Maßtheorie - Mathematisches Seminar · WS10/11 Maßtheorie Lemma 2 Ein Dynkinsystem Dist genau...

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Maßtheorie Vorlesungsmitschrift Kiel WS2008/09 Professor Dr.Uwe R¨ osler 20. Dezember 2016

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Maßtheorie

VorlesungsmitschriftKiel WS2008/09

Professor Dr.Uwe Rosler

20. Dezember 2016

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Kapitel 1

Objekte und Morphismen

Wir beschreiben im folgenden die hier behandelten Objekte, die Maßraume, und ihre Mor-phismen (strukturerhaltende Abbildungen), die meßbaren Abbildungen.

1.1 Mengensysteme

Sei Ω stets eine nichtleere Menge. Ein Mengensystem A ist eine Teilmenge der PotenzmengeP(Ω). Ein Mengensystem heißt abgeschlossen unter einer Mengenoperation (P(Ω))I → P (Ω)oder stabil , falls diese Operation angewandt auf Mengen aus A wieder ein Element aus Aliefert. Beispiele fur Mengenoperationen sind:

- (endliche, abzahlbare, beliebige) Vereinigung⋃

e,⋃

a,⋃,

- (endliche, abzahlbare, beliebige) Durchschnitte⋂

e,⋂

a,⋂,

- Vereinigung paarweiser disjunkter Mengen⋃ ,

- Komplementbildung Ac = ω ∈ Ω | ω 6∈ A,- Differenz A\B = A ∩Bc,

- symmetrische Differenz AB = (A\B) ∪ (B\A),- aufsteigender (absteigender) Limes,

- Limes superior lim supn∈IN An :=⋂

m∈IN⋃

n≥mAn = ω | |n | ω ∈ An| =∞,- der Limes inferior lim infn∈IN An :=

m∈IN⋂

n≥mAn = ω | |n | ω 6∈ An| <∞- der Limes falls lim sup = lim inf usw..

- Obermengen (A ∈ A, A ⊂ B ⇒ B ∈ A)Besonders wichtige Mengensysteme sind Topologien und σ-Algebren. Eine Topologie ist

ein Mengensystem, welches die Grundmenge enthalt und abgeschlossen ist bezuglich beliebigerVereinigung und endlichem Durchschnitt.Not: (Ω, τ) fur einen topologischen Raum.

Eine Menge heißt offen, genau dann wenn sie Element der Topologie ist. Das Komplementeiner offenen Menge heißt abgeschlossen. Topologien sind grundlegend fur Konvergenzen.(Alle) Konvergenzbegriffe beruhen auf Topologien (siehe Pedersen [9]). (Ω ∋ xn →n→∞ x ∈Ω ⇔ ∀U ∈ τ, x ∈ U∃n0 ∈ IN ∀n ≥ n0 : xn ∈ U .) Die Morphismen (=strukturerhaltendenAbbildungen) sind die stetigen Funktionen (f : (Ω, τ) → (Ω′, τ ′) stetig ⇔ ∀x ∈ Ω ∀V ′ ∈τ ′, f(x) ∈ V ′ ∃U ∈ τ, x ∈ U : f(U) ⊂ V ).

Eine σ-Algebra A ist ein nichtleeres Mengensystem abgeschlossen bezuglich Komplement-bildung und abzahlbarer Vereinigung. Eine Menge heist mesbar, genau dann wenn sie Ele-ment der σ-Algebra ist. Die Morphismen sind die mesbaren Funktionen bzw. Zufallsgrosen

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(f : (Ω,A)→ (Ω′,A′) meßbar ⇔ ∀A′ ∈ A′ : f−1(A′) ∈ A).Not: (Ω,A) ist ein mesbarer Raum.

σ-Algebren sind grundlegend fur die Mastheorie und die Wahrscheinlichkeitstheorie. Wei-tere Beispiele sind Filter . Ein Filter ist ein nichtleeres Mengensystem ungleich der Potenz-menge, welches abgeschlossen ist bzgl. endlichem Durchschnitt und Obermengen.

In diesem Skript erscheinen weiterhin Algebren und Ringe . Eine Algebra ist ein nichtleeres Mengensysteme, welches abgeschlossen ist bzgl. Komplement und endlicher Vereinigung.Ein Ring ist ein Mengensystem mit der leeren Menge und abgeschlossen bzgl. endlichemDurchschnitt und der symmetrischen Differenz.

Bemerkung: Die Namensgebung Ring, siehe Elstrodt, stammt von dem algebraischenRing der Funktionen 11A, A aus dem Mengenring, uber dem binaren Korper, versehen mitder Addition 11A + 11B := 11AB und der Multiplikation 11A11B := 11A∩B.

Der Zusatz σ deutet auf etwas abzahlbares hin, vgl. Algebra und σ-Algebra.Erzeuger: Mengensysteme A werden oft nicht explizit angegeben, sondern als kleinstes

Mengensystem charakterisiert, welches ein Mengensystem E enthalt und abgeschlossen istbzgl. gewisser Mengenoperationen. Dieses kleinste Mengensystem A, wenn es existiert, ist derDurchschnitt aller Mengensysteme, abgeschlossen bzgl. der Operationen und E enthaltend.Das Mengensystem E heist Erzeuger von A (bzgl. den Operationen ...) und A heist das vonE erzeugte Mengensystem.

Beispiele: Die Borelsche σ-Algebra fur einen topologischen Raum (Ω, τ) ist die kleinstevon der Topologie erzeugten σ-Algebra. Die ubliche Topologie auf den reellen Zahlen wirderzeugt von allen offenen Intervallen.

1.1.1 σ-Algebren

Eine σ-Algebra A ist ein nichtleeres Mengensystem abgeschlossen bezuglich Komplementbil-dung und abzahlbarer Vereinigung. Ausfuhrlicher: A ⊂ P(Ω) erfullt

i) A 6= ∅ii) A ∈ A ⇒ Ac ∈ Aiii) An ∈ A, n ∈ IN ⇒ ⋃

nAn ∈ A.Ein mesbarer Raum ist ein Tupel (Ω,A). Hierbei ist Ω eine nichtleere Menge und A eine

σ-Algebra daruber. Eine mesbare Menge ist ein Element der σ-Algebra.

Proposition 1 Jede σ-Algebra enthalt die leere Menge und die Grundmenge Ω. Sie ist ab-geschlossen bzgl. endlicher und abzahlbarer Vereinigung, endlichem und abzahlbarem Durch-schnitt, Differenz, symmetrischer Differenz, aufsteigenden oder absteigenden Folgen, Limessuperior und dem Limes inferior.

Beweis: Ist A aus der σ-Algebra, so auch das Komplement Ac. Die Vereinigung uber allerGlieder der Folge A,Ac, Ac, Ac . . . ist in A. Damit ist die Grundmenge Ω in der σ-Algebra.

Die leere Menge ist das Komplement der Grundmenge Ω.Jede endliche Folge last sich zu einer abzahlbaren Folge erweitern durch hinzunehmen der

leeren Menge. Daher ist A abgeschlossen bzgl. endlicher Vereinigung.Fur den Durchschnitt argumentiere (

⋂An)

c =⋃Ac

n ist mesbar. Der Rest ist Ubung. q.e.d.

Fur E ∈ P(Ω) sei σ(E) die kleinste σ-Algebra, die E enthalt. Formaler ausgedruckt:

σ(E) :=⋂

E⊂A σ−AlgebraA.

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(Ubung: Dies ist die kleinste E enthaltende σ-Algebra.) Ein Erzeuger E einer σ−Algebra A istein Mengensystem mit σ(E) = A. Der Operator σ hat u.a. die Eigenschaften σ(σ(E)) = σ(E)und E ⊂ E ′ ⇒ σ(E) ⊂ σ(E ′).

Beispiele: – Die kleinste σ-Algebra ist stets ∅,Ω, die nachst grosere ist ∅, A,Ac,Ωfur ein A 6= ∅,Ω. (Ubung: Nachstgrosere?)

