranstaltung verstand sich als disziplinenübergreifende und mit un-terschiedlichen methodischen Ansätzen operierende Diskussion der vielfältigen kommunikati-ven Prozesse im Bereich von Alltag und Sachkultur zwischen Orient und Okzident.

Ralph-Johannes Lilie setzt sich mit den „Handelsbeziehungen zwischen Byzanz, den ita-lienischen Seestädten und der Levante vom 10. Jahrhunden bis zum Ausgang der Kreuzzüge" (25—47) auseinander. Telemachos C. Lounghis (46-67) lenkt den Blick auf die byzantini-schen Gesandten als Vermittler ihrer materiellen Kultur und von Reliquien vom 5. bis ins 11. Jahrhundert. Sophia Menache (69-90) beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Kreuzzüge auf die Entwicklung der Orient-Okzident-Kommunikation, einem eher langwieri-gen und mühsamen Prozeß. Ulrich Rebstock legt eine Untersuchung über „Angewandtes Rechnen in der islamischen Welt und dessen Einflüsse auf die abendländiche Rechenkunst" (91-115) vor. Das chrisdiche Abendland rezipierte die praktische Mathematik der Moslems nicht, die abendländische Mathematik war und blieb eine dem quadrivialen Lehrsystem un-tergeordnete Disziplin. (S. 104 sollte es wohl heißen: Adelard von „Bath", und nicht „Barth", auf S. 111 wäre zu berichtigen: Regiomontan starb nicht 1491 in Nürnberg, sondern 1476 in Rom. Zu ergänzen wäre weiters der Hinweis auf die Regiomontan-Biographie Ernst Zin-ners.) Peter Schreiner (117-141) beschäftigt sich mit dem aufgrund einer schmalen Quellen-basis bislang nur ungenügend erforschten byzantinischen Rechnungswesen unter besonderer Berücksichtigung spätbyzan tinischer Kontobücher des 13. bis 15. Jahrhunderts. David A. King (143—198) untersucht astronomische Instrumente, vor allem teils noch unbekannte und nicht publizierte Astrolabien. Andrew M. Watson (199-212) setzt sich mit den Faktoren der nur ungenügenden Rezeption und langsamen Transmission orientalischer Kulturpflanzen ins christliche Abendland auseinander. So entstand ζ. B. der erste botanische Garten mit ori-entalischen Kulturpflanzen erst um 1310 an der medizinischen Fakultät von Salenio. Wolf-gang von Stromer berichtet über die „Vorgeschichte der Nürnberger Nadelwaldsaat von 1368 - iberisch-islamische Überlieferung antiker Forstkultur" (213—222). Ulrich Haarmann (223— 249) behandelt die Kriegskunst der Mamluken und ihre aus ritterlichem Ethos ablehnende Haltung gegenüber den überlegenen Feuerwaffen der Abendländer. Taxiarchis G. Kolias (251-270) zeigt wechselseitige Einflüsse und Begegnungen zwischen Orient und Okzident im Bereich des Kriegswesens auf. Yedida K. Stillmann (271-305) beschäftigt sich mit den Kleidervorschriften im spätmittelalterlichen Islam. Friedrun R. Hau legt eine detaillierte und mit zahlreichen Abbildungen angereicherte Studie über die „Chirurgie und ihre Instrumente in Orient und Okzident vom 10. bis 16. Jahrhundert" (307-352) vor. Die Chirurgie genoß innerhalb der medizinischen Disziplinen nur geringes Ansehen; am Konzil von Tours 1163 wurden zudem allen Ärzten sämdiche chirurgischen Eingriffe verboten. Auch Peter Dilg setzt sich in seinem Beitrag „Materia medica und therapeutische Praxis um 1500: Zum Einiluß der arabischen Heilkunde auf den europäischen Arzneischatz" (353-377) mit der Frage aus-einander, ob und in welchem Ausmaß die moslemische Heilkunde und ihre Arzneidrogen vom Abendland rezipiert wurden. Hinweise auf Rezeptiergewohnheiten der Arzte und den Heilmittelbestand von Apotheken liefern Arzneibücher bzw. Destillier- und Kräuterbücher sowie Inventarlisten oder Arzneitaxen. Peter Heine widmet sich in seinem Beitrag „Marzipan und manches mehr" (379-392) der Rezeption arabischer Kochkunst und Getränke in Eu-ropa. Er überprüft Wanderungen von Nahrungsmitteln und Rezepten; eine direkte Beein-flussung des Abendlandes durch die moslemische Küche ist nur schwer belegbar. Herben Hunger (393—423) unterstreicht die große Bedeutung und den Einfluß der griechischen Buchproduktion in Italien: Drucke waren sehr teuer und ihre Entstehung bedurfte großzügi-ger Förderung durch angesehene Mäzene. Abschließend weist Klaus-Peter Matschke (425-

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492 Literaturberichte

446) anhand der Diffusion wesdicher Bergbautechniken in den Balkan und besonders in die Agäis einen Technologietransfer in west-ösdicher Richtung nach.

Für die Bekanntgabe der Anschrift aller Autoren ist zu danken. Breitenfurt Ilse S c h ö n d o r f e r

Arno B u s c h m a n n , Kaiser und Reich. Verfassungsgeschichte des Heiligen Römi-schen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806 in Dokumenten. Teil I: Vom Wormser Konkordat bis zum Augsburger Reichsabschied von 1555. Teil II: Vom Westfälischen Frieden bis zum Ende des Reiches im Jahre 1806. 2. erg. Aufl. Nomos, Baden-Baden 1994. 282 u. 381 S.

Zehn Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen konnte diese nützliche Sammlung von Quellen zur inneren Geschichte des Alten Reiches neu und erweitert publiziert werden. Das zeugt von ei-nem großen Interesse am Gegenstand und sicherlich auch für ihre Notwendigkeit im akademi-schen Unterricht. Der Inhalt der beiden Bände reicht vom Wormser Konkordat bis zur Nieder-legung der Kaiserkrone durch Franz II. im Jahre 1806. Selbstverständlich sind alle zentralen Texte, wie der Mainzer Landfriede, die Goldene Bulle, der Westfälische Friede und der Reichs-deputationshauptschluß von 1803, enthalten, aber auch das Reichskammergericht und der Reichshofrat werden berücksichtigt. Die fremdsprachigen Texte sind übersetzt, wobei allerdings manchmal einzelne charakteristische Wendungen, die zur Interpretation einladen, in Klammern wortgetreu angeführt wurden. Der Herausgeber ist sich des Risikos einer solchen Übertragung, was die Quelleninterpretation angeht, durchaus bewußt (Bd. I, S. 6 ,56) , doch gilt sicherlich auch hier das schon 1949 formulierte Dictum Hermann Heimpels: Lieber deutsch als gar nicht.

Die Einleitungen zu den einzelnen Texten bieten ausfuhrliche Angaben zur Überlieferung und zu den Drucken; auch fuhren sie die auf den neuesten Stand gebrachte Literatur an. Die eingehende Gesamteinleitung (Bd. I, S. 9 -56) führt an Hand der einzelnen Texte durch die Ver-fassungsgeschichte des Reiches seit dem Hochmittelalter, die dem Herausgeber, der darin einer Formulierung Leopold von Rankes folgt, von großartiger Geschlossenheit erscheint, als Ergeb-nis einer langen historischen Entwicklung, zu der jede Epoche ihren Beitrag geleistet habe (9 f.).

Zum ersten Teil dieser Feststellung wird man wohl ein Fragezeichen setzen dürfen, doch entspricht sie sicherlich einem immer wiederkehrenden stark modern-juristisch geprägten In-terpretationsmuster. So werden die Kapitularien als Reichsgesetze des karolingischen Groß-reichs bezeichnet (49), wird die Frage aufgeworfen, ob die Confoederatio cum principibus ec-clesiasticis von 1220 ein Gesetz oder nur ein Privileg darstellte und in welcher Überlieferung die amdiche Ausfertigung zu sehen sei (14, 67), oder die Überlegung angestellt, welche Fassung des Statutum in fävorem principum von 1231/32 die Geltung als Reichsgesetz beanspruchen dürfe (74). Auch die Bezeichnung des Mainzer Landfriedens (1235) als einer Kodifikation von Reichsrechten (17) und die Ansicht, nicht alle Bestimmungen der Reichshofratsordnung von 1654 hätten nach heutigem Verständnis Verfassungsrang (38), sind hieher zu rechnen. Es stellt sich doch die Frage, ob man der mittelalterlichen oder überhaupt alteuropäischen Verfassungs-wirklichkeit, die auf einer Vielzahl von Privilegien, Weistümern, Vereinbarungen, aber auch förmlichen Gesetzen sowie ungeschriebenen Traditionen beruhte und sich erst im Funktionie-ren darstellte, damit gerecht wird. Schließlich gab es in der Geschichte sicherlich auch anders strukturierte Formen politischen Handelns, als sie der moderne Verfassungsstaat ermöglicht.

Wie dem immer auch sei, die vorliegende Sammlung ist, gerade angesichts der schwinden-den Lateinkenntnisse unserer Tage, ungemein wertvoll, und der Herausgeber verdient fur seine entsagungsvolle Arbeit reichen Dank, wenn ihm auch darin zuzustimmen ist, daß „letztlich nur der zur eigenen sicheren Erkenntnis und Gewißheit (gelangt), der sich selbst in die Originale vertieft" (56).

Wien Othmar H a g e n e d e r

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Peter B a r t l , Albanien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. (Ost- und Südost-europa. Geschichte der Länder und Völker.) Pustet, Regensburg / Südosteuropagesell-schaft München 1995. 304 S.

Bei kaum einem anderen Land Südosteuropas gestaltet sich eine Zusammenschau der historischen Entwicklung so schwierig wie im Falle Albaniens. Besonders fur Ursprünge und Mittelalter fehlen noch zahlreiche Detailforschungen, bis ein ausfuhrliches Handbuch der albanischen Geschichte entstehen kann.

Gerade wegen dieser Lücken erforderte die Aufgabe einen besonderen Kenner, im Rahmen der Reihe von Ländergeschichten im Verlag Pustet-Südosteuropagesellschaft den Band Albanien zu verfassen. Peter Bard, Professor für Ost- und Südosteuropäische Geschichte in München, be-schäftigt sich seit Jahrzehnten mit albanischer Geschichte, vornehmlich jener der Neuzeit.

Im einleitenden geographischen Kapitel macht er mit Prägnanz klar, worin die historische Schlüsselstellung des albanischen Raumes besteht: in der Kontrolle des Adriazuganges und in der zentralen Lage im Brennpunkt der balkanischen Völkervielfalt. Eigendich, so bemerkt er eingangs, müßte man eher eine „Geschichte der Albaner" verfassen als eine von Albanien, da auch heute ein großer Teil des Volkes außerhalb der staadichen Grenzen lebt.

Die jüngst durch die Thesen Gottfried Schramms wieder etwas in Bewegung geratene Dis-kussion um die Ursprünge der Albaner referiert der Autor in Kütze, wobei er sich hauptsächlich auf die noch immer gültigen Forschungen Georg Stadtmüllers stützt. Dem allgemeinen For-schungsstand entsprechend nimmt das Mittelalter bis zum türkischen Einbruch auf den Balkan nur wenige Seiten ein, die dafür umso klarer die wesendichen Linien nicht nur der polirischen, sondern auch der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung nachzeichnen.

Ausfuhrlich wird das Werk vom Türkenkampf Skanderbegs an, hier hat der Leser auch Ge-legenheit zur Information über Stammesgesellschaft und Siedlungsgeschichte. Die darauf fol-gende, fünfhundert Jahre währende Türkenherrschaft prägte Albanien entscheidend. Hier lie-gen die Wurzeln der jüngeren Entwicklungen seit 1878; um diese Zeit beginnt die nationale Bewußtwerdung der Albaner in der sogenannten „Rilindja"-Bewegung. Mit großem Einfüh-lungsvermögen berücksichtigt Bard alle Bereiche, fuhrt den Leser auf die wichtigen Zusam-menhänge von Politik und Kultur, Selbstbild und Fremdbild hin. Zu Wort kommen dabei auch die außerhalb des eigentlichen Albaniens lebenden Albaner, etwa die starke, in Italien le-bende Gruppe. Der Autor fuhrt seine Darstellung herauf bis in die jüngste Vergangenheit mit den wirtschafdichen und politischen Problemen des Übergangs von der totalitären zur demo-kratischen Regierungsform.

Ergänzt wird der Band durch ein Lexikon der wichtigsten Persönlichkeiten der albanischen Geschichte mit kurzen Biographien sowie einem Verzeichnis der historischen Stätten, was die Orientierung besonders für den „Einsteiger" erleichtert. Entsprechend der Konzeprion der Reihe für einen breiten Leserkreis sind die Literaturangaben auf allgemeine Werke und hier auf das wichtigste beschränkt. Die zahlreichen Karten und Illustrationen ergänzen den Text zu ei-nem Gesamtbild der albanischen Geschichte, das für den ersten Einstieg des interessierten Laien, aber auch für den nichtspezialisierten Fachhistoriker ab jetzt als unerläßliches Hilfsmittel äußerst wertvoll bleibt.

Wien Alexander Karl R ο ζ m ä η

Karl K ä s e r , Hirten, Kämpfer, Stammeshelden. Ursprünge und Gegenwart des bal-kanischen Patriarchats. Böhlau, Wien 1992. 462 S.

Der Autor unternimmt im vorliegenden Werk den schwierigen Versuch, das historische Phänomen balkanischer Stammeskultur im Bereich des heutigen Montenegro, Albaniens und Nordgriechenlands zu erfassen. Dieses bisher wenig beachtete Gebiet zeichnet sich durch be-

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494 Literaturberichte

sondere methodische Schwierigkeiten aus, da für weite Teile vor allem der Frühgeschichte schriftliche Quellen fehlen. Als methodische Grundlage dient dem Autor vor allem die „Ethno-historie", eine Bereicherung der Forschungszugänge fur das Gebiet. Der Autor unterschätzt al-lerdings die Möglichkeiten traditioneller Methoden bei der Untersuchung besonders der spät-mittelalterlichen Stammesgeschichte.

Die Venezianerherrschaft über weite Teile des hier behandelten Gebietes und die praktisch lückenlose Dokumentation venezianischer Verwaltungstätigkeit (zugänglich in der vom Autor nicht berücksichtigten vielbändigen Publikation Acta Albaniae Veneta, Mailand 1967—79; des P. Giuseppe Valentini) eröffnet den Blick auf zahlreiche Facetten der damaligen Stammesverfas-sung, insbesondere auch auf die vielfaltigen Beziehungen zwischen Stämmen und städtischer Kultur. Außer venezianischen hätte man auch slavische und ragusanische Quellen zu einer um-fassenden Würdigung des Themas heranziehen können.

Leider nennt der Autor die wichtigsten Forschungen in dieser Richtung nicht, wie etwa einige Arbeiten von Ivan Bozic (Nemirno Pomorje X V veka, Belgrad 1979) oder die deutsch-sprachigen Arbeiten des kroatischen Historikers Milan Sufflay, vor allem seine grundlegende Arbeit Städte und Burgen Albaniens, hauptsächlich während des Mittelalters, Wien 1924. Zur Schaffung eines aussagekräftigen Gesamtbildes hätte gerade die Einbindung der Stämme in die territorialen Machtverhältnisse klarer ausgeführt werden können.

Eine der schwierigsten Fragen der albanischen Frühgeschichte ist nach wie vor die Ur-sprungsfrage. Hier zeigt sich der Autor als Anhänger der These von der illyrischen Abstam-mung der Albaner, wenn er sie als „Erbe der längst untergegangenen illyrischen Zivilisation" (14) bezeichnet. In diesem Zusammenhang hätte die Darstellung der Forschungskontroverse den Leser eher befähigt, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Käser nimmt keinen Bezug auf die grundlegenden Forschungen Gottfried Schramms (Eroberer und Eingesessene, Stuttgart 1981) und berücksichtigt zuwenig die von Schramm verwendeten historisch-philologischen Metho-den zugunsten von ethnohistorischen oder anthropologischen Argumenten. Der Versuch des Autors, aus mancher so empfundenen Sackgasse mit neuen Ansätzen herauszufinden, ist ohne Zweifel sehr originell. Er geht dabei nur nach meiner Meinung etwas zu weit in der Vernach-lässigung traditioneller quellenkritischer und linguistischer Methoden.

Die folgenden Teile des Buches entwerfen ein sehr informatives Bild des Schicksals der Stämme in der Neuzeit. Mit Liebe zum Detail fuhrt der Autor den Leser in verschiedene Le-bensbereiche ein: Alltagsleben, Heiratsverhalten, Ahnenkult und Patriarchalität, das Phänomen der „Transhumanz" und anderes. Diese Darstellung fuhrt er bis zur jüngsten Vergangenheit mit dem zwangsläufigen Niedergang der traditionellen Gesellschaften im industriellen Zeitalter. Vor allem in volkskundlicher Hinsicht wird dem Leser, der sich zum ersten Mal mit diesem Be-reich beschäftigt, eine gute Vorstellung von der Vielfalt der Region vermittelt. Als nützlich fiir den Leser erweist sich das Lexikon wichtiger Begriffe am Ende des Bandes, ansprechend ist auch die Gestaltung mit zahlreichen Illustrationen und Karten.

Trotz mancher methodischer Schwierigkeiten empfiehlt sich das Buch als Einstieg und durchaus origineller Ansatz zur Darstellung dieser faszinierenden „Hirten, Kämpfer und Stam-meshelden".

Wien Alexander Karl R ο ζ m a η

O b e r ö s t e r r e i c h e r . Lebensbilder zur Geschichte Oberösterreichs. 8. Red. v. Gerhart Marckhgott u n d Harry Slapnicka. O Ö . Landesarchiv, L inz 1994 . 2 4 4 S .

Drei Jahre nach Erscheinen des Vorbandes konnte das Oberösterreichische Landesarchiv fünfzehn weitere Lebensbilder vorlegen. Wie zu Anfang dieses wissenschaftlichen Projekts geplant, finden sich auch diesmal Vertreter der wichtigsten, das Leben von Gesellschaft und Staat prä-gender Beruftgruppen vertreten: Verwaltung bzw. Politik durch den Bundesminister und

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Rezensionen 495

Staatssekretär Franz Bachinger und den letzten kaiserlichen Statthalter Oberösterreichs, Eras-mus Freiherr von Handel, der Klerus durch den in die USA emigrierten Franziskanerpater Zy-rill Fischer sowie den Volksvereinssekretär und Leiter des Seelsorgeamtes Franz Vieböck, die Geschichtsforschung durch den Archivar und Historiker Georg Grüll, die Naturwissenschafter durch den Biologen Hans Linser, die Wirtschaft durch den Schiffbauer und Politiker Ignaz Mayer, die bildende Kunst durch Alfred Kubin und Hans Plank, die Musik durch Joseph Kron-steiner und Joseph Ramsauer, die Literatur durch Karl Baumgärtel, Norbert Hanrieder sowie Marlen Haushofer, mit der auch - wie ebenfalls angestrebt - die Frauenwelt präsent wird. Letz-tere Biographie stammt auch von der einzigen im Autorenverzeichnis aufscheinenden Frau. Daß man sich in den Erläuterungen zu deren Person der in Plakaten, Flugschriften usw. in letz-ter Zeit üblich gewordenen „Innen" Formulierung bedient, wirkt in einer wissenschaftlichen Publikation allerdings befremdend. Liest man dann in einer Zeile „Lehrerinnenfortbildung", in der nächsten „Erwachsenenbildung" als Aufgabenbereich der Autorin, wird besonders deudich, an welche Grenzen Wortbildungen dieser An stoßen.