– Die Potenzmenge P(Ω) ist die groste σ-Algebra.– Die Menge A ⊂ Ω | A oder Ac abzahlbar ist eine σ-Algebra.– Sei A eine σ-Algebra und B eine beliebige Menge aus Ω. Die eingeschrankte σ-Algebra

ist A|B := A ∩B | A ∈ A.– Die Borel σ-Algebra B = σ(τ) wird von einer Topologie τ auf Ω erzeugt. Die Baire

σ-Algebra wird erzeugt von der kleinsten Topologie, so das alle stetigen Funktionen (bzgl. τ)mit kompaktem Trager stetig sind.

Spezialisierung auf IR : Der euklidische Abstand definiert eine Metrik auf den reellenZahlen. Die offenen Kugeln bezuglich dieser Metrik sind die offenen Intervalle ]a, b[, a, b ∈ IR.Diese erzeugen die (metrische) Topologie auf den reellen Zahlen. Jede offene Menge in IR istdarstellbar als Vereinigung abzahlbar vieler offener Intervalle. Daher wird die Borel σ-Algebraauch von allen offenen Intervallen erzeugt.

Andere Erzeuger fur die Borel σ-Algebra B auf IR sind die Topologie selber, das Men-gensystem aller kompakten Mengen, die Mengensysteme E[,] := [a, b] | a, b ∈ IR aller abge-schlossenen Intervalle oder analog E],],E[,[ aller halboffenen Intervalle. Es reicht hier a, b auseiner dichten Teilmenge von IR, z.B. Ql, zu fordern. Ebenso reichen einseitige Intervalle, dennes kann stets a = −∞ oder auch b =∞ gesetzt werden.

Stellvertretend zeigen wir nur die Richtung σ(E],[) ⊂ σ(E[,[). Es reicht zu zeigen ]a, b[∈σ(E[,]) fur jedes a, b. Dies folgt aus E[,] ∋ ∪n[a+ 1/n, b[=]a, b[.

Die Borel σ-Algebra auf den reellen Zahlen wird erzeugt von allen Kompakta.

Diverses: – Eine σ−Algebra A heist separierend, falls es fur alle ω 6= ω′ eine mesbareMengen A ∈ A gibt mit ω ∈ A und ω′ 6∈ A. Durch Aquivalenzklassenbildung auf dem Grund-raum Ω konnen wir eine σ-Algebra uberfuhren in eine separierende σ-Algebra. Betrachte aufdem Grundraum Ω die Aquivalenzrelation ω ∼ ω′ ⇔6 ∃A ∈ A : ω ∈ A,ω′ 6∈ A. Seien [ω] dieAquivalenzklassen. Dann ist A/∼:= [a] | a ∈ A | A ∈ A) eine separierende σ−Algebrabezuglich Ω/∼:= [ω] | ω ∈ Ω.

– Ein Atom einer σ−Algebra ist eine mesbare Menge, die nicht in echt kleinere meßbareMengen zerlegt werden kann. (∀ B ∈ A, B ⊂ A⇒ B = ∅ ∨B = A)

Im Regelfall sind die Atome genau die Punktmengen ω. Jede separierende σ−Algebrauber einem abzahlbaren Grundraum ist die Potenzmenge. Die Atome sind die einelementigenMengen ω.

1.1.2 Nachweis einer σ-Algebra

Zum Nachweis eines Mengensystems als σ-Algebra sind zwei Methoden wichtig, uber Dyn-kinsysteme und uber monotone Klassen.

Dynkinsystem: Ein Dynkinsystem D ist ein nicht leeres Mengensystem abgeschlossenbzgl. der Differenz aufsteigender Mengen und bzgl. der abzahlbaren Vereinigung paarweisedisjunkter Mengen. (Ausfuhrlicher: ∅ 6= D ⊂ P(Ω) erfullt

i) D ∋ A ⊂ B ∈ D ⇒ B\A ∈ Dii) An ∈ D, n ∈ IN, paarweise disjunkt ⇒ ⋃ nAn ∈ D.

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Lemma 2 Ein Dynkinsystem D ist genau dann eine σ-Algebra, wenn D den Grundraum Ωenthalt und bzgl. endlichem Durchschnitt abgeschlossen ist.

Beweis: Jede σ-Algebra ist ein Dynkinsystem, welches abgeschlossen ist bzgl. endlichemDurchschnitt. Fur die Umkehrung sind die drei Eigenschaften einer σ-Algebra zu zeigen. Furdie dritte argumentiere: Zu Dn ∈ D definiere Bn := Dn\∪i<nDi. Diese Mengen sind paarweisedisjunkt und erfullen Bn = Dn ∩ ∩i<nD

ci ∈ D und

⋃ n≤NBn =⋃

n≤N Dn fur N ∈ IN⋃∞.

Hieraus folgt⋃

n∈IN Dn ∈ D. q.e.d.BezeichneD(E) das kleinste von E erzeugte Dynkinsystem. (Formaler:D(E) := ⋂

E⊂B Dynkinsystem Btut’s.) Ein Erzeuger eines Dynkinsystems D ist ein Mengensystem E mit D(E) = D.

Lemma 3 Ein Dynkinsystem mit Ω ist genau dann eine σ-Algebra, wenn es einen Erzeugerabgeschlossen bzgl. endlichem Durchschnitt besitzt.

Beweis: Ist das Dynkinsystem D eine σ-Algebra, so ist D selbst ein Erzeuger und abgeschlossenbzgl. endlichem Durchschnitt. Fur die Umkehrung betrachte DA := B ∈ D | A∩B ∈ D mitA ∈ D.Dies ist ein Dynkinsystem (Ubung). Fur jedes Element E aus dem durchschnittstabilenErzeuger E von D enthalt DE den Erzeuger E . Damit gilt E ⊂ DE ⊂ D und wegen derSandwichposition D(E) = DE = D.

Als direkte Folgerung enthalt jedes DA, A ∈ D den Erzeuger E und die Sandwichpositionimpliziert gilt D(E) = DA = D.

Damit ist D durchschnittstabil und nach Lemma 2 eine σ-Algebra. q.e.d.

Monotone Klasse: Eine monotone Klasse ist ein Mengensystem abgeschlossen bzgl.aufsteigenden und absteigenden Folgen. Sei M(E) die von E erzeugte kleinste monotoneKlasse. Hierbei istM(E) die kleinste monotone Klasse welche E enthalt. (Formaler:M(E) :=⋂

E⊂B monotone Klasse B.)Eine Algebra ist ein Mengensystem welches Ω enthalt und abgeschlossen ist bzgl. Kom-

plement und endlicher Vereinigung.

Lemma 4 Eine monotone Klasse erzeugt von einer Algebra ist eine σ-Algebra.

Beweis: Sei A die Algebra undM =M(A) die erzeugte monotone Klasse.• M ist komplementabgeschlossen.Das Mengensystem A ∈M | Ac ∈M ist eine monotone Klasse und enthalt die Algebra

A (Ubung). Damit ist das Mengensystem bereitsM selbst.• M ist eine Algebra.Wir haben nur die endliche Durchsschnittsabgeschlossenheit zu zeigen. Fur A ∈ M be-

trachteMA := B ∈M | A ∪B ∈M.

Dies ist eine monotone Klasse. Fur A aus der Algebra enthaltMA das Erzeugersystem A undist damitM selber (Sandwichposition). Die Menge A ∈ M | MA =M ist eine monotoneKlasse und enthalt die Algebra. Damit ist diesM selbst.• Eine Algebra, die auch eine monotone Klasse ist, ist eine σ-Algebra.Nur die Abgeschlossenheit gegenuber abzahlbarer Vereinigung ist zu zeigen. Sei An eine

Folge aus der Algebra. Die Folge ∪i≤nAi ist aus der Algebra und konvergiert aufsteigendgegen ∪iAi. Der Grenzwert ist in der monotonen Klasse. q.e.d.

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1.2 Meßbare Abbildungen

Meßbare Abbildungen sind die Morphismen, d.h. die strukturerhaltenden Abbildungen bezuglichmesbarer Raume.

Eine Abbildung zwischen meßbaren Raumen heißtmeßbar , falls das Urbild jeder meßbarenMenge meßbar ist. Formaler formuliert, eine Abbildung f : Ω→ Ω′ von einem meßbaren Raum(Ω,A) in einen anderen meßbaren Raum (Ω′,A′) ist meßbar, falls fur jede Menge A ∈ A giltf−1(A′) ∈ A. Kurzer formuliert f−1(A′) ⊂ A.

Merkregel:

Die mengentheoretische Struktur wird durch Funktionen zuruckgeholt.

Das Urbild einer σ-Algebra ist stets eine σ-Algebra. Das Bild f(A) einer σ-Algebra ist imallgemeinen keine σ-Algebra.

Bemerkung: Die Morphismen fur topologische Raume sind die stetigen Funktionen. EineFunktion auf topologischen Raumen heißt stetig, falls das Urbild offener Mengen offen ist.

Proposition 5 Die Komposition meßbarer Funktionen ist meßbar.

Beweis: Mit entsprechender Notation (f g)−1(A′′) = g−1(f−1(A′′)) ⊂ A. q.e.d.

Proposition 6 Eine Funktion ist genau dann meßbar, wenn das Urbild eines (und dannjedes) Erzeugers in der σ-Algebra liegt.

Beweis: Nur die Ruckrichtung ist zu zeigen. Sei f : Ω 7→ Ω′ die Funktion und E ′ ein Erzeugervon A′. Dann ist A′ ∈ A′ | f−1(A′) ∈ A eine E ′ enthaltende σ-Algebra und damit gleich A′.q.e.d.

Folgerung: Jede stetige Funktion ist Borel meßbar. (Per Definition der Stetigkeit ist dasUrbild jeder offenen Menge offen ist). Jede stetige Funktion mit kompaktem Trager ist meßbarbezuglich der Baire σ-Algebra. (Die kleinste Topologie, bzgl. der alle stetigen Funktionen mitkompaktem Trager stetig sind, ist ein Erzeugendensystem der Baire σ-Algebra.)

Notation: F((Ω,A), (Ω′,A′)) bezeichne die Menge aller A − A′ meßbaren Funktionenf : Ω 7→ Ω′. Der Einfachheit halber benutzen wir auch F(Ω,A) oder aber F .

Notation: Anstelle der korrekten Schreibweise ω ∈ Ω | f(ω) ∈ A′ fur das Urbild von A′

unter f benutzen wir f ∈ A′ oder auch f ∈ A′. Allgemein wird die Realisierung ω wegge-lassen wenn immer moglich. Dies ist ein allgemein akzeptierter (kleiner) Notationsmißbrauch.

Spezialisierung auf IR: Die reellen Zahlen seien stets mit der Borel σ-Algebra B ver-sehen. Sei f : Ω 7→ IR eine Funktion. In Formeln unterdrucken wir nach Moglichkeit das ωaus Grunden der Ubersichtlichkeit. Dies fuhrt zuweilen zu einem Notationsmißbrauch. Wirschreiben z.B.

f ≥ x fur ω ∈ Ω | f(ω) ≥ x.Eine Funktion f : Ω 7→ IR ist genau dann meßbar, wenn eine der aquivalenten Kriterien

erfullt ist:- ∀x ∈ IR : f ≥ x ∈ A,- ∀x ∈ IR : f > x ∈ A,- ∀x ∈ IR : f ≤ x ∈ A,- ∀x ∈ Ql : f < x ∈ A.Die Aussage gilt auch, falls obiges nur fur x aus einer dichten Teilmenge von IR gefordert

wird.

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Proposition 7 Seien fn : Ω 7→ IR, n ∈ IN, mesbare Funktionen. Dann sind meßbar, sofernwohldefiniert und endlich, f1+f2, −f1, f1f2, 1/f1, supn fn, infn fn, lim supn fn, lim infn fn, limn fn.

Beweis: Die Kernpunkte fur die Meßbarkeit sind f + g < x = ⋃

q∈Qlf < x + q, g < −q,−g < x = g > −x. Bezuglich der Multiplikation argumentiere fg < x =

q∈Qlf <x/q, g < q ist meßbar fur f, g uberall strikt groser als 0. Allgemeine f, g zerlege in Positiv-und Negativteil. lim supn fn > x = lim supnfn > x, lim sup fn = − lim inf −fn, lim fn =11lim sup fn=lim inf fn lim sup fn, supn fn > x = ⋃

nfn > x, inf fn = − sup(−fn). q.e.dWarnung: In obiger Proposition ist die Abzahlbarkeit der Operationen wichtig. Das Su-

premum uberabzahlbar vieler meßbarer Funktionen ist im allgemeinen nicht mehr meßbar.Jedoch ist es schwer, eine nicht messbare Funktion anzugeben. Dies ist (im ZFC-Axiomensystem)

nur mit Hilfe des Auswahlaxiomes moglich.

Wir erweitern die reellen Zahlen um +∞, −∞ zu IR. Sei eine isotone (ordnungserhal-tende) und bijektive Abbildung von IR auf (−1, 1) gegeben, etwa x 7→ x

1+|x| . Erweitere diese

Abbildung durch Zuordnung von +∞,−∞ nach +1,−1. Versehe IR mit der zuruckgeholtenTopologie und entsprechenden Borel σ-Algebra. (Diese ist unabhangig von der gegebenen Bi-jektion.) Wir benutzen ebenso IN,Ql und ZZ. Die obigen Aussagen gelten sinngemaß auch furerweiterte Funktionen f : Ω 7→ IR.

Der Raum der meßbaren, reellwertigen Funktion ist ein Vektorraum. Dies gilt nicht, fallswir die Werte +∞,−∞ zulassen.

Die Baire σ-Algebra ist gleich der Borel σ-Algebra fur die reellen Zahlen.

1.3 Mengenfunktionen

Wir betrachten Mengenfunktionen von einem Mengensystem in die reellen oder erweitertenreellen Zahlen.

Eine Mengenfunktion µ : A 7→ IR oder erweiterte Mengenfunktion µ : A 7→ IR heißt- positiv , falls µ(A) ≥ 0 fur alle A ∈ A,- isoton bzw. ordnungserhaltend , falls µ(A) ≤ µ(B) fur A ⊂ B,- additiv , falls µ(A

⋃ B) = µ(A) + µ(B)- σ-additiv , falls µ(

⋃ n∈INAn) =∑

n∈IN µ(An),- σ-stetig von unten , falls limn µ(An) = µ(limnAn) fur aufsteigende An,- σ-stetig von oben, falls limn µ(An) = µ(limnAn) fur absteigende An,- σ-stetig in der leeren Menge, falls µ(An)ց µ(∅) fur An ց ∅,- subadditiv , falls µ(

i∈I Ai) ≤∑

i∈I µ(Ai) gilt fur I endlich.- σ-subadditiv , falls obiges gilt fur abzahlbare Indexmengen I abzahlbar.Hierbei sind A,B,A

⋃B,An,

nAn aus dem Mengensystem.Bemerkung: σ steht stets fur etwas Abzahlbares.

1.3.1 Maße

Ein Maß ist eine positive, σ-additive, erweiterte Mengenfunktion nicht identisch unendlichauf einer σ-Algebra. Die Eigenschaften in aquivalenten (Ubung), formelmaßigen Aussagen,sind

i) µ(∅) = 0ii) ∀A ∈ A ⇒ µ(A) ≥ 0

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iii) An ∈ A, n ∈ IN, paarweise disjunkt⇒ µ(⋃ nAn) =

n µ(An).Ein Maßraum (Ω,A, µ) ist ein meßbarer Raum versehen mit einem Maß. Ein endliches

Maß ist ein Maß µ(Ω) < ∞. Ein Wahrscheinlichkeitsmaß ist ein Maß mit µ(Ω) = 1. EinWahrscheinlichkeitsraum ist ein Maßraum mit einem Wahrscheinlichkeitsmaß. Jedes endli-che Maß µ laßt sich zu einem W-maß transformieren via cµ mit c = 1/µ(Ω). Notation: P(=Probability) fur ein W-maß.