Hinsichtlich der chronologischen Zuordnung trifft man hingegen nicht auf eine der be-rufsmäßigen ähnlichen Ausgewogenheit, das Schwergewicht liegt dort eindeutig auf der jüng-sten Vergangenheit. Fand man schon in den vorangegangenen Bänden Mittelalter und frühe Neuzeit, abgesehen von der zweiten Folge mit zwei Artikeln, nur spärlich vertreten, gehören die biographierten Persönlichkeiten des vorliegenden Bandes ausschließlich dem 19. und 20. Jahr-hundert an, von denen zudem ein einziger seine volle Lebenszeit im vorigen Saeculum ver-brachte. Einer lebte bis in das erste, vier bis in das zweite Viertel unseres Jahrhunderts, die rest-lichen neun von insgesamt fünfzehn gewürdigten Persönlichkeiten aber starben in der zweiten Hälfte. Die Sterbejahre liegen zwischen 1876 und 1992. Der Nichtzeitgeschichder hofft, die-sen Umstand nur dem Zufäll, nicht einer Änderung der Grundsatzhaltung der Redaktion zu-schreiben zu dürfen.

Bei der Durchsicht der Autorenliste wird das Bemühen der Herausgeber um die Heranzie-hung ausgewiesener Spezialisten fur die jeweiligen Sparten bzw. Persönlichkeiten neuerlich deutlich, stammen die fünfzehn vorhergehenden Biographien doch von fünfzehn Autoren, un-ter denen man neben schon bewährten Mitarbeitern neun erstmals herangezogene findet. Un-ter diesen scheint als einziger nicht durch Herkunft oder Wirken mit Oberösterreich verbunde-ner der Zeitgeschichtler Herben Wagner auf.

Für die Leser dieser Zeitschrift ist speziell das durch das Institutsmitglied Alois Zauner in dessen bekannt gründlicher Arbeitweise gestaltete Lebensbild Georg Grülls herauszugreifen, welches alle Facetten der außergewöhnlichen Forscherpersönlichkeit dieses Historikers auf-leuchten läßt. Dem Lehrberuf entstammend, doch schon früh mit historischen bzw. genealogi-schen Arbeiten befaßt, kam Grüll — bedingt durch die Zeitumstände — nach dem Zweiten Weltkrieg in den Dienst des oberösterreichischen Landesarchivs, wo er sich zum „Archivar aus Leidenschaft" entwickelte und in dieser Lebensphase zur vollen Entfaltung seiner Anlagen ge-langte. Verzeichnisse der Ehrungen, der wichtigsten Werke mit bibliographischer Erfassung der übrigen sowie der über Grüll erschienenen Literatur komplettieren diesen methodisch muster-gültig gestalteten Artikel.

Wie gewohnt, folgen den biographischen Angaben über die Autoren, ein Verzeichnis über die Herkunft der den einzelnen Artikeln beigegebenen Porträts der Biographierten, Personen-, Orts- und Sachindices sowie ein alphabetisches Gesamtverzeichnis der in dieser Reihe bisher veröffendichten Lebensläufe. Mit dem nächsten, hoffendich im gewohnten zeidichen Abstand zu erwartenden Band wird die in dieser Folge fast erreichte Hunderterzahl an Biographien überschritten werden. Durch diese, innerhalb von rund eineinhalb Jahrzehnten erbrachte Lei-stung machte sich das Oberösterreichische Landesarchiv um die biographische Forschung Österreichs hochverdient.

Wien Friederike H i l l b r a n d - G r i l l

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496 Literaturberichte

Wi l f r i ed B e i m r ö h r , M i t Brief und Siegel. Die Gerichte Tirols und ihr älteres Schriftgut im Tiroler Landesarchiv. (Geschichtsquellen 34. ) Eine Kartenbeilage. Inns-bruck 1994. 344 S.

Die Gerichte waren in der Grafschaft Tirol jahrhundertelang Erstinstanz für Justiz und Verwaltung. Erst durch die Trennung dieser beiden Bereiche im Jahr 1868 wurden die Bezirks-gerichte und -hauptmannschaften geschaffen. Der schriftliche Niederschlag der Tätigkeit der Gerichte stellt eine hervorragende Quelle fiir Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und Landes-geschichte dar, insbesondere die Verfachbücher, nach Jahren geführte Protokollbücher der Ge-richte, in denen von Anfang des 16. Jahrhunderts an alle Arten von Rechtsgeschäften privater Parteien aufgezeichnet wurden, erweisen sich als äußerst ergiebig. Da die Verfachbücher auch Geschäfte über Grund und Boden enthalten und erst um die Jahrhundertwende vom Grund-buch abgelöst wurden, haben sie aber auch immer noch eine aktuelle Bedeutung.

Aus der Aufgabe des Landesarchivs, diese Quellen dem interessierten Publikum zugäng-lich zu machen, ist der zu besprechende Band entstanden, beschrieben werden die Gerichte und Grundherrschaften, ihre Gerichts- und Verfachbücher sowie ihre Akten, soweit sie im Tiroler Landesarchiv vorhanden sind; das Tiroler Landesarchiv enthält, wohlgemerkt, nur die Bestände jener Gerichte, die sich auf dem Gebiet des heutigen österreichischen Bundeslandes Tirol befanden, der Südtirol betreffende Teil liegt im Landesarchiv in Bozen. Die Gerichte, Landgerichte, Grundherrschaften und Urbare werden einzeln in einem knappen historischen Überblick dargestellt, dann folgt die Bestandsbeschreibung, untergliedert nach Zahl der Bände, Zeitraum, aus dem die Verfachbücher erhalten sind, kurzer Charakterisierung der darin enthaltenen Arten von Rechtsgeschäften, soweit vorhanden Archivalien zu administrati-ven Tätigkeiten der Gerichte sowie Archivalien aus demselben Fonds, die aber in anderen Be-ständen des Landesarchivs aufbewahrt werden. Es folgen ein kurzer Überblick über die Ak-tenbestände der diversen Gerichte im Landesarchiv und eine nützliche Konkordanz von Kata-stral- und Ortsgemeinden zu den alten Gerichten. Soweit ein brauchbares Inventar für den Benutzer, übersichdich und handlich, ein Werk, auf das man bei der Arbeit im Archiv gern zurückgreifen wird.

Vorangestellt sind dem allen noch ein Exkurs über das Verfachbuch sowie eine histori-sche Darstellung der Gerichte und ihrer Organisation. Diese letztere mag nun die für ein derartiges Inventar ratsame Kürze haben, und gegen eine knappe Darstellung ist in diesem Zusammenhang auch nichts einzuwenden. Da sich ein derartiger Abriß aber nicht an den Fachmann, sondern an den interessierten Laien wendet, der sich eher mit kurzen Überblik-ken zufrieden gibt, als größere, zeitraubendere Werke zu konsultieren, sollte sich der Histori-ker doch dessen bewußt sein, daß er auch einen didaktischen Auftrag hat. Durch die hier all-zusehr aufs Lokale begrenzte Perspektive entsteht der falsche Eindruck, es handle sich bei der Entwicklung Tirols zu einem Land im Sinne Otto Brunners um eine Sonderentwicklung: Der Hinweis auf Parallelen in der Entwicklung zumindest der unmittelbaren Nachbarländer würde diesem Eindruck ohne weiteres begegnen können. Formulierungen wie S. 32: „( . . . ) nach Meinhards Tod ( . . . ) ging man daran, die verbliebenen territorialen Herrschaftsenklaven adeliger Geschlechter zu beseitigen und die Grenzen im Süden, Westen und Norden abzusi-chern", dürften zwar leicht aus der Feder fließen, verraten aber eine rückwärtsgewandte Per-spektive, die Prozesse aus der Vergangenheit aufgrund späterer Erkenntnisse umzudeuten ver-sucht. Daß es den Meinhardinern und dann den Habsburgern nur mehr selten gelungen ist, größere Gebiete einzustreichen - der Autor präsentiert uns S. 33 eine nette Quadratkilome-terrechnung - , liegt wohl weniger daran, daß sie die späteren „historischen" Landesgrenzen immer schon im Kopf hatten und respektierten, wie solche Formulierungen suggerieren, son-dern eher an ihrem Unvermögen, ihre expansionistischen Gelüste nach Belieben zu verwirk-lichen. Die spätmittelalterlichen Länder sind nach O. Brunner aus der Bereitschaft der Land-

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Rezensionen 497

herren, sich zu einem gemeinsamen Landrecht zu bekennen und ein gemeinsames Gerichts-forum zu besuchen, sowie aus einer Unzahl unterschiedlichster Rechte und Ansprüche des Fürsten entstanden, wobei in Tirol die Rolle des Landesfursten sicher von größerer Bedeu-tung war, als Brunner dies meinte. Diesen nicht gerade einfach darzustellenden Sachverhalt dem Leser mit saloppen Wendungen (31: „Staatsrechdich gesehen war die Gralschaft Tirol ein Bastard.") einprägen zu wollen, wiederholt nicht nur die oben genannten Fehler, sondern ist schlichtweg ein Anachronismus.

Der Benutzer wird sich über das Inventar freuen. Vor der historischen Einführung ist eher zu warnen: Sie ist nicht einfach, sondern simplifizierend.

Wien Urban Β a s s i

Martin B i e r m a n n , Die Leichenreden des Ambrosius von Mailand. Rhetorik, Predigt, Politik. (Hermes. Einzelschriften 70.) Steiner, Stuttgart 1995. 232 S.

Es ist nicht leicht, ein Werk zu verfassen, bei dem sich philologische, theologische und hi-storische Kriterien zu einer Gesamtheit vereinen und als Ergebnis ein mikrohistorischer Aus-schnitt aus der Welt des späten 4. Jahrhunderts im römischen Westreich entsteht. Martin Bier-mann ist das gelungen: ohne mächtigen Anlauf, ohne volltönende Erklärungen, ohne lautes TheoFctisieren; einfach aus der gesunden Nüchternheit des akribisch, aber nicht beckmesse-risch, quellennah, aber nicht horizondos beschränkt arbeitenden Wissenschaftlers heraus.

Biermann setzt sich mit den vier Reden des Bischofs von Mailand primär philologisch auseinander und untersucht zunächst, wieviel an gelehrter Rhetorik zur Anwendung kommt, wenn Ambrosius über seinen älteren Bruder Satyrus (zweimal), über die Kaiser Valenti-nian II. und Theodosius I. spricht: über Menschen, die ihm im Leben nahestanden, denen gegenüber er aber auch zeitweise eine kämpferische Position einnahm. Als nächsten Baustein fugt der Verfasser das chrisdich-biblische Element in seine Untersuchungen ein; wie sehr faßt Ambrosius die Leichenreden als Predigten auf, als Formen christlicher, moralisch-religiöser Unterweisung mit gewissen allgemeinen Zügen und wie sehr stützt er sich dabei auf die Schriftexegese.

Diese sprachlichen Gestaltungsmittel bilden die Struktur der vier Reden. Dazwischen aber bleiben Formulierungen, die aktuelle politische Aussagen enthalten und für die geschichtliche Situation jener Jahre bedeutungsvoll sind. Diese Anspielungen sind fur den heutigen Leser kaum erkennbar und bleiben auch nach dem sprachlichen Erstehen dunkel und verschlüsselt. Hier leistet der Verfasser interpretatorisch überaus Beachdiches! Er kann freilich keine neuen Fakten bieten, und wir wissen nicht, wie Ambrosius zum Usurpator Eugenius und zu dessen mächtigem Heermeister Arbogast im Jahre 392 stand oder ob er 395 die einflußreichen Män-ner des Westens für ein Kaisertum des jungen Honorius gewinnen wollte. Biermann formuliert aus seiner sprachlichen Deutung keine historischen Gewißheiten, aber er vermag auf eine un-gemein schlüssige Art die dichte Atmosphäre des politischen Geschehens jener Zeit im Schlag-licht der Worte des Bischofs zu erhellen. Und das alles gelingt durch textorientierte, aber nicht isolierte Betrachtungen, aus der mehrschichtigen Untersuchung der Worte und Satzteile, der sprachlichen Bilder und Exempla. Erst die dabei gewonnenen Erkenntnisse leiten zu den histo-rischen Gegebenheiten über und zeigen sie in einer bisher ungewohnten Beleuchtung: metho-disch ein Lehrstück gerade fur den Historiker!

Wien G e o r g S c h e i b e l r e i t e r

Herwig W o l f r a m , österreichische Geschichte 378-907 . Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung. Ueberreuter, Wien 1995. 503 S., 4 Stammtafeln, 11 Ubersichtskarten, zahlreiche Abb.

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498 Literaturberichte

Herwig Wolfram leitet mit diesem Band die von ihm herausgegebene neue Österreichische Geschichte ein. Auf zehn Bände konzipiert, begegnet sie ohne Zweifel einem seit langem beste-henden Desideratum. Gegenüber einem Handbuch im herkömmlichen Sinn hat sie den gro-ßen Vorteil, anschaulich und lesbar gestaltet zu sein, ohne auf Wissenschaftlichkeit zu verzich-ten. Damit sollte sie, und das ist zu wünschen, einen größeren Leserkreis finden, der die Bände mit Gewinn zur Hand nehmen wird. Es ist allerdings auch unverkennbar, daß ein Mediävist das Konzept entworfen hat. So stehen für die Zeit von der Spätantike bis ins ausgehende Mit-telalter fünf Bände zur Verfugung, für die folgenden Jahrhunderte dagegen lediglich vier - der 10. Band behandelt übergreifend die Wirtschaftsgeschichte. Auch ist der Zeitabschnitt vom 4. bis zum 13. Jahrhundert mit drei Bänden sehr großzügig ausgestattet. Der Verzicht auf Vor-geschichte und Römerzeit ist gerade im Hinblick auf den Ansatz Wolframs, den Raum und seine Erfassung durch den Menschen darzustellen, bedauerlich.

Wolfram hat das ihm gestellte Thema bereits vor rund zehn Jahren in seinem Buch „Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung 378-907" (1987) umfas-send behandelt. Er kann daher die Gelegenheit zu einer Neubearbeitung nutzen. Einen erheb-lichen Teil der wissenschaftlichen Diskussion nahm auch der 31. Ergänzungsband der Mittei-lungen des Instituts fur österreichische Geschichtsforschung auf.

Die Anlage des Bandes folgt jener des „Mitteleuropa"-Buchs. Wolfram geht von jenen Räumen aus, die später einmal Österreich ausmachen sollten, und beschäftigt sich mit den Völ-kern oder Gruppen, die diese Räume mit Leben erfüllten, die sie gegebenenfalls auch begrenz-ten. Die ersten vier Abschnitte des Buches, denen jeweils eine Darstellung der Quellen voran-gestellt wird, schildern die Entwicklungsabläufe von der „Umgestaltung der römischen Staat-lichkeit" über die „Zeit der Agilolfinger" und die „Karolingerzeit" - geteilt nach dem Land wesdich und ösdich von Traun und Enns. Gegenüber dem Buch von 1987 ist der zeidiche Ab-schluß mit 907, der auch in Rezensionen angesprochen worden war, nunmehr in der Gesamt-konzeption der Reihe als durchaus organisch anzusehen. Der Einstieg mit 378, der Schlacht bei Adrianopel, der im Titel aufscheint, ist freilich mit dem österreichischen Raum nur sehr indi-rekt in Verbindung zu bringen.

Wolfram faßt seine Beobachtungen zu Erscheinungen der Echnogenese in einem eigenen Abschnitt (Völker und frühmittelalterliche Räume) zusammen, der gemeinsam mit dem letz-ten Abschnitt (Lebensordnungen) jene historiographische Botschaft transportiert, deren Ver-breitung und Rezeption - vor allem auch im Schulunterricht — inständig zu hoffen ist. Hier wird klar, soweit das die dürftigen Quellenaussagen - mitunter wäre ein „Darüber-wissen-nur-sehr-wenig" (etwa über die Juden) im Hinblick auf einen breiteren Leserkreis angebracht - und die archäologischen Befunde ermöglichen, wie man sich die Bewohner dieser Regionen und ihre Existenz vorzustellen hat.

Man wird, angesichts der Fülle des Stoffes nicht verwunderlich, nicht immer mit Wolfram oder mit von ihm übernommenen Auffassungen einer Meinung sein. So etwa bezüglich der ka-rolingetzeidichen Entstehung von verschiedenen Orten mit sogenannten echten -ing-Namen im Wiener Raum. Auch war die strata publica selbst bei den Alamannen nicht 24 Fuß breit.

Die Abbildungen sind gut ausgewählt und instruktiv (wenn man von der Urkundenabbil-dung auf Seite 175 vielleicht absieht). Ein Abbildungsverzeichnis, das schon gegenüber dem „Mitteleuropa"-Buch von Rezensenten moniert wurde, fehlt leider auch diesmal. Stammtafeln und Karten sind für den Leser eine wichtige Hilfe, allein die Übersichtstafel über das Werden des bayerischen Ostlandes wirkt eher verwirrend.

Der umfangreiche Anhang bringt nicht nur die Anmerkungen, das Quellen- und Litera-turverzeichnis sowie das Register, sondern auch eine Zeittafel und ein Glossar. Es ist zu hoffen, daß die gesamte Reihe in ihrer Qualität dem „Pilotband" entspricht.

Wien Peter C s e η d e s

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Rezensionen 499

Ferdinand O p l l , Nachrichten aus dem mittelalterlichen Wien. Zeitgenossen be-richten. Böhlau, Wien 1995. 291 S „ 43 Abb.

Rund hundert Jahre bedurfte die Forschung, um der Urkundensammlung in den „Quellen zur Geschichte der Stadt Wien" ein Pendant an die Seite stellen zu können, das die historiogra-phischen Quellen erfaßt. Die Gründe hierfür liegen wohl weniger in methodischen Schwierig-keiten als in dem Verdikt, das die positivistische Forschung lange über die offenkundig „tendenziöse" Berichterstattung dieser Quellen aussprach. Oplls Zusammenstellung ist nun der Versuch einer angemessenen Würdigung der mittelalterlichen Historiographie für die Wiener Stadtgeschichte, wobei gerade dem „Makel" der zeitspezifischen Sichtweise ein besonderer mentalitätsgeschichdicher Wert zugesprochen wird. In seiner Einleitung betont der Bearbeiter, daß es ihm um die Überwindung einer einseitig ereignisgeschichdichen Auswertung der histo-riographischen Quellen geht, indem er auf die verschiedenen Aussagen etwa zur Sozial- und Alltagsgeschichte in den Texten hinweist. Vor allem diesen Forschungsbereichen wird das aus-fuhrliche Sachregister des Bandes von besonderem Nutzen sein. Dieses Verzeichnis übernimmt vereinzelt auch die Funktion eines Glossars, in dem man Fremd- oder Fachwörter wie „Ana-them" oder „Brät" erklärt findet. Dem breiten Spektrum des derzeitigen historischen For-schungsinteresses versucht Opll vor allem dadurch entgegenzukommen, daß er in seine Samm-lung vereinzelt auch erzählende Quellen aufnimmt, die nicht in den engeren Bereich der Histo-riographie gehören, etwa das Schwanklied der Wiener Meerfahrt, den berühmten Brief des Aeneas Silvius von 1438 oder die Reisebeschreibung des kastilischen Edelmannes Pero Tafur. Eine derartige Textstreuung kommt nicht nur der Forschung entgegen, sondern auch dem interessierten Laien, an den sich dieses Buch ebenso wendet.

Die Aufbereitung der einzelnen Quellen wurzelt im beruflichen Werdegang Oplls, der lange Zeit an den „Regesta Imperii" sowie an den „Regesten zur Frühgeschichte von Wien" ar-beitete. Bei der vorliegenden Zusammenstellung handelt es sich nicht, wie der Titel des Buches nahelegen könnte, um eine Quellensammlung, sondern um eine Wiedergabe der einzelnen historiographischen Nachrichten in Regestenform. Dabei wurden nicht weniger als 207 Jcurz-gefaßte Inhaltsangaben" fur die Zeit von 881 bis 1499 chronologisch aneinandergereiht sowie mit Angaben zu Überlieferung und weiterführender Literatur versehen. Diese Darstellungs-weise in Regesten, die eine Präsentation derartiger Materialfiille erst ermöglichte, bedingt die weitgehende Reduktion der einzelnen Stellen auf ihre Faktizität. Die Autoren kommen somit nicht direkt zu Won, sondern in der Verarbeitung zu kleineren Leseeinheiten. Für die frühesten Notizen der Sammlung muß man auf das Regestenwerk zur Wiener Frühgeschichte (1981) von Opll und Lohrmann zurückgreifen, um die zugrundeliegenden Quellen feststellen zu können. Durch die Orientierung an der Einzelnachricht zu einem bestimmten Ereignis können hinter einem Regest nämlich oft mehrere Quellen stehen, während nur gravierende inhaldiche Varianten im Text in Klammer gekennzeichnet werden. Dieses Vorgehen bedeutet bei aller Ver-kürzung eine wissenschaftliche Hilfeleistung, indem der Leser die verschiedenen Parallelstellen zwar nicht synoptisch, doch kritisch zusammengestellt findet, wie es in der Forschung bisher nur für Einzelereignisse, etwa die Unruhen unter Wolfgang Holzer, geschah. Besondere Beach-tung widmet der Bearbeiter ζ. B. dem Tagebuch des Wiener Arztes Johannes Tichtl, dessen kulturgeschichdich interessante Notizen hier vielfach erstmals einem größeren Leserkreis mitgeteilt werden. Gegenüber der grundlegenden Gesamtausgabe dieses Werkes von Th. v. Ka-rajan (1855) bietet Opll wichtige Quellenbelege, die den Text in einen größeren Überliefe-rungszusammenhang stellen, sowie zahlreiche Hinweise zu Fakten und Lokalitäten, die gemäß dem heutigen Forschungsstand identifiziert werden. Oplls Nachrichtensammlung erleichtert so dem Forscher die Arbeit mit diesem raren Text, indem sie einen wesendichen Beitrag zur Kom-mentierung leistet. Lange ausstehende Neuausgaben einzelner Werke werden in vielen Fällen dankbar auf diese Erläuterungen zurückgreifen können. Dabei geht der wissenschaftliche

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500 Literaturberichte

Beitrag des Bandes weit über die Wiener Lokalgeschichtsforschung hinaus, da Opll nicht nur österreichische, sondern auch mehrere süddeutsche Quellen heranzieht, etwa Veit Arnpeck, Diebold Schilling d. J. oder die „Ellenhardsche Chronik".

Der Zugang zu den Texten wird durch zahlreiche zum Teil farbige Abbildungen erleichtert, die durch Seitenverweis einen integrierten Bestandteil der Darstellung bilden. Dieser großzügig gestaltete Bildteil berücksichtigt einzelne Siegel und Handschriftenproben, weiters Abbildun-gen zur Sozial- und Alltagsgeschichte etwa aus den Chroniken Diebold Schillings d. Ä., vor al-lem aber gut erläuterte Detailaufnahmen aus der mittelalterlichen Wien-Illustration wie dem Babenberger-Scammbaum oder den Altarwerken des Schottenmeisters. Oplls Sammlung kann bereits jetzt als ein Standardwerk der Stadtgeschichtsforschung bezeichnet werden, das ebenso wie die erwähnte ältere Urkundenzusammenstellung eine unentbehrliche wissenschaftliche In-formationsquelle darstellt. Daß es der Bearbeiter vermochte, aus der Regestensammlung gleich-zeitig ein ansprechendes Lesebuch zum Wiener Mittelalter zu machen, ist als ein seltenes Ver-dienst besonders zu würdigen.

Wien Harald Terseh

Harald T e r s c h , Unruhe im Weltbild. Darstellung und Deutung des zeitgenössi-schen Lebens in deutschsprachigen Weltchroniken des Mittelalters. Böhlau, Wien 1996. 406 S„ Abb., 8 Farbtafeln.

Die Untersuchung von Harald Tersch ist die überarbeitete Passung einer Dissertation, die der Autor unter der Leitung von Georg Scheibelreiter (Wien) ausgearbeitet und 1991 einge-reicht hat. Sie befaßt sich mit deutschsprachigen Chroniken aus dem hohen und späten Mittel-alter und geht insbesondere der Frage nach, ob und in welcher Gestalt die geschichtstheologi-schen, heilsgeschichtlichen Deutungsmuster und Sinnkonzepte der „gelehrten" lateinischen Historiographie (von Orosius und Augustin bis hin zu Otto von Freising) in den volkssprach-lichen Chroniken beachtet worden sind. Untersucht werden dabei vor allem die Darstellungen der eigenen Zeit, weil sich in diesen Partien die Überlagerungen und Kontraste zwischen den Eigenheiten der herrschenden Mentalitäten und den Merkmalen der überlieferten, ideologisch verfestigten Geschichtsbilder besonders deutlich herausarbeiten lassen. Die volkssprachlichen Weltchroniken werden somit gleichsam zu Schnittstellen zwischen der schriftlichen Tradition literarisch-theologischer Orientierungsmuster und den mündlich überlieferten Ausdruckswei-sen und Sinnangeboten, weil sie „das Geschichtsbild ihres Umfeldes mit den daraus resultieren-den Perspektiven in Anordnung und Auswahl des Stoffes als Ausdruck eines Weltbildes der je-weiligen Rezeptionsgemeinschaft" (16) erkennen lassen. Selbstverständlich ließen sich diese Fragen auch aufgrund anderer Chroniktypen (ζ. B. der unzähligen Städtechroniken des Spät-mittelalters) angehen; angesichts des vorgegebenen Rahmens erweist sich allerdings die Be-schränkung auf rund ein Dutzend volkssprachlicher Weltchroniken, die alle im Druck vorlie-gen, als sehr sinnvoll.

In einem ersten Teil (19—46) stellt der Autor die von ihm vornehmlich untersuchten Chro-niken vor und referiert den derzeitigen Forschungsstand zu den Autoren, der Entstehung, dem Publikum und der Rezeption der einzelnen Werke. Es handelt sich dabei um die sog. „Kaiser-chronik" (um 1150), die „Sächsische Weltchronik" (1230/60), die Weltchronik des Jan Enikel (1280/90), die Reimchronik Ottokars (1300/20), die Oberrheinische Chronik (1. H. 14. Jh.), die Chronik Fritsche Closeners (1350/60), die Konstanzer Weltchronik (E. 14. Jh.), die Chro-niken Detmars (2. H. 14. Jh.), Jakob Twinger von Königshofens (um 1400) und Johannes Ro-thes (nach 1400), die Weihenstephaner Chronik (nach 1433) und die Chroniken von Johann Statwech (1420/40). In den folgenden Kapiteln werden diese Quellen im Hinblick auf überge-ordnete Themenfelder untersucht; gefragt wird etwa nach der Einordnung der Zeitgeschichte

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Rezensionen 501

und der Rezeption traditioneller Deutungsmuster (47-61), nach dem Bild der Kirche (119— 156), nach den Eigenheiten der Personendarstellung (157-176) oder nach der Wiedergabe und Stilisierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (177-241).

Diese Einzeluntersuchungen zeigen zwar mit aller Deudichkeit, daß in den volkssprachli-chen Chroniken die tradierten heilsgeschichdichen Sinnkonzepte und die mentalitätsmäßig ge-prägten Deutungsansätze in einem mehr oder weniger ausgeprägten Spannungsverhältnis zu-einander stehen, dieser Befund aber angesichts der großen Unterschiede kaum verallgemeinert werden kann. Offensichdich belegen die untersuchten Werke einen intensiven Umformungs-prozeß der Weltchronik durch die höfische Kultur und vor allem durch städtische Denk- oder Lebensformen. Das Interesse der aufstrebenden Laienschicht an Geschichte schlägt sich nicht nur im erklärenden, konkretisierenden Stil der Werke, sondern auch in der didaktischen Auf-bereitung der Stoffiille nieder. Die historischen Inhalte werden an gewandelten Idealen gemes-sen; so trägt beispielsweise der vorbildliche Herrscher nicht mehr nur die Züge des rex christia-nus, sondern auch solche des sorgsamen Hausvaters, und in der Gesellschaft insgesamt interes-sieren zunehmend Formen und Möglichkeiten sozialer Mobilität. Bemerkenswert ist insbeson-dere, daß bei der Darstellung der eigenen Zeit heilsgeschichtliche Deutungsmuster zunehmend in den Hintergrund treten und neue Elemente, etwa die Astrologie, das Glücksrad oder Frau Welt, wichtig werden.

Harald Tersch hat mit seiner Arbeit über die deutschsprachigen Weltchroniken des hohen und späten Mittelalters eine durch sorgfaltigen Umgang mit den Quellen, gründliche Kenntnis der einschlägigen Forschung und kluge methodische Ansätze gekennzeichnete Untersuchung vorgelegt, die nicht nur wesentliche neue Interpretationsansätze erprobt und einlöst, sondern die Quellengruppe insgesamt in einem doch etwas anderen Licht erscheinen läßt, weil sie nicht einfach als späte „Ableger einer überkommenen historiographischen Gattung" verstanden wer-den, sondern „als ein Grundbestandteil der mittelalterlichen Laienkultur, der seinen gesell-schaftlichen Auftrag bis in die Zeit des Humanismus hinein aufrechterhalten" hat (309). Es ist sehr zu hoffen, daß diese Flagestellungen mit den unumgänglichen zeitlichen und räumlichen Einschränkungen auch angesichts anderer Chroniktypen (etwa der spätmittelalterlichen Klo-ster- oder Stadtchroniken) aufgegriffen werden.

Bern Urs Ζ a h η d

Karl-Heinz Sp ieß , Familie und Verwandtschaft im deutschen Adel des Spätmittel-alters, 13. bis Anfang 16. Jahrhunderts. (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschafts-geschichte. Beihefte 111.) Steiner, Stuttgart 1993. 627 S.

Nachdem sich die genealogischen-topographischen Forschungen vor allem mit dem städ-tischen Bereich befaßten, ist dieses Buch nun das erste seit Jahrzehnten, das sich mit den hoch-adeligen Familien im späten Mittelalter beschäftigt. Abschreckend fiir diese Art von Forschung war natürlich die große Vielzahl und Zerstreutheit des Quellenmaterials, das umfängreiche ar-chivalische Studien notwendig macht. Umso verdienstvoller ist es, daß sich Karl-Heinz Spieß dieses Themas angenommen und in kompetenter Weise gewidmet hat. Aus arbeitsökono-mischen Gründen wählte er 15 Familien des Grafen- und Herrenstands fiir seine Untersuchung aus, die in Franken, Hessen, an Mittel- und Oberrhein beheimatet waren, wie ζ. B. Eppstein, Hohenlohe, Nassau, Katzenelnbogen oder Leiningen.

Spieß ging von einer zentralen Frage des Adels aus, nämlich, wie den Familienbesitz mög-lichst ungeschmälert einem Stammhalter weitervererben zu können; auf der einen Seite konnte die Beschränkung der Kinderzahl bei unglücklichen Umständen das Aussterben des Ge-schlechts bedeuten, andererseits bedingte eine große Kinderzahl die Zersplitterung des Vermö-gens. Zu den Strategien, die das Familienoberhaupt anwenden konnte, um zwischen diesen Ex-

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tremen einen sicheren Mittelweg zu finden, waren: selbst nur möglichst eine Frau mit hoher Mitgift zu heiraten, die rigorose Beschränkung der Heiratserlaubnis seiner Kinder, etwa nur für seinen präsumptiven Nachfolger, und die Abschichtung der übrigen in eine kirchliche Lauf-bahn bzw. ins Kloster.

Um dieses Thema adäquat behandeln zu können, müssen eine Vielzahl von Einzelaspekten geklärt werden. Spieß setzt sich zuerst mit allen die Heirat betreffenden Fragen auseinander, wie Heiratsstrategien und -absprachen, Mitgift und Widerlager der Braut sowie Absicherung der Witwe, Heiratsalter und Familiengröße, um danach das Erbrecht und die verschiedenen Mög-lichkeiten für den Adel, Kinder standesgemäß zu versorgen, zu diskutieren; auch der Unterhalt unehelicher Kinder findet dabei Berücksichtigung. Er stellt dabei fest, daß die bisher traditio-nelle Lehrmeinung, viele verheiratete Söhne und damit verbunden viele Teilungen des Besitzes hätten zu einer Schwächung der Macht geführt und letztendlich das Aussterben oder Absinken eines Geschlechts bedingt, nicht so pauschal zu sehen ist, denn oft konnte durch viele Nach-kommen das Geschlecht erst erhalten bleiben und die zuerst geteilten Länder nach einigen Jahrzehnten wieder unter einem - vielleicht dann mächtigeren - Hauptstamm vereinigt wer-den.

Abgesehen von der Möglichkeit, überzählige Söhne zu versorgen, erwuchs den hochadeli-gen Familien ein nicht unbeträchtliches politisches Potential aus ihren Besetzungsansprüchen in den Domkapiteln, vor allem wenn sie, wie in Köln oder Straßburg, ein Pfründenmonopol aufbauen konnten. Obwohl sich aus der Quellenlage die Einkommenssituation einer Familie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt feststellen läßt, konnte Spieß nachweisen, daß die Ver-sorgung aller Familienmitglieder eine sehr starke Belastung für das Budget darstellte und das Einkommen oft nicht dazu ausreichte.

Eine weitere Frage schneidet der Autor mit Überlegungen zum Rollenverhalten und den emotionalen und sonstigen Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder bzw. Verwandt-schaftsgruppen untereinander an. Interessant ist, daß Hilfe und Unterstützung vor allem inner-halb der horizontalen Verwandtschaftsgrade, also auch unter Einbeziehung gerade der Heirats-verwandtschaft, ohne Vorzug der Blutsverwandtschaft geleistet wurde. Insgesamt enthält dieses Buch umfängreiche Aussagen zum täglichen Leben und zum Lebensgefühl des spätmittelalter-lichen deutschen Adels, die durch ein genaues Quellenstudium und Klärung methodischer Fra-gen gewonnen wurden. Es ist nicht möglich, in einer kurzen Rezension auf alle in diesem Buch behandelten Aspekte einzugehen, doch ist es sicher auch in ihrer regionalen Ausrichtung von überregionaler Bedeutung.

Wien Michaela L a i c h m a n n

Markus Β i 11 m a η η, Kreditwirtschaft und Finanzierungsmethoden. Studien zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Adels im westlichen Bodenseeraum 1300—1500. (Vierteljahrschrift für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 99 . ) Steiner, Stuttgart 1 9 9 1 . 3 0 3 S .

Es ist nicht mehr möglich, sich effektvoll gegen das Klischee vom verarmenden, den Neue-rungen der Zeit hilflos gegenüberstehenden Adel des späten Mittelalters abzugrenzen, zu sehr und zu gründlich wurde dieses Bild bereits revidiert oder wenigstens differenziert. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat die - im weitesten Sinn - „schwäbische" Forschung wesentli-chen Anteil daran, wofür, ohne Präjudiz fur viele andere, etwa der Pionier Roger Sablonier und Rolf Köhn, der Betreuer der hier anzuzeigenden Dissertation, zu nennen sind. Diese erweitert und präzisiert die Kenntnis des adeligen Wirtschaftens, seiner Methoden und Hintergründe.

Bittmann, der den Inhalt seiner Arbeit im Titel mit hinlänglicher Klarheit angibt, wählte vierzehn im Untersuchungsgebiet über längere Zeit hinweg faßbare Adelsfamilien aus, unter

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denen die Bodman, Hewen, Klingenberg und Lupfen markant hervortreten. Ständisch-rechdi-che Einteilungen verschwimmen vor der politischen und wirtschaftlichen Realität. Die prägen-den Faktoren sind in der Politik die wechselhaften Beziehungen zu Habsburg-Österreich und, in der Folge der Achtung Herzog Friedrichs (IV.), zu König Sigismund; im Wirtschaftlichen die Notwendigkeit, über die grundherrschaftlichen hinaus weitere Einkommensquellen zu nutzen. Die Ergebnisse: Bot zunächst die Kooperation mit Österreich gute Chancen auf Gewinn und Behauptung, ermöglichte dann der Schwenk zum König den Zugriff auf die von diesem liberal verteilten habsburgischen Gerechtsame. Albrecht VI. und sein kaiserlicher Bruder Fried-rich III. hingegen konnten sich, nicht zuletzt angesichts der Bedrohung durch die aggressiven Eidgenossen, wieder ein stärker herrschaftliches Auftreten gegenüber dem lokalen Adel leisten. Vor diesem Hintergrund sind dessen Ziele und Möglichkeiten zu verstehen.

Einleitend werden Überblicke über den schriftlichen Niederschlag adeliger Wirtschaftsver-waltung und über das sonst selten so konkret thematisierte Währungssystem geboten, womit die Quellenproblematik zu ihrem Recht kommt. Dienst, Sold - mit tabellarischer Zusammen-stellung für den behandelten Personenkreis - , Krieg und Fehde erscheinen nicht als Unterwer-fung unter Fürstenmacht bzw. Raubrittertum, sondern als Macht- und Behauptungsstrategien mit wechselndem Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Ebensowenig sind Kreditaufnahmen ein zwingendes Indiz fur wirtschaftliche Nodagen. Sie fügen sich in die erstaunliche Vielfalt geschäftlicher Praktiken, die dem spätmittelalterli-chen Adel und seinen Gegnern und Partnern — Fürsten, geisdichen Institutionen, Städtern, Standesgenossen - zur Verfugung standen und die möglichst im jeweiligen Handlungsumfeld zu beurteilen sind. Nicht selten haben solche Transaktionen zutiefst politischen Charakter. Uber Recht und Anwendung von Pfand, Rente und Darlehen, über das Urkundenformular, die Sicherungen, die Nutzungsformen und Herrschaftsrechte über die sehr unterschiedlichen Ob-jekte, über die Entwicklungen im 14. und 15. Jahrhundert gibt Bittmann allgemein und an-hand vielfaltiger Beispiele Auskunft. Heirats- und Erbabreden, Güterteilungen und die Siche-rung mittels Leibrenten gehören darüber hinaus zu den gängigen Strategien. Vergleichsweise wenig bedeutend scheinen Kreditnahmen bei Juden gewesen zu sein.