Proposition 8 (Maseigenschaften) Jedes Maß ist additiv, isoton, endlich subadditiv undσ-subadditiv.

Beweis: • AdditivErweitere die endliche Folge durch die leere Menge zu einer abzahlbaren Folge und ver-

wende die σ-Additivitat.• IsotonFur mesbare Mengen A ⊂ B gilt µ(B) = µ(A) + µ(B\A) ≥ µ(A).• Subadditiv und σ-SubadditivWir verwenden die Disjunktifizierung. Fur eine Folge An mesbarer Mengen definiere rekur-

siv B1 = A1 und Bn = An\∪i<n Ai. Dann sind die Bn paarweise disjunkt,⋃ i≤nBi =

i≤nAi

und es giltµ(∪nAn) = µ(

nBn) =

n

µ(Bn) ≤∑

n

µ(An).

q.e.d.Ein Punktmaß auf ω ∈ Ω ist ein W-maß δω mit δω(A) = 11A(ω). Ein diskretes Maß ist

eine positiv gewichtete Summe von Punktmaßen. Jedes diskrete Maß hat eine Darstellungµ =

ω∈Ω f(ω)δω mit einer Funktion f : Ω→ R+. Die Abbildung zwischen diskreten Maßen

und erweiterten Funktionen f wie oben ist bijektiv (vorausgesetzt die σ−Algebra umfaßt allePunktmengen ω). Es gilt

µ(A) =∑

ω∈Af(ω).

Ein diskreter Wahrscheinlichkeitsraum ist ein Maßraum mit diskretem W-maß.Ein Laplaceraum ist ein diskreter Wahrscheinlichkeitsraum mit endlicher Grundmenge

und dem Maß

P (A) =|A||Ω| .

Das Zahlmaß ist das Maß µ mit µ(A) = |A|.Hier einige Beispiele und StandardkonstruktionenBernoulliverteilung Ber(p) zum Parameter 0 ≤ p ≤ 1. Ω = 0, 1, A = Pot(Ω), µ(1) =

p = 1− µ(0) =: 1− q.Geometrische VerteilungGeo(p) zum Parameter 0 ≤ p ≤ 1. Ω = IN0, A = Pot(Ω), µ(k) =

qpk.Poissonverteilung Poi(λ) zum Parameter λ > 0. Ω = IN0, A = Pot(Ω), µ(k) =

e−λλk

k! .Binomialverteilung Bin(n,p) zu den Parametern n ∈ IN und p ∈ [0, 1]. Der W-raum ist

(Ω = 0, 1, . . . , n,P(Ω), P ) mit

P (k) =

(

n

k

)

pk(1− p)n−k

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fur k ∈ Ω.

Beispiel: Sei Ω uberabzahlbar. Das Mengensystem der Teilmengen A ⊂ Ω mit A abzahl-bar oder Ac abzahlbar ist eine σ-Algebra. Die Mengenfunktion µ mit µ(A) = 0 falls A abzahl-bar und ∞ anderenfalls ist ein Maß.

Eingeschranktes Maß: Sei Q eine meßbare Menge. Die Einschrankung

(Q,A|Q) := Q ∩A | A ∈ A), µ|Q := µ)

mit µ|Q : A|Q → IR die Einschrankung, ist ein Maßraum.

bedingte Wahrscheinlichkeit: Ist P ein W-mass und P (Q) > 0, so sprechen wir von

A ∋ A 7→ P (A | Q) :=P (A ∩Q)

P (Q)

als bedingte W-keit von P unter Q.

Erweitertes Maß: Durch Umkehrung obiger Konstruktion laßt sich ein Maß erweitern.Ubung.

Mit M = M(Ω,A) bezeichnen wir den Raum der Maße uber dem meßbaren Raum (Ω,A).Dies ist ein konvexer Kegel (= eine konvexe Menge, die positive Vielfache enthalt). (DieAddition ist gegeben durch (µ + ν)(·) = µ(·) + ν(·) und die Multiplikation durch (cµ)(·) =c(µ(·)) fur c ≥ 0). Die W-maße bilden eine konvexe Menge.

Die Menge V := µ − ν | µ, ν endliche Maße ist ein Vektorraum. Die Element heißenLadungsverteilung .

Bildmaß: Sei f : Ω 7→ Ω′ eine meßbare Funktion, (Ω,A, µ) ein Maßraum und (Ω′,A′) einmeßbarer Raum. Die Mengenfunktion µf , definiert durch

A′ ∋ A′ 7→ µ(f−1(A′))

ist ein Maß auf A′. Es heißt transportiertes Maß oder auch Bildmaß .

Eine maßerhaltende Abbildung ist eine messbare Funktion f : Ω 7→ Ω′ auf Maßraumen(Ω,A, µ), (Ω′,A′, µ′) mit µf = µ′.

Isomorphismen Die Isomorphismen auf Masraumen sind maserhaltende Isomorphismender mesbaren Raumen. (Isomorphismen der meßbaren Raume sind meßbare bijektive Funk-tionen der Grundraume, deren Inverses meßbar ist.

1.3.2 Warum σ-Additivitat?

Die σ−Additivitat ist aquivalent zu einer σ-Stetigkeit. Grundlegend ist das

Theorem 9 Sei (Ω,A) ein meßbarer Raum und µ : A 7→ IR eine positive, additive, erweiterteMengenfunktion mit µ(∅) = 0. µ ist ein Maß genau dann, wenn es σ-stetig von unten ist. Istµ endlich, so sind aquivalent:

i) µ ist σ-stetig von unten.

ii) µ ist σ-stetig von oben.

iii) µ ist σ-stetig in der leeren Menge.

iv) µ ist σ-stetig.

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Beweis: ’⇒’ War schon beweisen.’⇐’ Sei An ∈ A, n ∈ IN eine Folge paarweise disjunkter meßbarer Menge. Dann ist

Bn := ∪i≤nAi aufsteigend gegen B = ∪nAn. Es folgt

µ(B) = limn

µ(Bn) = limn

n∑

i=1

µ(An) =∑

n

µ(An).

i) ⇒ ii) Sei Bn ց B ∈ A. Betrachte Bcn ր Bc und verwende

µ(Ω)− µ(Bn) = µ(Bcn)ր µ(Bc) = µ(Ω)− µ(B).

ii) ⇒ i) Fur An ր A betrachte Acn ց Ac und argumentiere analog.

ii) ⇒ iii) Spezialisierung.iii) ⇒ ii) Fur An ց A betrachte An\Aց ∅.i) ⇔ iv) Benutze ii) und Definition. q.e.d.

1.3.3 Vollstandige und σ-endliche Masraume

Sei (Ω,A, µ) ein Maßraum. Eine µ-Nullmenge ist eine Menge aus dem Grundraum, fur die eseine meßbare Obermenge A mit µ(A) = 0 gibt. Eine Nullmenge braucht nicht mesbar zu sein.Die Menge N aller Nullmengen (bzgl. µ) ist abgeschlossen bzgl. abzahlbarer Vereinigung undTeilmengen. Ein Maßraum heist vollstandig falls die σ-Algebra alle Nullmengen enthalt. Diekleinste σ-Algebra Av erzeugt von A und allen µ-Nullmengen heißt Vervollstandigung von Abzgl. µ.

Proposition 10

Av = A ∪N | A ∈ A, N ∈ N= B ⊂ Ω | ∃A,C ∈ A : A ⊂ B ⊂ C, µ(C\A) = 0

Beweis: Einfach. Die Mengensysteme sind σ-Algebren und enthalten A und N . Sie sind auchnicht großer. q.e.d.

Wir konnen stets das Maß µ auf die vervollstandigte σ-Algebra Av als Maß fortsetzendurch

µv(Av) = µ(A)

mit Av = A ∪N, Av ∈ Av, A ∈ A, N ∈ N . Ubung.

Eine Aussage A uber Realisierungen ω gilt fast sicher , (f.s.), falls sie bis auf eine Nullmengefur alle Realisierungen gilt.