Das gut gegliederte Buch zeichnet somit die politisch-wirtschaftlichen Karrieren einiger re-gionaler Adelsfamilien nach, deren Schicksale und Aktionen damit verständlicher werden, und liefert andererseits einen Katalog von Chancen und Risken adeliger Geschäftstätigkeit. Je nach individuellem Ergebnis können sich die Vorgänge zum Bild von der Krise des Adels im Spät-mittelalter fügen oder zu dessen Zurückweisung beitragen - die Notwendigkeit, nicht alles beim Alten zu lassen und die Möglichkeit, davon zu profitieren, gab es jedenfalls. Mag auch die Basis letzdich etwas schmal scheinen und nicht jeder zugehörige Aspekt angesprochen sein - so weist etwa der Autor selber darauf hin, die Bedeutung kirchlicher Positionen fur die Familien höchstens am Rande einbezogen zu haben - , so liefert die kompakte Arbeit doch so weitge-hende Einsichten in das komplizierte Gebiet der Wirtschaftspraxis, daß niemand an ihr vorbei-gehen sollte, der über spätmittelalterliche Adelsgeschichte arbeiten will.

Wien Herwig We i g 1

Markus S t e ρ ρ a η, Das bäuerliche Recht an der Liegenschaft. Vom Ende des 14. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. (Grazer Rechts- und Staatswissenschaftliche Stu-dien. 53.) Graz 1995. 144 S.

Die vorliegende Arbeit - die Druckfassung einer rechtshistorischen Dissertation an der Universität Graz - behandelt vornehmlich die rechdichen Ausformungen des agrarischen Grundverkehrs in Österreich unter der Enns, Steiermark und Kärnten fur die Zeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Der Autor stützt sich dabei hauptsächlich auf drei Quellengruppen:

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504 Literaturberichte

einerseits auf die Fülle ländlicher Weistümer, deren Herausgabe die österreichische Akademie der Wissenschaften seit nun schon über 100 Jahren dankenswerterweise betreibt, andererseits auf die unterderennsischen Landesordnungsentwürfe (Institutum Ferdinandi 1528, Entwurf Püdler 1573, Entwurf Strein - Linsmayer 1595, Kompilation der vier Doktoren 1654), die in der um 1900 lithographisch vervielfältigten „Sammlung Chorinsky" zur Verfügung stehen, so-wie des durch landesfiirstliche Sanktion in Österreich unter der Enns Gesetz gewordenen Teils der Kompilation, des „Tractatus de juribus incorporalibus" von 1679, schließlich auf die Hauptwerke österreichischer Vertreter des usus modernus, etwa Bernhard Walthers Traktate, die „Consuetudines Austriacae" Johann Baptist Suttingers sowie die „Idea juris statutarii et con-suetudinarii Stiriaci et Austriaci cum jure Romano collati" Nikolaus Beckmanns. Leider blieb wohl aus arbeitsökonomischen Gründen Österreich ob der Enns ausgespart, das die jüngsten und am besten bearbeiteten Quelleneditionen (Weistümer, Oö. Landtafel) aufweist.

Steppan erläutert anfangs das im heimischen Liegenschaftsrecht herrschende Publizitäts-prinzip am Beispiel des sich vor allem in den Weistümern als vielschichtig erweisenden Wein-oder Leitkaufs. Bei Abschluß des Kaufvertrags wurde des öfteren ein bestimmter Geldbetrag vom Käufer bei der Obrigkeit hinterlegt. Bei Nichteinhaltung des Vertrags durch den Käufer wurde diese Summe als verfallen angesehen. Neben dieser Angeldfunktion weist Steppan auch noch auf die sogenannte „Gedächtnisfunktion" des Leitkaufs hin. Die Erinnerung der „Zeu-gen" des zumeist in den grundherrschaftlichen Schenken stattfindenden Vertragsschlusses ver-suchte man durch Aussetzung einer Summe Geldes zum gemeinschaftlichen Vertrinken zu stär-ken. Da die Grundherren dadurch direkt und indirekt beim Leitkauf wirtschaftlich partizipier-ten, spricht Steppan auch von der diesem Rechtsinstitut innewohnenden „Abgabenfunktion". In einem Exkurs weist der Autor auf diesbezügliche Regelungen in den Polizeiordnungen hin, bringt aber bloß Beispiele aus außerösterreichischen Territorien. Hier fehlt der Hinweis, daß in den österreichischen Polizeiordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts solche Bestimmungen nicht zu finden sind.

Nach einer Einführung in die unterschiedlichen Eigentums- und Besitzformen des ländli-chen Bereichs anhand der angezeigten Landesordnungsentwürfe und wissenschaftlichen Litera-tur folgt eine ausgiebige Darstellung der unterschiedlich ausgeformten Melde- und Zustim-mungspflichten, wie sie hauptsächlich in den Weistümern geregelt waren. Dabei zeigte sich eine ungeheure Vielfalt an alternativen und kumulativen Zuständigkeiten diverser Amtsträger der Grundherrschaften und Gemeinden (Richter, Geschworene, Vierer, Amtmänner, Bergmei-ster, Verwalter, Pfarrer, Hofmeister, Pfleger usw.) sowohl fur den Fall des Vertragsabschlusses direkt vor der Obrigkeit wie auch der gleichzeitigen bzw. nachträglichen Genehmigung durch diese. Anhand des ausgebreiteten Materials wird die große Bedeutung der Nachbarschaft bei Liegenschaftsübertragungen besonders deutlich. Auch sie hatten in der Mehrzahl der Fälle ganz ausgeprägte Zustimmungsrechte. Ohne die Akzeptanz durch die Nachbarn und ohne die mög-lichst störungsfreie Eingliederung des neuen Liegenschaftseigners in das Sozialgefuge der grundherrschaftlichen Dörfer und Märkte war eben ein gedeihliches Neben- und Miteinander, ein Zusammenleben in der Gemeinschaft schwer zu erreichen.

Höchst interssant erweisen sich die abschließenden Ausführungen zum Grundbuchswesen. Sie bringen eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Zwecken und Funktionen des Grundbuchs als grundherrschaftlichem Rechtsgeschäftsbuch, welches sich seit dem 16. Jahr-hundert wohl fast durchgehend durchgesetzt hatte. Es diente hauptsächlich der Evidenzhaltung von Besitzverhältnissen und darauf lastenden Pfandrechten sowie von Abgabenpflichten und Leistungen an die Grundherrschaft. Obwohl die Verbücherung im Gegensatz zum heutigen Grundbuch keine konstitutive, also rechtsbegründende Wirkung hatte, sondern bloß deklara-tiven Charakter hinsichtlich des Rechtsvorgangs aufwies, trug es dennoch zur Wahrung der Rechtssicherheit bei. Darüber hinaus verfolgte die Obrigkeit durch ihre zunehmend eng-maschigere Kontrolle des Liegenschaftsverkehrs durchaus fiskalische Interessen. Durch die

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Rezensionen 505

chronologisch aneinandergereihten Auswertungen der diesbezüglichen Bestimmungen der Landesordnungsentwürfe, des Tractatus de juribus incorporalibus sowie der wissenschaftlichen Privatarbeiten werden die zwischen diesen bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse und gesetzgebungsgeschichtlichen Zusammenhänge sauber herausgearbeitet. Die Bestimmungen der Weistümer selbst gehen noch weit über die gerade genannten Quellen hinaus und machen erneut deutlich, daß eine isolierte Betrachtung allein einer Normenebene oder bloß der wissen-schaftlichen Literatur der Rechtswirklichkeit nicht gerecht werden kann. Eine vollständige Er-fassung der diesbezüglichen Praxis - etwa unter Einbeziehung archivalischer Quellen - konnte diese Arbeit jedoch nicht leisten und war von ihr auch nicht intendiert. Der Landeskunde ist damit noch manches Betätigungsfeld eröffnet. Mit Steppans Darstellung liegt nun jedenfalls ein ausfuhrlicher und gelungener Wegweiser durch die Gegebenheiten und Entwicklungs-tendenzen des Rechts der Liegenschaftsverkehrskontrolle und des Grundbuchs im Bereich der heimischen Grundherrschaften vor.

Wien JosefPauser

Das P u b l i k u m politischer Theorie im 14. Jahrhundert. Herausg. v. Jürgen M i e t h k e unter Mitarbeit v. Arnold B ü h l e r . (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. 21.) Oldenbourg, München 1992. VIII, 301 S.

Die Themenstellung dieses Tagungsbandes wirft die Frage auf, was unter „Publikum" einer- und „politischer Theorie" andererseits zu verstehen sei, und die Lösungsversuche der Autorinnen und Autoren, die in ihren Beiträgen aus dem Vollen eigener Forschungen schöp-fen können, sind durchaus unterschiedlich. Deudich wird jedenfalls, daß Diskussionen in fast allen Wissenschaftsbereichen Relevanz als oder für die „politische Theorie" gewinnen konnten, daß sie zur Legitimation politischer Praxis, aber auch als Programm (Fürstenspiegei, Reform-schriften) entstand und daß der Auseinandersetzung mit der zugänglich gewordenen „Polirica" des Aristoteles zentrale Bedeutung zukam. Die Rezipienten sind vorwiegend im universitären und/oder höfischen Milieu zu finden. Da ihre eigene literarische Produktion und ihr Bücher-besitz die Quellengrundlage bilden, gibt es nur wenige Hinweise auf anderes „Publikum". Am ehesten ist das in den Beiträgen von Walsh und Smahel der Fall. Wenn sie damit den durch den Titel vielleicht geweckten Erwartungen am nächsten kommen, ist das eher ihrem Gegenstand zugute zu halten als den anderen Beitragenden vorzuwerfen.

Die Fragen und Probleme umreißt mit weiterfuhrenden Hinweisen Jürgen M i e t h k e , Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert. Zur Einfuhrung (1—23). Zwei Fälle von später Wirkung schildern anhand der Handschriften-Verbreitung Max Kerner , Johannes von Salisbury im späteren Mittelalter (25—47) - zum „Policraticus" — und Kurt-Victor Se i g e , Die Überlieferung der Werke Joachims von Fiore im 14./15. Jahrhundert (49-59). Constantin Fa-so l t , Die Rezeption der Traktate des Wilhelm Durant d. J. im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (61-80), bezweifelt die Absicht seines Autors, mit der „Gelegenheitsschrift zur Kirchenreform" zur „politischen Theorie" beizutragen, obwohl sie grundlegende Aussagen zum Rechts- und Ordnungssystem enthält. Auch hier folgt die Wirkung in späteren Jahrhunderten. Kenneth P e n n i n g t o n , Henry VII and Robert of Naples (81-92), geht vor allem auf die vom Papst eingeholten Consilia des Oldradus de Ponte in der Sache ein, was man mitderweile aus-führlicher im 5. Kapitel seines Buches The Prince and the Law 1200-1600 (Berkeley/Los An-geles 1993) nachlesen kann. Diego Q u a g l i o n i , Das Publikum der Legisten im 14. Jahrhun-dert. Die „Leser" des Bartolus von Sassoferrato (93-110), untersucht die Verbreitung und Ver-wendung von Texten und Handschriften nördlich und südlich der Alpen.

Helmut G. W a l t h e r , „Verbis Aristotelis non utar, quia ea iuristae non saperent". Legisti-sche und aristotelische Herrschaftstheorie bei Bartolus und Baldus (111—126), stellt die Aristo-

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506 Literaturberichte

teles-Rezeption in das Spannungsverhältnis zwischen den Wissenschaftssprachen und konsta-tiert den Mißerfolg der großen Legisten, den Juristen der italienischen Kommunen als ihrem „Publikum" staatstheoretische Argumentationshilfen gegen die Signorie zu vermitteln. Chri-stoph F1 ü e I e r, Die Rezeption der „Politics" des Aristoteles an der Pariser Artistenfakultät im 13. und 14. Jahrhundert (127-138), untersucht die Kommentierungen der Schrift, über die sie in Paris und an anderen Universitäten in der Lehre vermittelt wurde. Auch Bernd M i c h a e l , Buridans moralphilosophische Schriften, ihre Leser und Benutzer im späten Mittelalter (139-151), faßt, mit Ergänzungen und Korrekturen zu seinem 1985 erschienenen Buch, die hand-schriftliche Verbreitung von Buridans Werken und ihre Position in der universitären Lehre zu-sammen. Auf die Produkte der gelehrten Autoren als Rezipienten und die Bedeutung für ein staatsrechdiches Bewußtsein konzentriert sich Tilman S t r u ν e, Die Bedeutung der aristoteli-schen „Politik" fiir die natürliche Begründung der staadichen Gemeinschaft (153-171). Janet C o l e m a n , The Intellectual Milieu of John of Paris OP (173-206), ordnet dessen Traktat „De potestate regia et papali" in die Konflikte der Colonna-Kardinäle mit Bonifaz VIII. und die Grundsatzdiskussionen zwischen den Bettelorden ein, beseitigt also den französischen König als „Publikum". Ebenfalls einem einzelnen Autor und seinem Zugang zur „Politica" widmet sich Roberto L a m b e r t i n i , Wilhelm von Ockham als Leser der „Politica". Zur Rezeption der politischen Theorie des Aristoteles in der Ekklesiologie Ockhams (207-224), während Jacques Κ r y η e n, Aristotilisme et r^forme de l'Etat, en France, au XlVe sifecle (225-236), die Versuche Nikolaus Oresmes und Philippes de Mfeifcres Schilden, den Regierenden in den Krisen der französischen Monarchie während des hundertjährigen Krieges fundierte Ratschläge und War-nungen zukommen zu lassen, womit auch hier Adressaten namhaft zu machen sind.

Katherine W a 1 s h, Die Rezeption der Schriften des Richard FitzRalph (Armachanus) im lollardisch-hussitischen Milieu (237-253) zeigt, sozusagen umgekehrt, die selektive Aneignung der Traktate und Predigten des irischen Erzbischofs durch das „Publikum" und die Auswirkun-gen dessen in England und Böhmen. Mit den Fragen und Problemen der Vermittlung politi-scher Theorie als Handlungsgrundlage an breitere Bevölkerungskreise befaßt sich Frantisek S m a h e l , Reformatio und Receptio. Publikum, Massenmedien und Kommunikationshinder-nisse zu Beginn der hussitischen Reformbewegung (255-268). Jean-Philippe G e η e t, La theo-rie politique en Angleterre au XTVe siäcle: sa diffusion, son public (269-291), schlüsselt in mehreren kommentierten Tabellen unter Berücksichtigung von Zeitstufen, Themen und Text-Genera, sozialer bzw. Ordenszugehörigkeit der Autoren und von Handschriftenzahlen die er-haltenen oder belegten einschlägigen englischen Werke auf.

Der inhaltsreiche Band wird durch ein Personen- und ein Handschriftenregister erschlos-sen.

Wien Herwig W e i g 1

Reinhard S t a u b e r, Herzog Georg von Bayern-Landshut und seine Reichspolitik. Möglichkeiten und Grenzen reichsfiirstlicher Politik im wittelsbachisch-habsburgischen Spannungsfeld zwischen 1470 u n d 1505. (Münchener Historische Studien. Abt. Baye-rische Geschichte. 15.) Lassleben, Kallmünz/Oberpfalz 1993. XIV, 936 S„ 16 Taf.

Die Person Georgs des Reichen ist mit der Landshuter Hochzeit (1475) verknüpft. Die Heirat Georgs mit einer Tochter des polnischen Königs gibt den Anspruch und politischen Ho-rizont eines größeren Territoriums des Reiches im späteren 15. Jahrhunden wieder. Die Chan-cen und Handlungsspielräume reichsfiirstlicher Politik der Epoche bewegten sich weit über das engere territoriale Umfeld hinaus. Die zweite Jahrhunderthälfte brachte Süddeutschland im ge-samten Stabilität. Zwischen dem sogenannten Reichskrieg bis 1463 und dem wittelsbachischen Erbfolgekrieg zu Beginn des nächsten Jahrhunderts gab es keine größere militärische Auseinan-

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Rezensionen 507

dersetzung. In der Zeit bestand freilich eine erhebliche politische Dynamik, sozusagen subku-taner Natur. Dabei sind an vorderer Stelle die bayerischen Herzogtümer zu nennen, mit ihrer Expansionspolitik der kleinen Schritte, flankiert von Bündnissen, militärischem Druck, kleine-ren Offensiven, Heirat und Geld.

Beeindruckend ist das komplexe Geflecht an Verträgen und Einungen in diesen Kernzonen des Reiches. Auch dabei standen die Initiativen Georgs und seiner wittelsbachischen Verwand-ten voran. Die Optionen richteten sich letztlich gegen das Haus Brandenburg und den Kaiser. Das bayerische Satellitensystem bezog vor allem die fränkischen Bistümer und Nürnberg ein. Das Erzstift Salzburg war nicht einzubinden. Bei den minieren und kleinen Reichsständen in Schwaben erfolgte im Verlauf der Jahrzehnte ein Wechsel, da etwa Württemberg, Augsburg oder Öttingen aus dem Einungsverband ausscherten. Der wachsende Expansionsdruck nach Westen verhinderte den Fortbestand von Einungen, mündete letztlich in eine Solidarisierung im Schwäbischen Bund. Zum bayerischen Bündnissystem zählten im weiteren Sinn auch die sächsischen Territorien, mit denen man dynastisch verbunden war. Über die Pfälzer Kurver-wandten bezog es zeitweise neben Hessen und Braunschweig auch Frankreich ein. Überterrito-riale Beziehungen bestanden auch mit Ungarn und Böhmen. Landshut hatte zur Schuldentil-gung des Ladislaus Postumus erheblich beigetragen. Nach seinem Tod (1457) bestand fiir meh-rere Jahre ein Eheprojekt Georgs mit einer Tochter Podiebrads. Unter den Habsburgern zog man lange eine Allianz mit deren wesdichen Agnaten vor. Auch nach Albrecht VI. setzte man, in expansiver Intention, auf die Nähe zu Tirol. Dabei spielten auch ältere Stammestraditionen eine Rolle. Der pfandweise Aufkauf großer Herrschaftskomplexe (zwischen 1478 und 1487) war ein Novum bayerischer Territorialpolitik. Er scheiterte am entschiedenen Widerstand des Seniors des habsburgischen Hauses. Lendich ging man mit der Politik Friedrichs III. konform, unterstützte dessen Hilfeersuchen gegen die Osmanen und den Corvinen.

Seit der Gründung des Schwäbischen Bundes 1486 und der Rückkehr Maximilians in den Süden des Reichs drei Jahre später trat die bayerische Politik in eine neue Phase. In Verhand-lungen mit dem Kaiser suchte man den Bund zu revidieren oder aufzulösen. Vor allem kam es zu einer Annäherung mit der rivalisierenden Dynastie. Das geschah zunächst Uber die ober-bayerische Linie und den römisch-deutschen König. Als ein wesentliches Integrationsinstru-ment erwies sich der Hof Maximilians, an dem Georg mit seinem Vetter Friedrich von Sachsen in den späten 1490er Jahren in führender Position präsent war. Dabei verfolgte man wiederum vor allem territoriale Interessen. Durch die Heirat der Erbtochter mit einem pfalzischen Wit-telsbacher sollte die Sukzession gesichert werden. In der Reformdiskussion des Reiches, insbe-sondere auf dem Reichstag in Worms 1495, war der niederbayerische Herzog absent. Auch darin äußerten sich genuine Interessen, die auf dynastische Bindungen, auf territorialen Ausbau und Konsolidierung gerichtet waren.