σ-Endlichkeit: Viele Aussagen uber Mase werden zuerst fur endliche Mase gezeigt unddann fur σ-endliche. Ein Mas µ heißt σ-endlich, falls es eine gegen Ω aufsteigende Folge vonMengen An ∈ A endlichen Mases gibt. Aquivalent ist die Existenz einer Zerlegung (Bn)n von Ωin abzahlbar viele Mengen endlichen Maßes gibt. (∃Bn ∈ A, n ∈ IN

⋃ nBn = Ω, µ(Bn) <∞.)(Die Aquivalenz ersieht man aus Bn = An\An−1.) Der Schritt von endlichem Mas auf σ-endliches Mas beruht in der Regel auf der abzahlbaren disjunkten Zerlegung Bn. Zeige dieEigenschaft auf jedem Bn und setze dann zusammen. (Genauer, erst fur das Mas A ∋ A →µ(A ∩Bn) und dann fur A ∋ A 7→ µ(A) =

n µ(A ∩Bn).)Der Schritt von endlichem Mas auf beliebiges, nicht σ-endliches Mas beruht haufig auf

einer lokalen Form der Aussage. Argumentiere die Eigenschaft gilt lokal, d.h. in allen (geeig-neten) Mengen von endlichem Mas, wobei hierauf angewandt das Mas endlich ist. Der Satzvon Caratheodory ist von dieser Struktur.

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WS10/11 Maßtheorie

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Kapitel 2

Uber die Existenz von Maßen

Dieser Abschnitt zeigt die Existenz von nicht diskreten Maßen via der Caratheodory Ma-ßerweiterung. Anschließend betrachten wir Maße auf den reellen Zahlen, insbesonders dasLebesguemaß, und zeigen einige Eigenschaften.

Heuristik: Es geht um die Existenz von allgemeinen Maßen. Dazu wird auf einem spe-ziellen Mengensystem einfacher Struktur eine additive Mengenfunktion konstruiert und dannzu einem Maß fortgesetzt. Der (vielleicht) mathematisch naturlichere Zugang ist eine Erwei-terung uber Kapazitaten, siehe Meyer [8]. Wir benutzen den elementareren Zugang uber dasaußere Maß. Standardbeispiele sind das Lebesgue Maß und Maße auf Produktraumen.

Ein Ring ist ein Mengensystem mit der leeren Menge und abgeschlossen bzgl. endlichemDurchschnitt und der symmetrischen Differenz. (Aquivalent ist, enthalt die leere Menge undist abgeschlossen bzgl. endlicher Vereinigung und der Differenz.) Ein Inhalt auf einem Ringist eine positive, additive und erweiterte Mengenfunktion. Ein Pramaß auf einem Ring ist einvon unten σ-stetiger Inhalt. Ein Pramaß auf einer σ-Algebra ist ein Maß.

Satz 11 (Caratheodory) Jedes Pramaß auf einem Ring laßt sich fortsetzen zu einem Maßauf die vom Ring erzeugte σ-Algebra.

2.0.4 Beweis und Eindeutigkeit von Caratheodory

Ein außeres Maß ist eine isotone, σ-subadditive, erweiterte Mengenfunktion auf der Potenz-menge, die die leere Menge auf die Null abbildet. In Formeln, µ∗ : P(Ω) 7→ IR mit

i) µ∗(∅) = 0

ii) A ⊂ B ⇒ µ∗(A) ≤ µ∗(B) Isotonie

iii) An ∈ P(Ω), n ∈ IN ⇒ µ∗(⋃

nAn) ≤∑

n µ∗(An) Subadditivitat.

Hierbei wird die Konvention inf ∅ =∞ benutzt. Eine µ∗-meßbare Menge ist eine MengeA ⊂ Ω, die

µ∗(Q) ≥ µ∗(Q ∩A) + µ∗(Q ∩Ac) (2.1)

fur alle Q ⊂ Ω erfullt. Wegen der σ-Subadditivitat folgt dann Gleichheit. Sei A∗ die Mengealler µ∗-meßbaren Menge.

Lemma 12 Fur jedes außere Maß µ∗ ist (Ω,A∗, µ∗) ein Maßraum.

Beweis: • A∗ ist eine Algebra.

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WS10/11 Maßtheorie

Das Mengensystem A∗ enthalt Ω und ist komplementabgeschlossen. Seien A,B ∈ A∗.Dazu etabliere

µ∗(Q) = µ∗(Q ∩A) + µ∗(Q ∩Ac)

= µ∗(Q ∩A ∩B) + µ∗(Q ∩A ∩Bc) + µ∗(Q ∩Ac ∩B) + µ∗(Q ∩Ac ∩Bc)

Q durch Q ∩ (A ∪B) ersetzt in (2.1) ergibt

µ∗(Q ∩ (A ∪B)) = µ∗(Q ∩A ∩B) + µ∗(Q ∩A ∩Bc) + µ∗(Q ∩Ac ∩B).

Die Subtraktion beider Zeilen ergibt die Behauptung.• µ∗ ist ein Inhalt auf A∗.Setze Q = A

⋃ B in (2.1).• A∗ ∋ An ր A⇒ µ∗(Q ∩An)ր µ∗(Q ∩A)Definiere Bn := An\An−1. Bn, n ∈ IN, ist eine Folge paarweiser disjunkter Mengen aus

A∗ mit⋃ n

i=1Bi = An. Per Induktion nach n zeige

n∑

i=1

µ∗(Q ∩Bi) = µ∗(Q ∩An).

Dies ist leicht. Damit folgt die obere Behauptung via

limn

µ∗(Q ∩An) =∑

n

µ∗(Q ∩Bn) ≥ µ∗(Q ∩ (⋃

n

Bn)) = µ∗(Q ∩A).

• A∗ ist σ-Algebra.Mit An wie oben

µ∗(Q) = µ∗(Q ∩An) + µ∗(Q ∩Acn) ≥ µ∗(Q ∩An) + µ∗(Q ∩Ac)

liefert das gewunschte µ∗(Q) ≥ µ∗(Q ∩A) + µ∗(Q ∩Ac).• µ∗ ist ein Maß auf A∗.µ∗ ist Inhalt auf A∗ und σ-Stetigkeit von unten. q.e.d.

Proposition 13 Die σ-Algebra A∗ ist vollstandig bzgl. dem außeren Maß µ∗.

Bew: Sei N eine µ∗-Nullmenge, d.h. ∃A ∈ A∗ : N ⊂ A ∈ A∗, µ∗(A) = 0. Dann impliziertµ∗(Q ∩N) + µ∗(Q ∩N c) ≤ µ∗(A) + µ∗(Q) die Aussage.

Uber die Eindeutigkeit gibt der folgende Satz Auskunft.

Satz 14 Seien µ, ν zwei Maße, die auf einem Erzeuger der σ-Algebra A ubereinstimmen. DerErzeuger sei abgeschlossen bzgl. endlichem Durchschnitt und es gebe eine gegen Ω aufsteigendeFolge En aus dem Erzeuger mit endlichem µ-Maß. Dann sind µ und ν identisch.

Beweis: Sei E aus dem Erzeuger mit µ(E) <∞ und

DE := A ∩ E | A ∈ A, µ(A ∩ E) = ν(A ∩ E).

• DE ist die Einschrankung A|E der σ-Algebra A auf E.

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WS10/11 U. Rosler

Das Mengensystem DE ist ein Dynkinsystem (leicht) und enthalt den ∩-stabilen Erzeugereingeschrankt auf E. Nach (Lemma 2) ist DE eine σ-Algebra und damit = A|E .• µ = ν

Argumentiere µ(A) = limn µ(A ∩ En) = limn ν(A ∩ En) = ν(A). q.e.d.

Bem: Ohne die σ-Endlichkeit auf dem Erzeuger ist die Eindeutigkeit nicht gegeben. Be-trachte als Erzeuger die Menge aller halboffenen Intervalle (a, b] mit a < b. Als Mase wahledas Zahlmaß und das triviale Maß, welches jeder Menge ungleich der leeren Menge den Wert∞ zuordnet. Beide Maße sind gleich auf dem Erzeuger, aber verschieden auf der erzeugtenσ-Algebra, hier die Borel σ-Algebra. (Auch die Hausdorffmaße tun’s.)

Proposition 15 SeiM ein Mengensystem mit der leeren Menge und µ eine positive, erwei-terte Mengenfunktion auf M mit µ(∅) = 0. Dann ist die Mengenfunktion µ∗ : P(Ω) 7→ IRdefiniert durch

µ∗(Q) := inf∑

n∈INµ(Mn) | Vn ∈M, Q ⊂

n

Mn

ein positives außeres Maß.

Beweis: Nur die dritte Eigenschaft ist zu zeigen. Sei Q = ∪nQn.Wahle zu vorgegebenen ǫn > 0eine Uberdeckung Mn,m ∈ M, m ∈ IN, von Qn mit µ∗(Qn) ≤

m µ(Mn,m) ≤ µ∗(Qn) + ǫn.Aus Q ⊂ ⋃nQn ⊂

n,mMn,m folgt

µ∗(Q) ≤∑

n,m

µ(Mn,m) ≤∑

n

(µ∗(Qn) + ǫn).

Dies gilt fur alle Folgen ǫn, d.h. µ∗(Q) ≤∑n µ

∗(Qn). q.e.d.

Beweis von Caratheodory: Sei µ das Pramaß auf dem Ring R und sei µ∗ das außereMaß dazu (Proposition 15).

• µ = µ∗ auf R.Die Richtung µ∗ ≤ µ auf dem Ring folgt aus der Definition des außeren Maßes. Fur die

Umkehrung sei R ∈ R und Rn ∈ R eine Uberdeckung von R mit µ∗(R) ≤ ∑

n µ(Rn) ≤µ ∗ (R) + ǫ fur gegebenes ǫ > 0.

µ(R) = limn→∞µ(R ∩ ∪i≤nRn) ≤ lim

nµ(∪i≤nRn) ≤ lim

n

i≤n

µ(Ri) ≤∑

n

µ(Rn) ≤ µ∗(R) + ǫ

• R ⊂ A∗

Sei R ∈ R und Rn ∈ R, n ∈ IN eine Uberdeckung von Q mit µ∗(Q) ≤ ∑

n µ(Rn) ≤µ ∗ (Q) + ǫ.

µ∗(Q) + ǫ ≥∑

n

µ(Rn) =∑

n

(µ(Rn ∩R) + µ(Rn ∩Rc) ≥ µ∗(Q ∩R) + µ∗(Q ∩Rc)

Dies gilt fur alle ǫ > 0. Mit σ(R) ⊂ A∗ endet der Beweis. q.e.d.

Bem: Die µ∗-meßbaren Mengen A sind genau diejenigen, so dass fur jedes R aus demRing von endlichem Maß und jedes ǫ ein Ringelement S existiert mit µ∗((A∩R)S) < ǫ gilt.Noch anders ausgedruckt,

∪i ∩n Rn,i ⊂ A ∩R ⊂ ∩i ∪n Sn,i

mit R·, s· Ringelemente und die rechte Menge minus der linken ist eine µ∗-Nullmenge.

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WS10/11 Maßtheorie

2.0.5 Wann ist ein Inhalt ein Pramaß

Wann ist ein Inhalt σ-stetig von unten?

Eine kompakte Klasse oder ein Mengensystem mit der endlichen Durchschnittsei-genschaft ist ein Mengensystem, sodaß jede abzahlbare Auswahl mit gemeinsamem leerenDurchschnitt bereits eine endliche Teilauswahl mit leerem Durchschnitt enthalt. In Formeln,K ⊂ P(Ω) ist ein kompaktes Mengensystem genau dann, wenn

* ∀Kn ∈ K, n ∈ IN : (⋂

n∈IN Kn = ∅)⇒ ∃J ⊂ IN |J | <∞ :⋂

j∈J Kj = ∅.Durch Negation erhalten wie die aquivalente Bedingung

* ∀Kn ∈ K, n ∈ IN : (∀J ⊂ IN |J | <∞ ⋂

j∈J Kj 6= ∅)⇒⋂

n∈IN Kn 6= ∅.Anstelle der endlichen Teilmengen J reicht es 1, . . . , n0 mit n0 ∈ IN zu nehmen.

Ein Beispiel, vielleicht das einzig wichtige, ist die Menge der kompakten Mengen einestopologischen Raumes. (Siehe auch 8.2.) (Diese erfullen etwas mehr, da wir uns auf abzahlbareFolgen beschranken.)

Lemma 16 Sei R ein Ring, µ ein endlicher Inhalt darauf und K ein kompaktes System. Fallses fur alle R ∈ R und alle ǫ > 0 eine Menge K ∈ K und ein B ∈ R gibt mit

B ⊂ K ⊂ R µ(R\B) < ǫ

gibt, so ist µ ein Pramaß auf dem Ring.

Beweis: Wir zeigen, vergleiche Satz (9), die σ-Stetigkeit in der leeren Menge, d.h. R ∋ Rn ց∅ ⇒ µ(Rn)ցn 0. Dies reicht.

Zu obigen Rn wahle Bn ∈ R,Kn ∈ K mit Bn ⊂ Kn ⊂ Rn und∑

n µ(Rn\Bn) hinreichendklein. Wegen

nKn ⊂⋂

nRn = ∅ gibt es ein n0 mit⋂

n≤n0Kn = ∅.Dies impliziert

n≤n0Bn =

∅. Es folgt

µ(Rn0) = µ(Rn0\⋂

n≤n0

Bn)

= µ(⋃

n≤n0

Rn0\Bn) ≤ µ(⋂

n≤n0

Rn\Bn)

≤∑

n≤n0

µ(Rn\Bn) ≤∑

n

µ(Rn\Bn)

Die rechte Seite ist hinreichend klein. q.e.d.

Die Standardanwendung dieses Lemmas betrifft einen topologischen Raum Ω und daskompakte System der kompakten Mengen.

2.0.6 Konstruktion von Inhalten und Algebren

Ein Halbring ist ein Mengensystem mit der leeren Menge, abgeschlossen bzgl. endlichemDurchschnitt und die Differenz zweier Halbringmengen ist darstellbar als endliche Vereinigungvon paarweise disjunkten Halbringmengen.

Proposition 17 Der von einem Halbring erzeugte Ring besteht genau aus den endlichen,paarweise disjunkten Vereinigungen von Halbringmengen.

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WS10/11 U. Rosler

In Formeln, fur einen Halbring H gilt

R(H) = ⋃

n≤N

Hn | N ∈ IN, Hn ∈ H paarweise disjunkt .

Beweis: Zeige die bestimmenden Eigenschaft fur einen Ring, hier abgeschlossen bzgl. derDifferenz endlicher Vereinigung und enthalt die leere Menge. Der Rest ist nachrechnen. q.e.d.

Standardbeispiel: Das Mengensystem aller halboffenen Rechtecke (a, b], 0 < a ≤ b < 1in (0, 1] ist ein Halbring. (Ubung). Dasselbe gilt fur alle halboffenen Rechtecke (a1, b1]×(a2, b2]im (0, 1]2 mit 0 < ai ≤ bi ≤ 1. Dies laßt sich auf hohere Dimensionen und ganz IRd ausdehnen.

Proposition 18 Eine positive, additive, erweiterte Mengenfunktion auf einem Halbring hateine eindeutige additive Fortsetzung auf den vom Halbring erzeugten Ring.

Beweis: Die einzig mogliche additive Fortsetzung der Mengenfunktion µ auf den Ring ist

µ(⋃

n

i=1Ai) =

n∑

i=1

µ(Ai).

µ tut’s.Die Abbildung ist wohldefiniert wegen

⋃ iAi =⋃ jBj

i

µ(Ai) =∑

i

µ(⋃

jAi ∩Bj) =

i

j

µ(Ai ∩Bj) =∑

j

i

µ(Ai ∩Bj) =∑

j

µ(Bj)

und offensichtlich additiv. q.e.d.