Die jüngere Forschung zum Reich der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hat sich auf die Reichsfinanzen, Reformpläne, auf Bündnisse und Einungen, auf die Person des Reichsober-haupts konzentriert. Es ging um strukturelle und institutionelle Fragen, die Einteilung des Reichs nach Einflußzonen, um die höchste Gerichtsbarkeit, die Ausformung des Reichstags. Auch die Rolle der Kirche und ihrer Reform, der Bürger und gelehrten Eliten, vor allem der freien und Reichsstädte wurden untersucht. Unter den Territorien fanden die habsburgischen Vorlande, Sachsen im Vorfeld der Reformation, Fragen zu Verwaltung und Staatshaushalt In-teresse. Hier wird eine umfang- und materialreiche Studie zur äußeren Politik eines Territori-ums vorgelegt. Im Mittelpunkt stehen Dynastie und äußere Beziehungen, zum Reichsober-haupt wie solche „interterritorialer" Art. Der Studie liegt das Modell des Kräftefeldes zugrunde. Dessen sich wandelnden Kraftlinien, deren Zentren und Peripherien, die sich bis weit nach Eu-ropa erstreckten, werden in dem Buch hervorragend analysiert. Wünschenswert wäre ein stär-kerer Einbau innerer Strukturen in das Kräftefeld gewesen. Hier sind die Stände, Administra-tion und Ressourcen, die politische Theorie, die Landesuniversität und Räte zu nennen, die am

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508 Literatuiberichte

Schluß etwas disparat behandelt werden. Der Autor hat im Buch neben der Literatur eine Viel-zahl von Quellen in Archiven des mitderen Europa verarbeitet. Das Buch liegt quer zu den ge-nannten Forschungsinteressen zum Alten Reich, bietet freilich dazu in seiner weit ausholenden Analyse äußerer territorialer Politik eine wichtige Alternative.

Innsbruck Heinz Nof l at sc her

Krzysztof B a c z k o w s k i , Walka ο W^gry w latach 1490-1492. Ζ dziejöw rywali-zacji habsbursko-jagiellonskiej w basenie srodkowego Dunaju (Der Kampf um Ungarn in den Jahren 1490-1492. Zur Geschichte der habsburgisch-jagiellonischen Rivalität im mittleren Donaubecken). (Zeszyty Naukowe UJ MCLXIII. Prace Historyczne. 116.) Kraköw 1995. 168 S., 2 Landkanen.

Die langjährige Konkurrenz zwischen Habsburgern und Jagiellonen um die Vorherrschaft in Mitteleuropa führte in den neunziger Jahren des 15- Jahrhunderts zum Zusammenstoß zweier politischer Strategien: die jagiellonische Partei strebte die Gründung eines dynastischen, politischen und kulturellen Staatsbündnisses in Mitteleuropa an, die habsburgische hingegen sah in den Donauländern eine große Monarchie, die sie unter ihrem Zepter vereinigen wollte. Zu einem wirklichen Zusammenstoß dieser zwei Bestrebungen kam es nach dem Tode von Matthias Corvinus im Jahre 1490. Nach zweijährigen Gefechten und Kriegshandlungen siegte das habsburgische Konzept, und die günstigen Sukzessionstraktate sicherten den Habsburgern eine vierhundert Jahre lange Herrschaft über den Donauraum.

Zu einem solchen Ergebnis in der habsburgisch-jagiellonischen Rivalität haben verschie-dene politisch-militärische Ereignisse in Ostmitteleuropa beigetragen. Entscheidend waren die Jahre 1490-1492. Da sie in der Geschichte eine wichtige Rolle spielten, fanden sie auch einen regen Niederschlag in der historischen Literatur. Die Ursachen und Ereignisse, die die habsbur-gische Herrschaft im mitderen Donaubecken herbeigeführt hatten, wurden zum Gegenstand der österreichischen, polnischen, ungarischen, slowakischen und tschechischen Forschung. Jede von ihnen durchleuchtete andere Aspekte dieser Rivalität. Doch erst die Arbeit des Kra-kauer Mediävisten Krzysztof Baczkowski mit der Berücksichtigung der früheren Forschungen und den bis jetzt nicht ausgewerteten Archivsammlungen brachte eine umfassende Analyse und Darstellung dieser Geschehnisse. Ganz besonders wären hier folgende Archivbestände zu er-wähnen: das Magyar Orszigos Levlltär in Budapest sowie die slowakischen Staatsarchive in Bardejov, PreJov und KoJice. Das Buch besteht aus einer Einleitung, in der die Quellen und die einschlägige Literatur besprochen werden, fünf Kapiteln und einem zusammenfassenden Schlußwort.

Das erste Kapitel stellt die Analyse der Herrschaftsperiode Matthias I. Corvinus' sowie den Uberblick der internationalen Situation von den sechziger Jahren bis zu Matthias' Tod (6. April 1490) dar. Der Autor schildert die habsburgischen, die jagiellonischen und die von Corvinus' außerehelichem Sohn Johann erhobenen Ansprüche auf die ungarische Krone. Das zweite Ka-pitel widmet Baczkowski den Geschehnissen in Ungarn seit dem Tod des Königs bis zur Wahl seines Nachfolgers Wladislaw II. des Jagiellonen, König von Böhmen (am 15. Juli 1490). Der Autor analysiert auch die Positionen und Chancen der Gegner Wladislaws: die seines Bruders Johann Albrechts, des Habsburgers Maximilian und des ungarischen Königssohnes Johann. Deudich kommt hier auch die Rolle der ungarischen Adeligen (in kirchlichen wie auch weltli-chen Kreisen) bzw. der Stände zur Sprache, die - von der Königin-Witwe Beatrice unterstützt -die Wahl Wladislaws herbeigeführt haben.

Da sich ein Teil der Herren fur den polnischen Kronprinzen Johann Albrecht ausgespro-chen hatte (am Räkos-Feld, am 7. Juni 1490) und auch Maximilian von Habsburg um seine Ansprüche zu kämpfen begann (er besetzte im Oktober 1490 Westungarn), kam es zur ersten

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Rezensionen 509

militärischen Auseinandersetzung zwischen den drei Kandidaten. Diesen Ereignissen widmet der Autor das dritte Kapitel. Nach dem Verzicht Johann Albrechts - ein Abkommen wurde am 20. Februar 1491 unterzeichnet - und dem Rückzug Maximilians im Frühling 1491, begann Wladislaw II. auf diplomatischem Wege mit den Habsburgern eine Einigung zu suchen. Die kriegerischen Handlungen mit den Konkurrenten und die Versuche Wladislaws II., West-ungarn wieder zu gewinnen, zeichnet Baczkowski im vierten Kapitel auf.

Im letzten Kapitel werden die ungarisch-habsburgischen Friedensverhandlungen darge-stellt. Sie endeten mit dem Vertrag am 7. September 1491 in Preßburg. Baczkowski bringt neue, interessante Überlegungen zu diesem Thema. Er stellt die These auf, daß Wladislaw II. zur Annahme schwerer Bedingungen gezwungen war, und zwar durch den erneuten Angriff sei-nes Bruders Johann Albrecht in der Slowakei, der zusätzlich bei den Türken nach Verbündeten suchte. Daher - so führt Baczkowski weiter aus - wurde Johann Albrecht in der Erbfolge in Un-garn nicht berücksichtigt. Eine weitere neue Überlegung des Autors betrifft die Frage der spä-teren Handlungen Johann Albrechts. Baczkowski widerspricht der bisherigen Forschung, in-dem er die These einer weiteren Unterstützung des Vaters, Kasimir III. von Polen, die dieser seinem jüngeren Sohn gewährte, bestätigt und unterstützt.

Die Ratifizierung des Preßburger Vertrags durch die Ungarn und den ungarischen Reichs-tag im März 1492 beendete die zweijährige Auseinandersetzung um die ungarische Krone. In der Zusammenfassung betont Baczkowski wiederholt, daß der Verlauf der Geschehnisse letzt-lich von den ungarischen (und böhmischen) Adeligen bestimmt wurde. Sie wollten dadurch einerseits die habsburgische Hilfe gegen die Türken gewinnen, andererseits hofften sie, in Ungarn mitregieren zu können. Allgemein lassen sich folgende Ergebnisse feststellen: fur die Habsburger bedeutete der Preßburger Vertrag eine baldige Übernahme der mittleren Donau-länder, die Jagiellonen verloren ihre Chancen, die ungarische und böhmische Krone zu behal-ten. Sie mußten wieder alle Kräfte einsetzen, um die jagiellonische Einheit in Mitteleuropa auf-rechterhalten zu können.

Baczkowski hat ein sehr wichtiges und interessantes Forschungsproblem fur sein Buch aus-gesucht. Er zeichnete sehr überzeugend die grundlegende Bedeutung der politisch-militäri-schen Ereignisse der Jahre 1490-1492 auf, die zum Preßburger Vertrag führten. Sie bestimm-ten die Aufteilung der Einäußbereiche zwischen den Jagiellonen und den Habsburgern in Mit-teleuropa. Für die letzteren bedeutete es außerdem den ersten Schritt zur späteren Schaffung der großen Donaumonarchie, die vier Jahrhunderte überdauerte.

Das Buch beschließt eine ausfuhrliche Bibliographie, eine Zusammenfassung in deutscher Sprache und zwei Landkarten. Die erste „Ungarn um 1490" verzeichnet die Feldzüge des Jahres 1490, die Johann Albrechts, Wladislaws II., Maximilians I. und die Route des Rückzugs Mat-thias Corvinus' im Juli 1490. Die zweite „Ungarn um 1491" zeigt auch die ungarischen Feld-züge und Kriegshandlungen gegen Maximilian I., Johann Albrecht und gegen die Türken.

Wien Zofia K o w a l s k a

Traudel H i m m i g h ö f e r , Die Zürcher Bibel bis zum Tode Zwingiis (1531). Dar-stellung und Bibliographie. Zabern, Mainz 1995. XTV, 500 S.

Die Reformation um Zwingli schuf den geistigen Nährboden für ein in nur acht Jahren ei-genständig gewordenes Bibelwerk, das nicht nur ein wichtiges Element der zürcherischen Kir-chengeschichte, sondern auch ein Stück Reformationsgeschichte über die Schweizer Grenzen hinaus darstellt. Die Entwicklung der Zürcher Bibel in anfanglicher Abhängigkeit von der Bi-belübersetzung Luthers, bis hin zur eigenständig zürcherisch geprägten Bibeledition, versucht Traudel Himmighöfer in ihrer 1992/93 an der Universität Mainz vorgelegten Dissertation nachzugehen.

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510 Literaturberichte

Während die Lutherbibel in einer schier unübersichtlichen Literaturflut bis ins Detail hinein bereits erschlossen ist, nehmen sich die Untersuchungen zur Zwinglibibel geradezu be-scheiden aus. Arbeiten zu verschiedenen Einzelthemen (Geschichte, künsderische Ausgestal-tung, Vorreden, philologische und sprachwissenschaftliche Aspekte) sind zwar wertvolle Grundlagewerke zur Geschichte der Zürcher Bibeleditionen, jedoch sind bis heute wesentliche Themenfelder unbearbeitet geblieben. Daher hat es sich die Autorin in der vorliegenden Arbeit zur Aufgabe gemacht, sich mit Vorgeschichte und Entwicklung sämtlicher Bibeldrucke, die von 1524 bis 1531 die Zürcher Presse verlassen haben, näher zu befassen. Kern der Arbeit bildet die Gegenüberstellung der ersten Zürcher Bibelteile mit den frühesten Teilausgaben der Luther-bibel. Die Herausarbeitung der Abweichungen wie auch entsprechende Entwicklungen und Änderungen gegenüber der Lutherbibel sollen von Edition zu Edition verfolgt werden. Es gilt ferner zu untersuchen, wie die Änderungen sprachlich und theologisch motiviert waren. In die-sem Zusammenhang werden Entstehen, Entwicklung und Bedeutung der zürcherischen theo-logischen Lehranstalt „Prophezei" näher beleuchtet. Himmighöfer stellt auch die Frage nach der eigentlichen Zürcher Eigenleistung auf dem Gebiet der Bibeleditionen sowie dem Anteil Zwingiis an den Anpassungen und Übersetzungen. Schließlich soll gezeigt werden, ob und in-wieweit an den einzelnen Ausgaben der jeweils aktuelle Stand der zürcherischen Kirchen- und Theologiegeschichte abgelesen werden kann.

In minutiöser Kleinarbeit verfolgt Traudel Himmighöfer zunächst Zwingiis Bildungsweg, seine Auseinandersetzung mit den Schriften des Erasmus von Rotterdam, mit Martin Luthers Bibelübersetzung sowie mit den Werken Augustins. Als Grundlage für eine erste zürcherische Bibeledition greifen Zwingli und seine engsten Mitarbeiter Leo Jud (Übersetzer) und Chri-stoph Froschauer (Drucker) auf die ersten, in Basel erschienenen, auf eidgenössische Sprach-gebräuchlichkeiten nachbearbeiteten Lutherbibeln zurück. Bereits in der Ausgabe des Zür-cher Neuen Testaments von 1524 entsteht eine dialektologisch und philologisch neue, eigen-ständige Bibelausgabe. Zunächst werden die meisten, fur die Eidgenossen unverständlichen ostmitteldeutschen Ausdrücke getilgt und durch alemannische Lexeme ersetzt. Zusätzlich werden einzelne Textstellen gänzlich neu übersetzt und damit mit neuem Sinninhalt gefüllt. Um den griechischen Urtext möglichst genau wiederzugeben, arbeitet die Übersetzung mit Doppelausdrücken, d. h. für die Übersetzung eines Ausdrucks des griechischen Original-textes werden mehrere deutsche Begriffe angegeben. Wo es dem Übersetzer notwendig erscheint, werden Glossen angebracht und erklärende Wendungen eingefugt. Die Zürcher Übersetzung strebt eine dem Originaltext besonders nahegelegene Bearbeitung an. Dieses Verfahren fährt in verschiedenen Bereichen zu bestimmten, für die zürcherisch-reformierte Theologie charakteristischen Sinnveränderungen, so beispielsweise in der Frage des Meß-opfers/Abendmahls (146ff.) oder der Heiligenverehrung (98 f.). Besondere Sorgfalt widmet die Zwingli-Übersetzung der Überarbeitung katholisch anmutender Begriffe sowie der exak-ten Wiedergabe von ethischen Weisungen.

Von der ersten Teilausgabe der Zürcher Bibel 1524 bis zu Zwingiis Todesjahr 1531 voll-zieht sich nun eine kontinuierliche Weiterentwicklung, die schließlich in einer umfangreich kommentierten und glossierten, von Grund auf neu übersetzten Bibeledition gipfelt. Die Fo-lioedition von 1531 (ZH 29) wird nicht nur zum Maßstab für zukünftige Zürcher Bibeln, son-dern ist auch unmißverständlicher Ausdruck theologisch-reformierter Gesinnung, die sich hier deudich von katholischen, lutherischen und täuferischen Lehraussagen distanzieren will.

Zwischen 1524 und 1531 gibt man sich mit der Version der ersten Bearbeitung auch nicht zufrieden. Die sogenannte „Prophezei" und nachmalige Zürcher theologische Hochschule übernimmt unter dem Vorsitz Zwingiis, nebst der Ausbildung von Prädikanten, gewissermaßen die Funktion eines laufenden „Workshops" fur bibelexegetische Fragen. (Im Sinne Zwingiis sind die Begriffe „Prophetia" und „Exegese" gleichbedeutend.) Hier werden laufend verschie-dene Probleme der Bibelauslegung im Kollegium diskutiert.

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Rezensionen 511

Zweifellos standen die Zürcher Teileditionen der Heiligen Schrift auch in Konkurrenz mit den Ausgaben Luthers. In dieser Hinsicht konnten die Zürcher einen Triumph fiir sich verbuchen, als 1529 gleichzeitig Propheten und Apokryphen herausgegeben werden konnten. Die Zürcher Apokryphen erschienen nicht nur fünf Jahre vor dem Wittenberger Konkurrenz-druck, sondern waren die ersten deutschsprachigen Apokryphenübersetzungen der Reformati-onszeit überhaupt. Zudem war es das Verdienst der Zürcher Editoren, mit Abschluß der Pro-pheten und Apokryphen eine vollständige Bibelausgabe in zwei Bänden bereitgestellt zu ha-ben, auf die in Wittenberg noch bis 1534 gewartet werden mußte. Schon 1530 war aus Froschauers Presse, als weiteres zürcherisches Novum, die erste gedruckte Vollbibel der Schweiz erhältlich. Diese Ausgabe stand dem Neuhochdeutschen nun näher als ihre Vorgängerinnen. Diesen Umstand wertet Himmighöfer als Zeichen, daß die Editionen der Zürcher Bibeln ein Publikum im gesamten deutschen Sprachraum erreichen sollten. Ebenfalls 1530 entstand für einen theologisch-wissenschaftlich interessierten Leserkreis die erste lateinische Zürcher Bibel-übersetzung.

Bei den hochinteressanten Untersuchungen über die Entwicklung der Zürcher Bibeledi-tionen befaßte sich die Autorin auch mit der bislang umstrittenen Frage nach den Personen, die hinter den jeweiligen Bibelbearbeitungen stehen. Aufgrund erhaltener Schriften, Exege-tica, Randglossen und Kommentare Zwingiis kann Himmighöfer denn auch unschwer nach-weisen, daß der Zürcher Reformator bis zu seinem Tode 1531 intensiv und zum Teil fast ausschließlich sowohl als Übersetzer, philologischer und theologischer Bearbeiter gewirkt hatte. Ausgenommen ist die Übersetzung der Apokryphen, die von Zwingiis engstem Mitar-beiter Leo Jud bewerkstelligt wurde. Obwohl in der „Prophezei" gemeinsam an exegetischen Fragen gearbeitet worden ist, blieb die letzdiche Verantwortung fur die Bearbeitung der Werke offenbar in den Händen Zwingiis. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht, daß die „Zwingli-Bibel" nicht nach ihrem Schöpfer benannt worden ist. Vielmehr von Zwingli selbst veranlaßt, wurden die Ausgaben nach dem Drucker, also „Froschauer-Bibeln", bzw. nach dem Druckort „Zürcher-Bibel" genannt. Damit unterschied sich die Zürcher Bibel am mei-sten von den Wittenberger Ausgaben, die unzertrennlich mit dem Namen Luthers verbun-den waren. Obwohl die Lutherbibel letzdich in ähnlicher Weise zustande gekommen war wie die Zürcher Bibel (hauptsächliche Bearbeitung Luthers, Apokryphen durch Mitarbeiter Me-lanchthon, sowie der Prophezei ähnliche Arbeitssiezungen), wurde die Lutherbibel als das Werk eines einzigen Autors angesehen. Diese Umstände erachtet Traudel Himmighöfer als ausschlaggebend dafür, daß die Zürcher Bibel auch nach Zwingiis Tod von seinen Nachfol-gern Bibliander und Bullinger neu bearbeitet und weiterentwickelt worden ist. Während-dessen galt die letzte Bearbeitung der Wittenberger-Bibel nach dem Tode Luthers 1546 als unantastbar.

Mit einem Ausblick auf den weiteren Fortgang in der Prophezei, den Bibeleditionen bis 1566 und dem Desiderat, die Weiterentwicklung der Zürcher Bibeln im Sinne der vorangegan-genen Untersuchung weiterzuverfolgen, schließt die Autorin ihre höchst interessante Abhand-lung. Ergänzend zu ihren Ausführungen hat sich Himmighöfer die Mühe genommen, einen ta-bellarischen Überblick, sämdiche Stemmata sowie eine Bibliographie der untersuchten Bibel-ausgaben zusammenzustellen. Eine umfassende Liste weiterer relevanter Bibeleditionen vom 15. bis 20. Jahrhundert sowie reichhaltige Sekundärliteraturangaben ergänzen den hilfreichen Apparat. Lobend zu erwähnen sind ferner die auflockernd und instruktiv wirkenden Abbildun-gen einzelner Titelblätter mit Holzschnittverzierungen.