2.0.7 Beispiele

Wir zeigen das Zusammenspiel der Resultate und Strukturen an zwei Beispielen.Borelmaß: Das Maß auf dem Einheitsintervall versehen mit der Borel σ-Algebra, welches

jedem Intervall darin seine Lange zuordnet, heißt Borelwahrscheinlichkeitsmaß .

Satz 19 Das Borelwahrscheinlichkeitsmaß auf (0, 1] existiert. Es ordnet jeder einelementigenMenge das Maß 0 zu.

Beweis: Betrachte das Mengensystem H aller halboffenen Intervalle (a, b] mit 0 ≤ a ≤ b ≤ 1.Dies ein Halbring bzgl. Ω = (0, 1]. Definiere die Mengenfunktion µ auf H durch

µ(a, b] := b− a.

µ ist ein Inhalt auf der vom Halbring erzeugten Ring, Proposition 18.• Der Inhalt µ ist ein Pramaß.Wir verwenden das Lemma (16). Als kompakte Klasse nehmen wir alle kompakten Mengen

in (0, 1]. Die Einschachtelung fur ein Intervall (a, b) mit a < b ist

(a+ ǫ, b] ⊂ [a+ ǫ, b] ⊂ (a, b]

mit µ((a, b]\(a+ ǫ, b]) ≤ ǫ. Fur die disjunkte Vereinigung endlich vieler lauft dies analog.Die Fortsetzung µ des Pramaßes auf die von H erzeugte σ-Algebra ist eindeutig, Satz von

Caratheodory (11) und (14).µ tut’s.

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WS10/11 Maßtheorie

Ein Nachrechnen liefert µ ist ein Wahrscheinlichkeitsmaß und

µ(a) = limn→∞µ((a− 1

n, a]) = lim

n

1

n= 0

und µ(I) ist die Lange des Intervall. q.e.d.Um das Borelmaß µ auf den gesamten reellen Zahlen zu definieren, betrachte die reellen

Zahlen als disjunkte Vereinigungen von den Intervallen In = (n, n + 1], n ∈ ZZ. Sei µn dasBorelmas auf In versehen mit der Borel σ-Algebra Bn hierauf. Beachte, jede BorelmengeB ∈ B schreibt sich als disjunkte Vereinigung von Mengen B ∩ In ∈ Bn. Dann tut es µ(B) :=∑

n∈ZZ µn(B ∩ In).Das Lebesguemaß ist die Erweiterung des obigen Borelmaßes auf die vervollstandigte

Borel σ-Algebra. Die Standardnotation ist λ. Das Lebesguemaß auf einem Intervall I ist dieEinschrankung λI des Lebesguemaßes auf dieses Intervall.

Maße auf endlichen Produktraumen: Seien (Ωi,Ai, µi), 1 ≤ i ≤ n, endliche Maßraume.Der Produktraum ist

n∏

i=1

Ωi := Ω1 × Ω2 × . . .× Ωn = f : 1, . . . , n 7→n⋃

i=1

Ωi | f(j) ∈ Ωj , j ∈ 1, . . . , n.

Eine Rechteckmenge ist eine Menge

A1 ×A2 × . . .×An, Ai ∈ Ai.

Sei H die Menge aller Rechteckmengen. Die hiervon erzeugte σ-Algebra σ(H) heißt Produktσ-Algebra.Notation

iAi := A1 ⊗A2 ⊗ . . .⊗An.Ein Maß µ :

iAi 7→ IR mit

µ(A1 ×A2 × . . .×An) = µ1(A1)µ2(A2) . . . µn(An),

Ai ∈ Ai, 1 ≤ i ≤ n, heißt Produktmaß .Notation

i µi = µ1 ⊗ µ2 ⊗ . . .⊗ µn =∏

i µi.

Proposition 20 Das Produktmaß existiert und ist eindeutig.

Beweisskizze: Das Mengensystem der Rechteckmengen ist kein Halbring, aber der davonerzeugte Ring besteht aus allen endlichen disjunkten Vereinigungen von Rechteckmengen.Definiere auf den Rechteckmengen die Mengenfunktion µ : R → IR durch

µ(A1 ×A2 × . . .×An) := µ1(A1)µ2(A2) . . . µn(An).

µ ist additiv auf dem Halbring H. Erweitere µ additiv auf dem von den Rechteckmengenerzeugten Ring, Proposition 18. Wenn wir zeigen konnten, daß diese Mengenfunktion einPramaß ist, (genauen Beweis spater, vgl. auch Fubini) dann impliziert der Satz von Ca-ratheodory 11 eine Erweiterung zum Maß auf σ(R). Die Eindeutigkeit folgt aus Satz 14.q.e.d.

Das Tripel (∏

iΩi,⊗

iAi,⊗

i µi) heißt Produktmaßraum oder Produktraum. Der Pro-duktraum von W-raumen ist ein W-raum.

Spater betrachten wir Produktraume uber beliebige Indexmengen.

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WS10/11 U. Rosler

2.1 Maße auf den reellen Zahlen

Wieviele Maße gibt es auf den reellen Zahlen versehen mit der Borel σ−Algebra B?Sei f eine Funktion von den reellen Zahlen in die reellen Zahlen. Wir benutzen die Notation

f(x+) fur den Grenzwert limyցx f(y). Eine Funktion f : IR→ IR heißt rechtsstetig in x, fallsf(x+) = f(x) gilt. Sie heißt rechtsstetig, falls sie rechtsstetig in jedem Punkt x ist. Analogdefiniert man f(x−) und linksstetig.

Ein Radonmaß auf den reellen Zahlen ist ein Maß auf der Borel σ-Algebra mit endlichemMaß fur jedes Kompaktum.

Satz 21 Es gibt eine bijektive Abbildung zwischen isotonen, rechtsstetigen Funktionen F :IR 7→ IR mit F (0) = 0 und Radonmaßen µ auf den reellen Zahlen. Diese Bijektion kann durch

F (b)− F (a) = µ((a, b]), (2.2)

a < b ∈ IR gegeben werden.

Beweis: Jedes Radonmaß definiert eindeutig durch die obige Bijektion 2.2 eine Funktion wieoben beschrieben. Die Umkehrung folgt dem Beweis von Satz 19. Jede Funktion wie oben lie-fert eine additive und isotone erweiterte Mengenfunktion µ auf dem Halbring aller halboffenenIntervalle (a, b] | a ≤ b ∈ IR. Die Mengenfunktion µ wird (eindeutig) zu einem Inhalt aufdem erzeugten Ring erzeugten Ring fortgesetzt, Proposition 18. Dieser Inhalt ist ein Pramaßnach Lemma 16. Wahle dazu als kompakte Klasse das Mengensystem C der kompakten Men-gen. Fur vorgegebenes A =

⋃ ni=1(ai, bi] und µ(A) <∞ wahle die Mengen Bi := (ai+ǫi, bi] ∈ E

und Ci = [ai + ǫi, bi]. Dann erfullen B := ∪iBi und C := ∪iCi ∈ C die Bedingung B ⊂ C ⊂ Aund

µ(A\B) =∑

i

(F (ai + ǫi)− F (ai)

wird beliebig klein fur geeignet gewahlte ǫi.

Der Satz von Caratheodory 11 liefert die Existenz und der Satz 14 die Eindeutigkeit. q.e.d.

Bem: Es mag einfacher erscheinen, erst auf Ω = (z, z + 1], z ∈ ZZ die Konstruktion zumachen, da dann das Maß endlich ist. Anschließend wird via der Partition IR = ∪z∈ZZ(z, z+1]das Maß µ =

z∈ZZ µz definiert. Dies tut’s. q.e.d.

Lebesguemaß: Die Lebesgue σ-Algebra ist die Vervollstandigung der Borel σ-Algebraunter dem Borelmaß, welches jedem Interval seine Lange zuordnet. Die zugehorige FunktionF ist die Identitat. Die Standardnotation ist λ. Der Sprachgebrauch zieht das Lebesguemaßdem Borelmaß vor und unterscheidet i.a. nicht dazwischen.