Insgesamt präsentiert sich die äußerlich trockene Materie als eine inhaltlich interessante und durchaus kurzweilig zu lesende Arbeit, die es versteht, philologie- und theologie-geschichtliche Fragen in ihrem kulturellen Umfeld zu problematisieren und schlüssig zu be-antworten.

Sarnen Kristina S t r e u n

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512 Literaturberichte

Werner Ο . P a c k u 11, Hutterite Beginnings. C o m m u n i t a r i a n Experiments during the Reformation. T h e John Hopkins University Press, Bal t imore 1995 . 4 4 0 S .

Die Erforschung der Täufer ist in Österreich zwar seit den Arbeiten der unvergeßlichen dy-namischen Forscherin Grete Mecenseffy nicht völlig zum Erliegen gekommen, stellt aber letzt-lich nicht gerade eine der Stärken der österreichischen Historiographie dar. Umso dankbarer muß man fur das vorliegende Buch sein, dessen geographisches Zentrum zwar Mähren ist, das jedoch auch die heutigen und ehemaligen österreichischen Länder (insbesondere Südtirol) in-tensiv miteinbezieht. Nach einer Einordnung seiner eigenen Arbeit in den Diskurs der moder-nen Täuferforschung - gleichzeitig ein Kabinettstück einer historiographischen Einführung in das Thema - beschäftigt sich Packull mit den Gemeinden in Mähren, deren Geschichte vor al-lem auf Grund von Personen und deren Verbindungen zueinander und von Strömungen im täuferischen Lager, also von ideengeschichdichen Fakten her, bestimmt wird. Mit einer un-glaublichen Materialkenntnis und einer Akribie ohnegleichen bringt der Autor diese Informa-tionen zusammen und kann damit ein sehr detailliertes und faszinierendes Bild des mährischen Täufertums zeichnen.

Er betont den heterogenen Ursprung der täuferischen Bewegung, hebt aber besonders den - früher allzusehr im Zentrum der Interpretation gestandenen - Biblizismus der Schweizer im Umkreis von Zwingli hervor, Personen, die sich mit der Frage der Taufe und der Rolle des Alten Testaments besonders beschäftigt haben. Dabei modifiziert Packull das idealistische Bild dieser frühen Täufer und geht vor allem der bisher vernachlässigten Frage nach dem Vorhandensein deutscher Versionen der Heiligen Schrift besonders nach.

Nach diesem Vorspann wendet er sich Mähren zu, in dem es 40 unterschiedliche religiöse Gemeinschaften (Sekten) in der Frühen Neuzeit nebeneinander geben konnte. Sein erstes Au-genmerk gilt der Gemeinde in Austerlitz/Slavkov, die mit Hans Hut, dem Missionar Oberöster-reichs, und auch mit Jakob Hutter und Balthasar Hubmaier in Verbindung gebracht werden kann. Besonders eindrucksvoll ist, daß Packull in seiner Geschichte der Täufer immer die poli-tischen Rahmenbedingungen mitberücksichtigt und so nicht dem Fehler vieler Täuferforscher verfällt, eine von allen säkularen Umständen losgelöste Gemeindegeschichte zu schreiben. Die Gruppe der Philippiten (benannt nach Philipp Plener), die aus Schwaben, Pfalz und dem Rheinland stammen, ist in den Jahren 1529 bis 1535 ebenso in Mähren (Znaim/Znojmo, Eibenschitz/Ivancice, Brünn/Brno) zu finden wie die Gruppe der Gabrieliten (benannt nach Gabriel Ascherham), die aus Schlesien stammte und über Clemens Adler auch Beziehungen zu den schweizerischen Gruppen der Täufer hatte. Auch einer Reihe von anderen Konnexen der mährischen Gemeinden zu bedeutenden Persönlichkeiten der Täuferbewegung, zu Pilgram Marpeck etwa oder den Südtiroler Täufern und deren Schlüsselfigur Jörg Blaurock, werden nachgewiesen. Diese Südtiroler Täufer, deren Wurzeln im Bauernkrieg und deren Kontinuität zu den Ideen Gaismairs der Autor diskutiert, werden vor dem Hintergrund der Politik Ferdi-nands I. 1529 bis 1533, welche die Hutterische täuferische Erfahrung wesendich geprägt hat, gesehen. Alle diese unterschiedlichen Gruppen münden in Austerlitz, dessen Gemeinde sich in zwei Jahren verdreifachte, bis es 1531 zu einer Spaltung kam und sich eine neue Gemeinde in Auspitz/Hustopeie bildete, zu der 1533 die Hutterer aus Südtirol stießen. Jakob Hutter selbst ging zurück nach Südtirol und wurde als Märtyrer seines Glaubens in Innsbruck hingerichtet -andere wie Jeronimus Käls, Onophrius Griesinger, Leonhard Lochmair und Georg Fasser soll-ten folgen. Diese tragischen persönlichen Lebenswege und das Schicksal der Philippiten und Gabrieliten bilden den Ausklang dieses Buches, dessen Ergebnisse einen wesentlichen Baustein zur Täuferforschung in Österreich bilden. Man kann nur hoffen, daß die österreichischen Hi-storiker dieses Buch aufgreifen und darauf aufbauend dem Täuferthema jenen Platz im Rah-men der konfessionellen Geschichte der Frühen Neuzeit zuweisen, der ihm zusteht.

Wien Karl V o c e 1 k a

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Rezensionen 513

Peter B l a s t e n b r e i , Kriminalität in Rom, 1560-1585 . (Bibliothekdes Deutschen Historischen Instituts in Rom. 82.) Niemeyer, Tübingen 1995. 317 S.

Obwohl Rom zu den wenigen europäischen Metropolen zählt, die bereits in der frühen Neuzeit über eine umfang- und aktenreiche Justizarbeit verfugten, wurde es bisher noch nicht zum Thema einer umfassenden kriminalhistorischen Untersuchung gemacht. Der Grund dafür ist leicht erklärt: Die erhaltenen Akten sind zwar äußerst zahlreich, die Organisation des kom-plizierten Justizapparates, der sie produzierte, war bisher allerdings noch nicht befriedigend erforscht. Eine korrekte Klassifizierung dieses Materials im Rahmen einer quantifizierenden Studie hätte einer umfängreichen Vorarbeit zur römischen Justizorganisation bedurft; eine schwierige und bis zu einem gewissen Grad auch undankbare Aufgabe, vor der bis jetzt noch alle interessierten Historiker kapituliert haben. Um so verdienstvoller ist, daß Peter Blastenbrei diese Arbeit auf sich genommen und in der vorliegenden Habilitationsschrift zur römischen Kriminalität des späten 16. Jahrhunderts publiziert hat.

Die erste Schwierigkeit, mit der der Kriminalhistoriker in der Ewigen Stadt konfrontiert wird, ist die Tatsache, daß es im Rom des 16. Jahrhunderts mehrere konkurrierende Gerichte gab, deren unterschiedliche Zuständigkeiten schon damals schwer durchschaubar waren. Ne-ben dem Tribunale criminale del Governatore, dem wichtigsten Gericht der Stadt, gab es die äl-tere Curia Capitolina, die erst 1550 eingerichtete Curia del Borgo, das Gericht des Vicario del Papa (für Kleriker und Juden), das Gericht des Uditore della camera apostolica (für Fiskal- und Steuerangelegenheiten), das Cameriere della Ripa (für Handelsfragen) und verschiedene kleinere Instanzen fur nicht kriminelle Gesetzesübertretungen, die mit Geldstrafen geahndet wurden, wie die Curia Savelli und die Maestri delle Strade. Blastenbrei listet all diese Institutionen über-sichdich auf, informiert uns über ihre historische Entwicklung, ihre (manchmal wechselnden) Zuständigkeiten und über ihre internen Hierarchien und das Personal, das sie beschäftigten.

Die zweite, noch gravierendere Schwierigkeit liegt darin, daß sich das römische Quellen-material in seiner Struktur grundsätzlich von den Gerichtsakten anderer europäischer Städte unterscheidet: Nicht der gesamte Rechtsvorgang, von der Anklage über den Prozeß bis zum Ur-teil, bildet eine Einheit der Aktenführung, sondern fur jeden Einzelschritt gibt es eigene Akten-serien, die getrennt produziert und aufbewahrt wurden. Aufgrund der lückenhaften Überliefe-rung des Materials ist es daher kaum je möglich, einen bestimmten Fall von der Anklage bis zur Urteilsfindung zu rekonstruieren. Wie stark die Aufsplitterung des Prozeßverlaufs war, wird von Blastenbrei anhand des Tribunale criminale del Governatore vorgeführt. Die wichtigsten Serien, die dieses Gericht produzierte, waren „Investigazioni", „Relazioni dei barbieri", „Visite dei notai", „Processi", „Testimoni", „Costituti", „Registri di sentenze" und „Sentenze originali". Aufgrund seiner umfassenden Quellenkenntnis kann Blastenbrei auch in diesem Bereich inter-essante Theorien darüber entwickeln, welche Funktion die einzelnen Serien hatten und wie sie voneinander abzugrenzen bzw. zueinander in Bezug zu setzen sind (8-51).

All dies ist jedoch nur das notwendige Rüstzeug, das er braucht, um seinem eigendichen Forschungsziel gerecht werden zu können: Der Darstellung der Alltagskriminalität der Stadt Rom zwischen 1560 und 1585, während der höchst unterschiedlichen Pontifikate von Pius IV., Pius V. und Gregor XIII. Als Quellen zieht er die Serien der „Investigazioni", „Relazioni dei barbieri" und „Sentenze" der drei bedeutendsten Gerichte heran, die er mit Aussagen in den so-genannten „Awisi di Roma" (sehr verläßlichen und ausführlichen Sammlungen aktueller Infor-mationen, die für den Herzog von Urbino zusammengestellt wurden) kombiniert. Die Auswahl dieser Quellengattungen erweist sich als äußerst zielfuhrend. Als „Investigazioni" wurden jene Aktenbestände bezeichnet, in denen die bei der Behörde eingelangten Anklagen und die (wört-lich mitgeschriebenen) Verhöre der vom Kläger beigebrachten Zeugen festgehalten wurden. Für eine flächendeckende Studie über die römische Alltagskriminalität eignen sie sich beson-ders gut, weil hier alle eingehenden Klagen vermerkt wurden, so daß auch jene Fälle aufschei-

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514 Literaturberichte

nen, die nach den ersten Voruntersuchungen nicht mehr weiter verfolgt wurden. Um 1560 ver-zeichneten die Behörden rund 900 Anzeigen jährlich, 20 Jahre später waren es bereits 1400 (33). Diese enorme Fülle an Material hat sich, im Gegensatz zu anderen Aktenserien, fast lük-kenlos erhalten. Eine weitere wichtige Quelle sind die „Relazioni dei barbieri", die so wie die „Investigazioni" eine römische Besonderheit darstellen. Um nicht angezeigten Gewaltverbre-chen auf die Spur zu kommen, wurden alle Heiltätigen verpflichtet, Meldung darüber zu erstat-ten, wenn ein Verwundeter ihre Hilfe in Anspruch nahm, der Opfer einer Gewalttat zu sein schien. Aufgrund der ärzdichen Meldung wurde der Verwundete dann von einem Notar ver-hört („Visite dei notai"), worauf Anzeige gegen den (bekannten oder unbekannten) Täter er-stattet wurde. Hier werden also auch jene Verbrechen greifbar, die nicht vom Geschädigten selbst angezeigt wurden. Die „Sentenze" schließlich geben in sehr summarischer Form einen Überblick über die ausgesprochenen Verurteilungen.

Anhand dieses Materials gelingt es Blastenbrei, seinen Befund über die römische Alltags-kriminalität der sechziger bis achtziger Jahre des 16. Jahrhunderts mit statistischer Genauig-keit zu belegen. Rom war zu dieser Zeit eine der gewalttätigsten Städte Europas: ca. 70 bis 75 % der Gesamtdelinquenz waren Gewaltverbrechen, darunter erstaunlich viele Morde (70, 72). Die meisten dieser Delikte, von der spontanen Rauferei über die Mißhandlung der Ehe-frau bis hin zum sorgfaltig geplanten Mord, hatten materielle Ursachen, weshalb die Abgren-zung zu den Eigentumsdelikten nicht immer klar ist. Als besonderes Charakteristikum der römischen Kriminalität bezeichnet Blastenbrei das extrem häufige Auftreten von „Konflikt-ketten", wenn etwa eine einfache verbale Beleidigung im Zuge wechselseitiger Racheakte im-mer schlimmere Verbrechen, bis hin zum Mord, nach sich zog (133 ff.). Erstaunlich gering ist hingegen die Zahl der gerichtlich verfolgten Sexualdelikte, die mit etwa 3 % deudich un-ter dem europäischen Durchschnitt liegt. Für Blastenbrei läßt sich dieses Phänomen nur da-durch erklären, daß die römische Bevölkerung selbst in Zeiten der Gegenreformation devian-ter Sexualität erstaunlich tolerant gegenüberstand und Delikte wie außerehelichen Verkehr, Ehebruch und Homosexualität nur selten denunzierte (267ff.). Überhaupt ist in der man-gelnden Kooperationsbereitschaft der Römer, für die die Zusammenarbeit mit den als „feind-lich" angesehenen Behörden eine Art Verrat bedeutete, einer der wesendichsten Gründe für das Scheitern der Verbrechensbekämpfung. Mit der ambivalenten Haltung der Bevölkerung zu ihren Justizbehörden ist die frappierende Gewaltbereitschaft der Römer im späten 16. Jahrhundert allerdings noch nicht hinreichend erklärt. Eine weitere Ursache für dieses Phänomen sieht Blastenbrei in der demographischen Entwicklung und in der spezifischen römischen Bevölkerungsstruktur. Rom war eine Stadt von Einwanderern, deren Bevölke-rungszahl im Laufe des 16. Jahrhunderts durch Zuwanderung um rund 75 % anstieg. Die meisten dieser Zuwanderer waren entwurzelte und sozial kaum abgesicherte Personen, die zwar jahrelang in Rom lebten, die aber die ersten waren, die die Stadt wieder verlassen muß-ten, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechterte oder ein besonders strenger Papst an die Regierung kam. Aufgrund ihrer sozialen Unsicherheit waren sie mehr als andere geneigt, auf das „Recht des Stärkeren" zu vertrauen und selbst unbedeutende Konflikte mit Gewalt auszutragen (285 ff.). Begünstigt wurde diese Gewaltbereitschaft durch das Fehlen einer kon-sequenten und kontinuierlichen Verbrechensbekämpfung, die durch den relativ raschen Wechsel der Päpste und deren unterschiedliche politische Interessen ebenso bedingt war, wie durch die Privilegien des Adels, dessen Paläste Immunitätsbezirke, und dessen Gefolgsleute stets bewaffnet waren (296).

Blastenbrei ist mit seiner sorgfaltigen Studie seinem Ziel, einen „Baustein fur den interna-tionalen Vergleich der Delinquenz" und einen ,.Anstoß fur eine künftige weitere Erforschung der innerstädtischen römischen Kriminalität" zu liefern (6), bestens gerecht geworden. Darüber hinaus bietet das Buch in vielen Details (etwa seiner Tabelle über die starken Bevölkerungs-schwankungen im 16. Jahrhundert [56], oder seiner Aufstellung über das römische Münz-

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Rezensionen 515

system [306] eine nützliche Hilfe fiir jeden, der sich mit der Geschichte des fhihneuzeidichen Rom beschäftigt. Eine Übersetzung ins Italienische oder ins Englische wäre daher im Interesse der nicht deutschsprachigen Kollegen sehr empfehlenswert.

Wien Monica K u r z e l - R u n t s c h e i n e r

D e j i n y u n i v e r z i t y K a r l o v y , II: 1622-1802 (Geschichte der Karlsuniversi-tät. 2: 1622-1802) . Herausg. v. Frantisek K a v k a , Josef P e t r ä f i und Ivana C o r n e -j o v ä . Karolinum, Prag 1996. 286 S., zahlr. Abb., Tab.

Nur wenige Monate nach Erscheinen des ersten Bandes der neuen Geschichte der Prager Karlsuniversität liegt der zweite Band vor. Er umfäßt die Jahre 1622 bis 1802 und entspricht in Aufmachung und Anlage dem ersten Band (vgl. MIÖG 104, 1996, 377-379). In ihrer Ein-führung schreibt die Herausgeberin des Bandes Ivana Cornejovä, daß das Buch die früher wie heute in Böhmen wenig beliebte Epoche der knappen zwei Jahrhunderte nach 1620 zum In-halt hat und betont, daß auch diese, oft „temno" = Finsternis genannte Zeit von erheblichem Interesse für den Historiker ist. Und sie fügt hinzu, daß auch damals hervorragende Persön-lichkeiten nicht nur frischen Wind in den Universitätsbetrieb brachten, sondern zudem auch fähig waren, sich dem „kirchlichen wie staatlichen Despotismus entgegenzustellen". Aus der Feder derselben Autorin stammen drei sich anschließende Beiträge (alle Titel werden im fol-genden nur auf deutsch angegeben): „Quellen und Literatur" (13-21) informiert über die rele-vanten Quellenarten, ihre Lagerorte, ihre nur spärlichen Editionen und über die Verluste v. a. im Zweiten Weltkrieg und gibt Hinweise auf die wichtigste Literatur. Bei den angegebenen Ti-teln hätte man sich die Vornamen nicht gekürzt, sondern ausgeschrieben gewünscht, wie übri-gens im ersten Band geschehen. Zur Literaturliste wäre noch das Buch von Ivana Cornejova „Tovarysstvo Jezßovo - Jezuitd ν Cechäch" (Die Gesellschaft Jesu - Die Jesuiten in Böhmen), Prag 1995, nachzutragen. Es ist übrigens - wie der besprochene Band selbst — ein Zeichen, wie gelungen und wie schnell man sich nach 1989 der bis dahin (zwangsweise) vernachlässigten Themen angenommen hat. „Die verwaltungsmäßige und institutionelle Entwicklung der Pra-ger Universität" (23—56) und „Die wirtschaftliche Sicherstellung der Prager Universität" 1622—1802 (57-68) bieten als solider Überblick die Grundlage fur die nachfolgenden, auf Spezialgebiete eingehenden Beiträge: Karel Beränek, „Die theologische Fakultät" (69-98); Ma-rie Pavlikovä - Ivana Cornejovi, „Die Philosophische Fakultät" (99-135); Kaiel Beranek, „Die juristische Fakultät" (137—163); Petr Svobodny - Ludmila Hlavdikovd, „Die medizinische Fa-kultät" (165-202) und Marie Pavlikovä, „Entstehung und Entwicklung der Universitätsbiblio-thek" (203—223). Alle Autoren — durch eigene frühere Arbeiten zum Thema Universität ausge-wiesen - haben fiir ihre Studien unediertes Archivmaterial herangezogen und liefern damit mehr oder weniger neue Ergebnisse. Beachtenswert erscheint ζ. B. die Feststellung, daß wäh-rend des „temno" die juristische und die medizinische Fakultät in der Qualität von „Forschung und Lehre" zeitweise die Universität Wien übertrafen, wie überhaupt die Prager Universität nach 1620 zwar eine gründliche Umwandlung erfuhr, keinesfalls aber einen Fall ins Bodenlose erlebte, sondern vielmehr ihren Platz unter den mitteleuropäischen Lehranstalten behaupten konnte. Von Zdenek Hojda und Ivana Cornejova stammt der abschließende Beitrag „Die Pra-ger Universität und die Bildung in den böhmischen Ländern im 17. und 18. Jahrhundert" (225-240) mit den Inhaltspunkten: Die Auslandsaufenthalte böhmischer Studenten, denen Maria Theresia 1743 mit einem Dekret ein Ende setzte, die sog. Kavalierstour, die sog. Ritter-akademien, andere Universitäten der böhmischen Länder (Olmütz, Breslau) und die Wiener Universität. Es folgen noch die zwei Anhänge „Anzahl und Herkunft der Hörer, der Promo-vierten und der Professoren der Fakultäten an der Karl-Ferdinand-Universität" (241-249) und „Überblick über die akademischen Würdenträger der Jahre 1622-1802" (251-265), die Nachweise zu den Abkürzungen und Abbildungen und sowohl ein Personen- als auch ein

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516 Literaturberichte

Ortsregister. Gegenüber dem ersten Band hinterläßt der zweite nicht nur denselben, durch eine anspruchsvolle wie ansprechende Aufmachung unterstützten lobenswerten Eindruck, sondern er erscheint zudem bei der Abstimmung der einzelnen Beiträge in sich geschlossener. Das mag nicht zuletzt an Ivana Cornejovä liegen, die neben der Herausgabe drei Beiträge selbst verfaßt und bei zweien mitgearbeitet hat. Der dritte Band wird die Zeitspanne 1802-1918 zum Inhalt haben und sollte - wie der vorliegende - die Neugierde auch österreichischer Historiker auf sich ziehen.

Leipzig Karel Η r u ζ a

Dries V a n y s a c k e r , Cardinal Giuseppe Garampi (1725-1792) : An Enlightened Ultramontane. (Institut historique beige de Rome. 33.) Brüssel - Rom 1995. 334 S., Abb.

Der etwas einseitig geistesgeschichdich ausgerichteten Historiographie über Österreich im Zeitalter des Aufgeklärten Absolutismus fehlt es bekanndich an so manch konventioneller Grundlagenforschung, nicht zuletzt an biographischen Marksteinen. Ein gräßliches Defizit, das selbst vor den Herrscherfiguren und den Staatsmännern der ersten Garnitur nicht halt macht. Eine abgeschlossene moderne Biographie Josephs II. fehlt ebenso wie ein handliches Standard-werk zur Person Maria Theresias, das endlich die zu weitschweifigen zehn Bände Alfred von Arneths ablösen könnte; auch ein befriedigendes Lebensbild des Fürsten Kaunitz wind man vergeblich suchen. Um so freudiger muß man biographische Beiträge über prominente „Aus-länder" begrüßen, deren Leben und Wirken für die Geschicke der „monarchia austriaca" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Belang gewesen ist, liefert doch nicht selten gerade die kritische „Außensicht" wesentliche, das Gesamtbild abrundende Aufschlüsse.

Faßt man die stürmische kirchenpolitische Entwicklung der Jahre 1740 bis 1780 ins Auge, die Österreich von den Ausklängen der Gegenreformation und überladener Barockfrömmig-keit zu den radikalen Flurbereinigungen des Josephinismus fiihrt, so drängt sich unter den „ausländischen" Zeugen des Reformprozesses die päpsdiche Diplomatie nachgerade auf. Mit seiner Biographie des päpsdichen Nuntius in Wien (1776-1785), Giuseppe Garampi (1725-1792), hatte Dries Vanysacker aber — vom egoistisch österreichischen Standpunkt aus: bedau-erlicherweise - anderes im Sinn.

Einem Adelsgeschlecht aus Rimini entstammend, kam Garampi 1746 nach intellektuell geprägten Jugendjahren nach Rom, erhielt hier 1749 die Priesterweihe, wurde 1751 Präfekt des vatikanischen Archivs und machte sich rasch nicht nur als Historiker einen guten Namen, son-dern bewährte sich auch in den sechziger Jahren auf einigen diplomatischen Missionen. 1766 wurde er Sekretär der Cifra, 1772 Titular-Erzbischof von Beirut und Nuntius in Warschau (bis 1776), 1776 Bischof von Montefiascone-Corneto und Nuntius in Wien (bis 1785). Garampi starb als Kardinal (1785) und einflußreiches Mitglied verschiedener Kongregationen.

Auf mehr als 300 Seiten will die auf solider Quellenbasis gearbeitete Studie keine „politi-sche" Biographie Garampis bieten . . . und schon gar keine „Diplomatiegeschichte" der maria-theresianisch-josephinischen Epoche aus Sicht der Kurie. Über die Reaktionen des Hl. Stuhls und der päpstlichen Diplomatie auf die josephinischen Reformen vom Klostersturm über die Neugründung von Diözesen auf österreichischem Boden bis zum Toleranzpatent, über das Funktionieren der Nuntiatur im Rahmen des diplomatischen Korps am Kaiserhof und auch über den Papstbesuch in Österreich erfährt man daher leider recht wenig. Vanysacker interes-siert vielmehr die Rolle Garampis und seines europaweiten, selbst bis in die höchsten Wiener Kreise reichenden „ultramontanen Netzwerkes" in einem - so legt jedenfalls die Lektüre nahe -primär publizistisch abgeführten Kampf gegen Reformkatholizismus und Staatskirchentum. In weiten Passagen ist so aus einer Biographie des päpsdichen Diplomaten, dessen Persönlichkeit

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Rezensionen 517

und Charakter neben seinen wissenschaftlichen Interessen und seiner bibliophilen Sammeltä-tigkeit unterbelichtet bleiben, eigentlich eine Prosopographie der von Garampi tatkräftigst geförderten ultramontanen Publizistik der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts geworden.

Wien Michael Η o c h e d 1 i n g e r

Anna C o r e t h , Liebe ohne Maß. Geschichte der Herz-Jesu-Verehrung in Öster-reich im 18. Jahrhundert (Cor ad cor. Schriften im Dienst der Herz-Jesu-Verehrung. 4.) Sal terrae, Maria Roggendorf 1994. 245 S.

Die frühere Direktorin des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, deren Studie zur „pietas Au-striaca" als das Standardwerk der Frömmigkeitsgeschichte der barocken Eliten in Österreich gelten muß, hat sich in ihrem neuesten Buch einem speziellen Themenbereich der spätbarok-ken Andachts- und Verehrungsformen gewidmet, der insbesondere in Tirol - einem Land, dem die Autorin stark verbunden ist - weite Verbreitung fand. Das Buch vollzieht die Rezeption der mystischen Erfahrung der Sr. Margarete Maria Alacoque seit dem späten 17. Jahrhundert nach, deren Resultat die Verehrung des Herzens Jesu war. Dieser spezielle Kult wurde von Organisa-tionen und Einzelpersonen getragen und verarbeitet; Anna CoFeth hebt vor allem die Ursuli-nenldöster, die in Wien, Klagenfurt, Innsbruck und Salzburg entstanden, die Saiesianerinnen, aber auch Erzherzogin Elisabeth, eine Tochter Leopolds I. besonders hervor. Die Verehrungs-form faßte dann in den Wiener Bruderschaften Fuß und wurde durch verschiedene Schriften weit verbreitet, vor allem Predigten erwiesen sich als eine der wichtigsten Quellen für die Ver-breitung des Kultes im 18. Jahrhundert.

Der Widerstand dieser Gruppe gegen Jansenismus und Josephinismus fuhrt zu einer Aus-einandersetzung mit dem Staatskirchentum der Zeit, die etwa in der Aufhebung der Bruder-schaft des Götdichen Herzens Jesu Christi in Wien, welche die Autorin als Fallstudie nimmt, ihren Ausdruck findet. Nach 1765 kommt es zu einem neuen Aufbrechen des Kultes, der vor allem durch die Jesuiten in Tirol propagiert wird. Das Neuerwachen des Herz-Jesu-Kultes gip-felt schließlich im Gelöbnis des Landes Tirol an das Herz Jesu in den napoleonischen Kriegen 1796. Das Buch - dessen Ambivalenz als wissenschaftliches Werk, aber auch als Buch für jene Kreise der Kirche, die heute noch an diesen Frömmigkeitsformen hängen, deutlich wird - be-reichert unser Wissen um diese spezifische Verehrungsform erheblich und kann als wertvolle, punktuelle Ergänzung zur „pietas Austriaca"-Forschung der Autorin gelten.

Wien Kar lVoce lka

S l o v e n i j a na vojaikem zemljevidu 1763-1787. (Josephinische Landesaufnahme 1763-1787 für das Gebiet der Republik Slowenien.) 1. Band: Sekcije/Sectionen 2 2 1 -225, 230-239, 246-247 , 250, 60. Vodja projekta, toponomija kart, indeks, redakcija Vincenc R a j i p , transli teracija in prevod Majda F i c k o . Znanst venoraziskovalni center Slovenske akademije znanosti in umetnosti, Arhiv Republike Slovenije, Ljubljana 1995. - 2 Teile in Schuber: Textband (Opisi / Landesbeschreibung) XXXII, 345 S., Mappe (Karte/Karten. 19 lose Kartenblätter).

Die - als eine der Konsequenzen des Siebenjährigen Krieges - von Maria Theresia ange-ordnete Landesaufnahme des österreichischen Staates zählt zu den international herausra-gendsten kartographischen Leistungen des späten 18. Jahrhunderts. Innerhalb von nur 24 Jahren (1763-1787) wurde vom Generalquartiermeisterstab der überwiegende Teil der habsburgischen Erbländer kartiert - allerdings ausschließlich fiir den Militärgebrauch, so daß die nahezu 4700 Manuskript-Kartenblätter (hauptsächlich im Maßstab 1:28.800) einer

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518 Literaturberichte

strengen Geheimhaltung unterlagen und, von ganz vereinzelten regionalspezifischen Ausnah-men abgesehen, keinen Einfluß auf gedruckte Karten haben konnten. Bei dieser (später so genannten) „Josephinischen Landesaufnahme" handelt es sich um eine Quelle, der fiir eine Reihe von historischen Fragestellungen elementare Bedeutung zukommt, weshalb es nicht verwunderlich ist, daß sie zu den am meisten gefragten Beständen des österreichischen Staatsarchivs/Kriegsarchivs gehört. Die Kartenblätter der „eigentlichen" Josephinischen Lan-desaufnahme (d. h. ohne österreichische Niederlande und ohne Kanierungen nach 1787) decken eine Fläche von über 570.000 km2 ab und betreffen nicht weniger als elf heutige Staaten (davon vier zur Gänze oder nahezu vollständig: Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn und Slowenien).

Bislang sind zwar einzelne Aufnahmeblätter der Josephinischen Landesaufnahme ganz oder ausschnitthaft reproduziert worden, aber die Faksimilierung einer geschlossenen Serie von Blättern, die ein größeres Gebiet darstellen, war bis vor kurzem ein Wunschtraum. Umso bemerkens- und anerkennenswerter ist ein Projekt, das vor einigen Jahren vom Insti-tut fiir Geschichte des Wissenschaftlichen Forschungszentrums der Slowenischen Akademie der Wissenschaften zusammen mit dem Archiv der Republik Slowenien unter der Leitung von Vincenc Rajsp in Angriff genommen wurde: Zum einen die Faksimilierung jener mehr als 110 Kartensektionen der Josephinischen Landesaufnahme, die sich auf das Staatsgebiet der Republik Slowenien beziehen und dieses - mit Ausnahme des kleinen, bis 1797 zu Vene-dig gehörende Teiles in Istrien - flächendeckend wiedergeben; zum anderen die Edition der diese Kartenblätter ergänzenden handschriftlichen „Beschreibungen", in denen vor allem militärisch bedeutsame Fakten festgehalten sind, die auf den Karten selbst nicht oder nur andeutungsweise zum Ausdruck gebracht werden konnten (ζ. B. Aufzählung der „soliden Gebäude", Angaben zum Zustand der Verkehrswege, zur Wasserversorgung oder zur Wald-bedeckung).

Von diesem umfangreichen Unternehmen liegt (nach einem 1994 veröffentlichten Muster-band) nur der erste von sieben geplanten Bänden vor, der den südöstlichen Teil Sloweniens -u. a. mit den Städten Neustadd (Rudolfswert; Novo mesto) und Gottschee (Kocevje) abdeckt. Er besteht aus zwei Teilen: (a) Aus einer Mappe mit 18 in hervorragender Qualität faksimilier-ten mehrfarbigen Kartensektionen im Maßstab von 1:28.800 (17 von der Aufnahme Inner-österreichs [1784—87], eine von der Aufnahme des Karlstädter Generalats [1775-76]) und mit dem faksimilierten Übersichtsblatt zu allen 250 Sektionen der Josephinischen Landsaufnahme von Innerösterreich, (b) Aus einem zweisprachigen (slowenisch-deutschen) Textband, der - ne-ben einem von Erich Hillbrand verfaßten Beitrag zur Josephinischen Landesaufnahme und Er-läuterungen (u. a. zu den auf den Kartenblättern dargestellten Inhalten) - die Edition der oben genannten „Beschreibungen" zu den 18 Kartensektionen enthält; diese wird ergänzt durch Zu-sammenstellungen der auf den einzelnen Kartensektionen verzeichneten Toponyme (die An-merkungen leider nur in slowenischer Sprache) sowie durch ein umfangreiches alphabetisches Gesamtregister, das alle Varianten der in den Kartenblättern und den dazugehörigen „Beschrei-bungen" vorkommenden topographischen Bezeichnungen, einschließlich der heutigen slowe-nischen Namen, umfaßt.

Abschließend sollen zwei Wünsche zum Ausdruck gebracht werden: 1. daß die Republik Slowenien auch in den nächsten Jahren die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellt, damit die weiteren Bände der Darstellung Sloweniens in der Josephinischen Landesaufnahme in rascher Folge publiziert werden können; 2. daß dieses musterhafte und vorbildliche slowenische Unter-nehmen den Anstoß bilden möge, daß (endlich) auch andere Staaten, Länder oder Regionen mit der Faksimilierung und Edition „ihrer" Kartenblätter und Beschreibungen der Josephini-schen Landesaufnahme, die nicht nur für die Historische Landeskunde des späten 18. Jahrhun-derts eine einzigartige Quelle darstellen, beginnen.

Wien Johannes D ö r f l i n g e r

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Rezensionen 519

Robert H o f f m a n n , Erzherzog Franz Ferdinand und der Fortschritt. Altstadterhal-tung und bürgerlicher Modernisierungswille in Salzburg. Böhlau, Wien 1994. 132 S.

Der Gegensatz zwischen „modernem" Gestaltungswillen und „konservativer" Tendenz zur Erhaltung des Bestehenden prägte die Auseinandersetzung um Architektur und Stadtplanung in Salzburg in den letzten Jahrzehnten und dominiert die aktuelle Diskussion bis heute. So verhin-derte eine breite Bürgerbewegung in den siebziger Jahren die Schaffung eines zentralen Univer-sitätscampus auf den Wiesen von Freisaal und schuf damit gleichzeitig die Grundlage für die be-deutende Neudefinition der Funktion des Stadtkerns durch das als Alternative durchgesetzte Prin-zip der „Altstadtuniversität". Der Salzburger Historiker Robert Hoffmann verweist in seiner Studie über das denkmalpflegerische Wirken des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand und seine ei-gentümliche Beziehung zu Stadt und Land Salzburg auf einen früheren Konflikt, der ebenfalls zen-trale Fragen der Erhaltung und Umgestaltung von Stadt und Umgebung betraf. Während die Stadtgemeinde die Schaffung eines zweiten Mönchsbergtunnels betrieb, der in das historische Am-biente des Petersfriedhofs massi ν eingegriffen hätte, lehnte der Thronfolger als Protektor der Zen-tralkommission für Denkmalpflege dieses Projekt strikt ab und verhinderte es schließlich auch.

Hoffmann behandelt in seiner Studie zunächst die Beziehung Franz Ferdinands zum Kron-land Salzburg, in dem er seit dem Erwerb von Schloß und Jagdrevier Blühnbach im Jahr 1908 regelmäßig einen Teil des Jahres verbrachte, um seiner beinahe pathologischen Jagdleidenschaft und Schießwut nachzugehen. Die daraus entstehenden Konflikte mit der lokalen Bauernschaft sowie mit den alpinen Vereinen, die dem Plan einer vollständigen Isolierung des Tales entge-genstanden, stehen im Mittelpunkt des ersten Teils der Arbeit. Daran schließen sich Kapitel über Franz Ferdinands Rolle als Denkmalpfleger sowie die Auseinandersetzung um Moderni-sierung und Altstadterhaltung im lokalen Salzburger Konnex an. Auch hier zeigt sich, daß der Dogmatiker Franz Ferdinand ganz pragmatisch handelte, wenn denkmal- oder ortsbildschütze-rische Überlegungen seinen eigenen Wünschen entgegenliefen. So nahm er beim Umbau des Schlosses Blühnbach auf den ursprünglichen Renaissancebau keinerlei Rücksicht und verän-derte dessen Charakter vollständig. Anschließend daran verbindet Hoffmann diese beiden Stränge - Franz Ferdinands Beziehung zu Salzburg und seine denkmalpflegerischen Aktivitäten - in der Darstellung des bereits erwähnten Konflikts um den geplanten zweiten Möchsbergtun-nel. Die erfolgreiche Intervention des Thronfolgers zum Schutz des Stadtbildes wird dabei als Beispiel eines doppelten Konfliktes gesehen. Einerseits nahm Franz Ferdinand in der Auseinan-dersetzung zwischen Traditionalismus und Modernismus eindeutig Partei fur die Erhaltung des gewachsenen Kulturgutes. Andererseits manifestiert sich hier auch ein paradigmatischer Wan-del im Bereich des Denkmalschutzes. Maßgeblich wurde verstärkt die Ortsbildpflege, die Er-haltung größerer historischer Einheiten, während sich die ältere Generation von Konservatoren auf den Schutz prominenter Einzelobjekte konzentriert hatte.

Ergänzt wird die Arbeit, deren Ziel es in den Worten des Autors ist, Franz Ferdinands Ver-dienste um den österreichischen Denkmalschutz im allgemeinen und um die Erhaltung der Salzburger Altstadt im besonderen darzustellen, durch einen Bildteil, der anhand von Plänen und historischen Photos die geplanten und tatsächlichen Veränderungen am Stadtbild Salz-burgs zusätzlich verdeutlicht und anschaulich macht.

Salzburg Franz A d l g a s s e r

Mart in K u g l e r , Die frühe Diagnose des Nationalsozialismus. Chrisdich motivier-ter Widerstand in der österreichischen Publizistik. (Europ. Hochschulschriften Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. 670. ) Frankfurt am Main 1995. 220 S.

Der Untertitel des Werkes scheint in doppelter Hinsicht gerechtfertigt: Zunächst war „Widerstand gegen den Nationalsozialismus" in Österreich vor 1938 der kleinste gemeinsame Nenner aller offiziell in der Vaterländischen Front zusammengefaßten oder dieser nahestehen-

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520 Literaturberichte

den Gruppierungen des ehemaligen chrisdichsozialen Lagers im weitesten Sinn; bei der vorlie-genden Arbeit handelt es sich jedoch schon auf Grund der zeitlichen Begrenzung (ein Großteil widmet sich der Publizistik vor 1933) nicht um eine Analyse offizieller Selbstdarstellung des Ständestaates, sondern von sich parallel hiezu entwickelnden Denkrichtungen, wobei es besten-falls zwischen 1933 und 1936 zu Überlappungen in der Hauptargumentationslinie kommt.

Kugler gliedert seine Arbeit in zwei Abschnitte, wobei er bei der Darstellung und Analyse von Leben und Werk des Franziskaners Cyrill Fischer (im ersten Abschnitt) Neuland betritt: Fischer, dem 1938 die Emigration in die USA gelang, starb unmittelbar nach Kriegsende in einem Kloster in Santa Barbara. Sein literarischer Nachlaß, dem dort keine Bedeutung beige-messen wurde, verkam in den Folgejahren. Fischer hatte in den zwanziger Jahren durch einige kritische Veröffendichungen über die Sozialdemokratie auf sich aufmerksam gemacht und wurde bereits um 1930 vom Wiener Erzbischof, Kardinal Piffl, mit der Analyse des National-sozialismus betraut. Seine beiden Hauptwerke, die aus dieser neuen Aufgabe resultierten, „Die Hakenkreuzler" und „Die Nazisozi" (beide 1932), zählen zu den tierschürfendsten Frühwerken chrisdichsozialer Kritik an Hitlers Bewegung und vor allem: Ideologie.

Fischer teilt die NSDAP in vier teils divergierende geistige Gruppen: 1. die bayerische Ur-gruppe um Hider („wildgewordene Kleinbürger"), 2. die „faschistische" Gruppe um Goebbels mit dem Ziel einer „Diktatur der Werktätigen" ä la Mussolini, 3. die Gruppe des nationalen Sozialismus um Otto Strasser (eine „rein sozialistische Klassenkampfpartei") und 4. Luden-dorffs Tannenbergbund. - Letzterer hatte damals bereits mit den Nationalsozialisten nichts mehr zu tun - allerdings war die Dauerhaftigkeit der Trennung keineswegs evident - , vom spä-teren Schicksal der Strasser-Gruppe konnte man 1932 noch nichts ahnen. Auf jeden Fall er-kannte Fischer somit bereits Hitlers in dessen Nachkriegsbiographien immer wieder erwähnte Taktik, die eigene Macht durch die Schaffung rivalisierender Gruppen zu stärken. In diesem Zusammenhang verweist der Pater besonders auf Hiders Wiener Jahre, die für die strategische Entwicklung des Parteiführers von besonderer Relevanz gewesen seien.

Obwohl sich Hitler gerade während der frühen dreißiger Jahre etwas gemäßigter gab, scheint für Fischer die absolute Unvereinbarkeit von Religion und Nationalsozialismus evident; wirklich neu ist hiebei die Ableitung dieser Divergenz von der nationalsozialistischen, nicht etwa primär von der katholischen Weltanschauung her: „Es ist wohl selbstverständlich, daß diese Religion des Blutes den Kampf gegen alle anderen Religionen aufnehmen muß." Ebenso wird der Antisemitismus des Nationalsozialismus in seiner Radikalität herausgearbeitet, wobei Fischer von einer Position persönlicher Annäherung an den mosaischen Glauben ausgeht, die fiir einen katholischen Priester zweifellos einen Grenzwert darstellten mußte: In einem Vortrag vor dem „Ring der Alt-Herren-Verbände der zionistischen Verbindungen" im Dezember 1934 distanziert sich der Franziskaner, der schon an anderer Stelle die „zionistische Aufbauarbeit in Palästina" gewürdigt hatte, implizit von der Missionstätigkeit des Pauluswerkes, räumt dem Ju-dentum aus katholischer Sicht eine Vorrangstellung vor anderen Religionen ein und unter-scheidet zwischen gläubigen (die er positiv bewertet) und „gottentfremdeten" Juden.

Ein eigenes Kapitel widmet Fischer dem NS-Frauenbild. Hitlers Deutschland wird von ihm als „Männerreich" bezeichnet. Hiebei stützt er sich auf einschlägige Passagen nationalso-zialistischer Ideologen wie Rosenbergs Bekenntnis zur Vielweiberei oder Darr^s Forderung nach „Zuchtwarten". Der Autor des vorliegenden Werkes fäßt zusammen: „Fischer bedauert, daß der Widerstand der .deutschen Frauenwelt nicht entschiedener' sei und bezeichnet es als nationalsozialistische Errungenschaft, die deutsche Frau zum heidnisch aufgefaßten Weibchen heruntergedrückt zu haben'."

Nach einem kurzen Vergleich mit dem populäreren, aber später erschienenen „Nazispiegel" von Alfred Missong weist Kugler auf die große Leistung Cyrill Fischers zum gegebenen frühen Zeitpunkt hin, aus dem Wust halboffiziöser Rassenpamphlete gerade jene nationalsozialisti-schen Ideologen herausgefiltert zu haben, die Hilter tatsächlich ernst nahm.

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Rezensionen 521

Den zweiten Schwerpunkt, und etwas davon abgehoben, bildet Dietrich von Hildebrand und der „Christliche Ständestaat". Hier haben wir es wohl einerseits mit der pointiertesten zeit-genössischen Kritik am NS-Regime zu tun, die an Schärfe den Glossen eines Karl Kraus um nichts nachsteht, andererseits aber auch mit der kompromißlosesten Variante katholischer Pu-blizistik: „Lenin und Hitler haben wirklich der menschlichen Person den Platz im Kosmos zu-gewiesen, der jenem jämmerlichen Gebilde gebührt, zu dem die Liberalen die Menschen mach-ten", folgerte Hildebrand, und kurz darauf: „Aber die liberale Epoche war nur besser, weil sie inkonsequent war."

Dietrich von Hildebrand stammte aus liberaler, deutscher, protestantischer Künsderfamilie und wurde in Florenz geboren. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verbrachte er zunächst an der Universität München, wo sich bald ein konservativer Kreis um ihn scharte - so die späteren Bi-schöfe von Berlin und Hildesheim, die königlich bayerische Familie und Erzherzogin Maria Josepha, die Mutter Kaiser Karls. Es stellt eine Ironie der Geschichte dar, daß der spätere Her-ausgeber der Zeitschrift „Der chrisdiche Ständestaat" als Kritiker der Ideen Othmar Spanns auf-fiel. Bereits beim „Marsch auf die Feldherrnhalle" floh Hildebrand kurzfristig vor den National-sozialisten aus der bayerischen Hauptstadt, zehn Jahre später mußte er aus dem gleichen Grund Deutschland verlassen: Im Frühjahr 1933 in Florenz fäßte er bald den Plan, eine antinational-sozialistische Zeitschrift zu gründen. In dieser Angelegenheit sicherte er sich die persönliche Un-terstützung von Engelbert Dollfiiß, der allerdings gegen seinen Willen den Namen „Der christ-liche Ständestaat" durchsetzte. Ein Hauptziel des neuen Publikationsorgans war es, der Zeitschrift „Schönere Zukunft", die sich immer mehr als Werkzeug des Appeasements in Richtung Natio-nalsozialisten erwies, die Intellektuellen abzuwerben. Dies gelang zunächst, doch verlor „Der chrisdiche Ständestaat" mit dem durch das Juliabkommen von 1936 bedingten Kurswechsel schrittweise die Gunst (und die finanzielle Unterstützung) der österreichischen Bundesregierung.

Kugler unterzieht diese Zeitschrift nun einem interessanten Vergleich mit anderen Blättern ähnlicher Ausrichtung und analysiert anschließend einzelne, stets wiederkehrende Positionen des „Chrisdichen Ständestaates", die er, hinsichdich ihrer Kritik am Nationalsozialismus, in folgende Hauptgruppen zusammenfaßt: 1. philosophische Kritik; 2. lotalicarismuskritik; 3. religiös motivierte Ablehnung; 4. Anti-Rassismus; 5. taktische Argumentation. Schließlich finden sich noch Beiträge häufig publizierender Autoren gewürdigt, wie jene von Alfred Missong (der allerdings unter verschiedenen Namen und gleichzeitig in der weltanschaulich konkurrierenden „Schöneren Zukunft" schrieb), Otto Maria Karpfen, Joseph Roth (er ver-öffendichte zehn Mal im „Chrisdichen Ständestaat") und Balduin Schwarz.

Kugler hat mit dieser Arbeit einen analytischen Beitrag ersten Ranges geleistet und die österreichische chrisdiche Publizistik der dreißiger Jahre vom Geruch der alpenländischen Wirtsstube befreit. Archive wurden keine benutzt, weil es keine zu benutzen gab. Dennoch wird die intensive Quellenforschung, die gerade das Wirken von Cyrill Fischer vor absoluter Vergessenheit bewahrt, dem Werk seinen Stellenwert in der Geschichte des Journalismus, des Widerstandes und des politischen Katholizismus sichern, dem auch der - bei einer weiteren Auflage leicht behebbare - Mangel eines Registers keinen Abbruch tun kann.

Wien Robert R i l l

Hans-Jürgen D ö s eher , Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität. Akademie, Berlin 1995. 405 S., m. Abb.

An den Beginn dieser Besprechung möchte ich eine Korrektur zu meiner Rezension des Werkes von Rudolf Jungnickel „Kabale am Rhein" in den MIÖG 103 (1995) 204 vornehmen, auf die mich der Autor dankenswerterweise aufmerksam gemacht hat. Selbstverständlich sollte es in den beiden letzten Zeilen von unten heißen „Der p r o t e s t a n t i s c h e Kindt-Kiefer und

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522 Literaturberichte

d e r k a t h o l i s c h e Wirth . . . " und nicht umgekehrt. Die Vertauschung ist leider bei der Über-tragung des handschriftlichen Manuskriptes in die Maschine passiert.

Die Kontinuität ist in der Geschichtsschreibung eine öfter behandelte Thematik, ob es sich zum Beispiel um den Übergang vom Altertum zum Mittelalter oder die sogenannte Kontinui-tätsfrage in der rumänischen Geschichte handelt. Was speziell das Dritte Reich anbelangt, so gibt es sie nicht nur bei der Kirche, wo die dem System zuneigenden Pfarrer oder Priester einfach entnazifiziert wurden, sondern auch in der Justiz. Hier war ja die Kontinuität besonders kraß, indem nicht nur ein Großteil der in der NS-Zeit tätigen Richter weiter amtierte, sondern sogar Mitglieder des berüchtigten Volksgerichtshofes in Amt und Würden blieben, ja mitunter auch Karriere machten. Man ist sich ja nicht einmal darüber im klaren, ob der Präsident Roland Freis-ler an einer weiteren Tätigkeit hätte gehindert werden können. Dies sollte man sich vor Augen halten, wenn man die Untersuchung Döschers liest. Allerdings kommt hier im Gegensatz zu den vorher angeführten Bereichen dazu, daß nicht das Innere Deutschlands so sehr davon be-troffen war, sondern ein sehr sensibler Bereich, nämlich die Wiederherstellung guter Beziehun-gen zu den ehemaligen Gegnern. Es hatten auch die mit der Neugestaltung der Außenpolitik respektive des Außenamtes befaßten Personen, angefangen von Bundeskanzler Konrad Ade-nauer, erkannt und formuliert, daß dieser Neubeginn möglichst ohne die Wiederverwendung von Diplomaten des Dritten Reiches vorzunehmen sei. Freilich gab es da gleich ein kleines Hin-tertürchen, indem es auch hieß, gegebenenfalls würde man auf die Erfährungen dieser Personen eben nicht verzichten können. Aber es war vielleicht nicht einmal dieser Passus, der die Rück-kehr eines Großteils der alten Garde bewirkte, sondern eine Verkettung von unglücklichen Um-ständen. So zum Beispiel hatte der die Abteilung I (Organisation, Verwaltung, Personal) lei-tende Wilhelm Haas, der 1922 in den Auswärtigen Dienst eingetreten und 1937 wegen seiner Ehe mit einer Frau jüdischer Herkunft in den dauernden Ruhestand versetzt worden war, kaum Kenntnis über die personellen und politischen Interna des Auswärtigen Amtes in der Ära Rib-bentrop, von der Massenflucht in die SS seit etwa 1937 und die Verstrickungen mancher Di-plomaten in die Verbrechen des Regimes wärend des Zweiten Weltkrieges. Haas war nämlich von 1938 bis 1945 als Wirtschaftsberater der I.G.-Farbenindustrie in China tätig gewesen. Dies führte dazu, daß die von ihm eingesetzten Untergebenen Personen gewesen sind, die in der Zeit des Dritten Reiches im Zuge ihrer Tätigkeit im Auswärtigen Amte mit der Partei verquickt wa-ren. Und so setzte sich die Linie weiter nach unten fort. Beim Protokollchef, dem Ministerial-dirigenten Hans Herwarth von Bittenfeld, war es wieder so, daß er, seit 1927 im Auswärtigen Dienste tätig, sich auf Grund eines jüdischen Großelternteiles nur mit Unterstützung ihm gut gesinnter Vorgesetzter im Amte halten konnte, dann wegen keiner weiteren Laufbahnmöglich-keit zur Wehrmacht ging, wo er wieder dank ihn unterstützender Persönlichkeiten eine gewisse Karriere machen konnte. Er scheint aber nach den Recherchen Döschers auch weiterhin dem Auswärtigen Amte angehört zu haben, eine endgültige Entscheidung über seine Verwendung sollte durch Hitler selbst nach Kriegsende getroffen werden, angeblich soll er sogar zum Ehren-arier ernannt worden sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg glückte es von Bittenfeld, auf Grund persönlicher Beziehungen zu amerikanischen Diplomaten und Offizieren bei US-Militärbehör-den als dienstverpflichteter Mitarbeiter unterzukommen. Schließlich gelangte er durch alte Be-ziehungen in die Münchener Staatskanzlei (zuletzt Ministerialrat), Anfang September 1949 wechselte er dann als erster Protokollchef nach Bonn. In der Folge förderte er nun nach eigenen Aussagen jenen Personenkreis, der in den Jahren 1933 bis 1945 aus dem Auswärtigen Amt fiir ihn eingetreten war. Herwarth von Bittenfeld unterstützte diesen Kollegenkreis in den Entna-zifizierungsverfahren und beim Wiedereintritt in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland, die meisten seiner Protegds beendeten ihre Karrieren als Botschafter.

Parallelen mit ähnlichen Fällen drängen sich auf, wenn man in Döschers Werk die wieder-holten Versuche vorgeführt bekommt, in der öffendichkeit auf die staike Durchsetzung des neuen Auswärtigen Amtes mit ehemaligen Parteigängern des NS-Regimes hinzuweisen. Selbst

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Rezensionen 523

auf die detailliert ausgewiesenen Fakten durch Michael Mansfeld in der Frankfurter Rundschau („Ihr naht euch wieder . . . " ) gab es weder seitens des Amtes noch durch Kanzler Adenauer eine angemessene Reaktion. Erst auf weiteren öffentlichen und internationalen Druck hin kam es zur Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, dessen Votum Kanzler Adenauer, wie er in der Bundestagsdebatte vom 22. Oktober 1952 zu erkennen gab, nicht ge-willt war zu folgen. Dieses Votum hatte darin bestanden, daß nur fünf von einundzwanzig überprüften Diplomaten die uneingeschränkte Eignung für den Auswärtigen Dienst attestiert wurde. Döscher bringt in seinem Werk in den Kapiteln vier bis sechs umfangreiches Material zu diesem Bereich einschließlich der Debatte im Bundestag. Das Ergebnis der ganzen Angele-genheit war schließlich ein unverständliches. Die angegriffenen Diplomaten wurden rehabili-tiert, sogar der in die Judendeportationen in Belgien verwickelte Gesandte Werner von Bargen. Man muß hier doch festhalten, daß wohl die in mancher Hinsicht sehr eigenartige Persönlich-keit Konrad Adenauers hinter dieser Entwicklung stand, duldete er doch auch einen Staatsse-kretär Hans Globke, der einstens an der Kommentierung der Nürnberger Rassegesetze mitge-wirkt hatte, und reiste zudem 1955 mit einem Manne als Dolmetscher nach Moskau, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auf der Seite der sogenannten Weißgardisten gegen die Rote Armee gekämpft und im Dritten Reich in offiziellen Funktionen gewirkt hatte, nämlich dem Osteuropahistoriker Hans Koch. Die Russen haben offenbar keinen Anstoß daran genommen, die Kriegsgefangenen kamen frei. In Döschers Werk ist auch zu lesen, daß beim Einsatz alter Angehöriger des Auswärtigen Amtes in Westeuropa deren nationalsozialistische Vergangenheit den Partnern entweder nicht bekannt war oder von ihnen ignoriert wurde. Das ist natürlich auch ein merkwürdiges Faktum. Persönlichkeiten, die nicht aus dem diplomatischen circle ka-men, wie der bis 1955 die Vertretung in Paris wahrnehmende Kunsthistoriker Wilhelm Hau-senstein, waren von ihren ausländischen Kollegen geachtet, aus den eigenen Reihen wurden ihnen dagegen nur Schwierigkeiten gemacht, Mißtrauen dokumentiert und Aufpasser zur Seite gestellt.

Döscher stellt in seiner Zusammenfassung fest, daß sich die Hypothese von einer komplet-ten Restaurierung des Ribbentropschen Amtes in Bonn gemäß seinen umfassenden Untersu-chungen nicht bestätige, Diplomaten aus dem engsten Umfeld v. Ribbentrops und solche mit früherer Bindung an die SS, die im Gefolge Ribbentrops oder auf Empfehlung Himmlers zwi-schen 1938 und 1941 ins Auswärtige Amt gelangt waren, seien in der Regel nicht Übernommen worden. Für Laufbahnbeamte, die bereits vor 1938 dem Auswärtigen Dienst angehört hatten, hätte dies nicht zugetroffen. Bei den später erfolgten Angriffen operierte man auch immer wie-der damit, daß eine Reihe dieser Beamten schon vor 1933 dem Amte angehört hätte und spä-ter der N S D A P eben beitreten mußte. In mehreren Fällen wurde auch nach dem Kriege ein nicht positiv erledigter Antrag auf Eintritt in die N S D A P als Beweis fiir einen Widerstand ge-gen das Regime angeführt. So gibt es wie immer bei der Beurteilung des Verhaltens von Men-schen im Dritten Reich eine Vielzahl von Facetten und andererseits kann man sich auch wieder vorstellen, daß bedingt durch den Aderlaß des Zweiten Weltkrieges an Männern gar nicht so viele seriöse Anwärter auf diplomatische Posten verfugbar waren. Die Diplomaten hatten dage-gen fast alle überlebt und drängten zu weiterer Verwendung, gehörten zu einem geschlossenen Personenkreis. Einen guten Einblick in die Verhältnisse gibt Döscher in seinem achten Kapitel „Der Auswärtige Dienst von Adenauer bis Brandt", wo es um den seit 1927 der S P D angehö-renden Kurt Oppler geht, der als Außenseiter im Auswärtigen Amte selbst unter einem Bundes-kanzler Willy Brandt schlecht behandelt wurde.

Insgesamt handelt es sich hier um ein gewiß interessantes, gut recherchiertes und geschrie-benes Werk, das wichtige Aufschlüsse zur Nachkriegsgeschichte Deutschlands und seines Kanz-lers bietet. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register komplettie-ren die Darstellung.

Wien Manfred S t ο y

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