Verteilungsfunktion: Eine Verteilungsfunktion ist eine rechtsstetige, aufsteigende Funk-tion F : IR 7→ IR mit F (−∞) := limx→−∞ F (x) = 0, F (∞) := limx→∞ F (x) = 1.

Korollar 22 Es gibt eine bijektive Abbildung zwischen Verteilungsfunktionen und W-Maßenauf der Borel σ-Algebra uber IR. Diese Bijektion kann durch

F (b)− F (a) = µ((a, b])

a < b ∈ IR gegeben werden.

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WS10/11 Maßtheorie

Beweis: Einfach aus Satz 21.

d-dimensionaler Raum: Die Konstruktion des Lebesguemaßes auf IRd verlauft ganzanalog. Die halboffenen Intervalle (a1, b1] × ... × (ad, bd], 0 ≤ ai ≤ bi ≤ 1 im Einheitswurfeleinen bilden einen Halbring. Die Mengenfunktion

λ((a1, b1]× ...× (ad, bd]) :=d∏

i=1

(bi − ai)

ist ein Pramaß auf dem Hiervon erzeugten Ring. Der Satz von Caratheodory liefert eineFortsetzung als Maß auf dem Einheitsintervall. Anschließend erweitere dieses Maß translati-onsinvariant auf ganz IRd durch Partitionierung. Ubung.

Notation: λd bezeichnet das Lebesguemaß auf IRd versehen mit der Lebesgue σ-Algebra,der Vervollstandigung der Borel σ-Algebra.

Bemerkung: Im IRd ist die Charakterisierung von Maßen uber (Verteilungs-)Funktionenschwieriger. Wie wurde die Charakterisierung lauten? (Siehe Ganzler-Stute [5])

2.1.1 Hausdorff Maße und Cantor Menge

Haufsdorffmaß: Es gibt andere Maße auf den reellen Zahlen von Interesse, die eventuelleiner kompakten Menge keinen endlichen Wert zuordnen. Wir geben als Beispiel HausdorffMaße an. Sei 0 < α. Definiere

µα(Q) = limǫց0

inf∑

n∈INdiamα(Bn) | diam(Bn) < ǫ, Q ⊂ ∪nBn.

B. bezeichnet offene Kugeln und diam steht fur den Durchmesser der Kugel. (Der Limesexistiert, da die Folge monoton steigend ist in ǫ. Siehe Falconer [4].) µα ist ein außeres Maß.Das Maß µα auf der σ-Algebra A∗

α der µα-meßbaren Mengen heißt Hausdorffmaß zum In-dex α. Das Hausdorffmaß ist ein translationsinvariantes Maß auf A∗

α. A∗α enthalt die Borel

σ−Algebra. Alle offenen, nicht leeren Mengen U in IRd haben den Wert µα(U) = ∞ fur0 < α < d. Das Lebesguemaß λd ist ein Vielfaches des Hausdorffmaßes µd auf IRd.

Die Hausdorff Dimension einer Menge ist das Infimum der α mit endlichem Hausdorffmaßµα(Q) <∞ [4]. Offene, beschrankte, reelle Mengen in IRd haben die Hausdorff Dimension d.

Das Hausdorffmaß einer Menge C ist das Maß µα(C ∩ ·) : A∗α → IR mit α die Hausdorff

Dimension der Menge C.Cantormenge: Als Beispiel wollen wir die Cantormenge und das Cantormaß , das Haus-

dorffmaß zu der Cantormenge, betrachten.

r r r r0 1/3 2/3 1

♣ ♣ ♣ ♣ ♣ ♣ ♣ ♣

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Cantorset Cantorset Can Cantorset Cantorset Can

Die formale Definition der Cantormenge C lautet:

Cn := x =∞∑

i=1

xi3i| xi ∈ 0, 1, 2, xj 6= 1 fur j ≤ n, i ∈ IN

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C :=⋂

n

Cn = x =∞∑

i=1

xi3i| xi ∈ 0, 2.

Die Cantormenge hat interessante Eigenschaften:

• Die Cantor Menge ist uberabzahlbar, abgeschlossen, kompakt, nirgends dicht (=dasInnere vom Abschluß ist leer) und perfekt (=jeder Punkt ist Haufungspunkt). (Ubung)

• Die Cantor Menge ist Borel meßbar und das Lebesgue Maß der Cantor Menge ist 0.Ubung

• Die Hausdorff Dimension ist α = ln 2ln 3 < 1. (Keine Ubung)

• Die Abbildung ϕ : C 7→ [0, 1]

x =∞∑

i=1

xi3i7→ ϕ(x) =

1

2

∞∑

i=1

xi2i

(2.3)

ist isoton, stetig, und surjectiv. Seien B3 und B2 diejenigen reellen Zahlen, deren Trialdar-stellung bzw. Dualdarstellung nicht eindeutig ist. Dann ist ϕ : C\B3 → [0, 1]\B2 bijektiv. (ϕbildet z.B. die Punkte 1/3 und 2/3 beide auf 1/2 ab.) B3 und B2 sind abzahlbar.

• Das Cantor Maß ist ein Wahrscheinlichkeitmaß mit der stetigen, fast uberall (bis auf C)unendlich oft differenzierbaren Verteilungsfunktion

F (x) = inf1, ϕ(y) | C ∋ y ≥ x

mit Ableitung 0 f.s. (Die Ableitung auf C ist ∞.) Ein Bild ist sehr hilfreich. (Ubung) DasBildmaß des Cantor Maßes unter ϕ bzw. F ist das Lebesgue Maß.

• Die Cantormenge ist die großte kompakte invariante Menge bzgl. der Funktion f : IR 7→IR, f(x) = 11x≤1/23x+11x>1/2(3−3x). (Eine Menge A heißt invariant unter f, falls f−1(A) = A

gilt.) (Ubung: Benutze die Trialdarstellung einer reellen Zahl.) Die Iteration fn(x), n ∈ INeines Punktes x unter f bleibt beschrankt genau dann, wenn x aus C ist.

2.1.2 Translationsinvariante Maße

Ein Maß auf (IR,+) heißt translationsinvariant, falls es invariant ist bezuglich aller Trans-lationen. (D.h. µ(A+ x) = µ(A) fur alle x ∈ IR, A ∈ A).

Beispiele translationsinvarianter Mase sind

(i) das triviale Maß auf der Potenzmenge, welches jeder nichtleeren Menge ∞ zuordnet,

(ii) das Maß auf der Potenzmenge, welches genau den abzahlbaren Mengen den Wert 0zuordnet, ansonsten aber ∞ ist

(iii) das Zahlmaß auf der Potenzmenge,

(iv) das Hausdorffmaß auf der Hausdorff σ-Algebra zu vorgegebenem α ∈ (0, 1)

(v) das Lebesguemaß auf der Borel- bzw. Lebesgue σ-Algebra.

Proposition 23 Das Lebesgue Maß ist bis auf Vielfache das einzige translationsinvarianteRadonmaß auf den reellen Zahlen versehen mit der Borel σ-Algebra.

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WS10/11 Maßtheorie

Beweis: • Das Lebesguemaß ist translationsinvariant.Betrache D := A ∈ B | ∀x ∈ IR : λ(A) = λ(A + x). Dies ist ein Dynkin System

und enthalt den durchschnittabgeschlossenen Erzeuger der halboffenen Intervalle (a, b]. NachLemma 3 gilt D = B.

Eindeutigkeit: Durch den Wert µ((0, 1]) wird, verwende Additivitat und Translationsin-varianz das Maßes µ, das Maß fur alle halboffenen Intervalle (p, q], p, q ∈ Ql festgelegt. Diesebilden ein Erzeugersystem der Borel σ-Algebra. q.e.d.

2.1.3 Nichtmeßbare Mengen

Lemma 24 Es gibt nicht lebesguemeßbare Mengen auf dem Einheitsintervall.

Beweis: Definiere auf den reellen Zahlen die Aquivalenzrelation

x ∼ y ⇔ x− y ∈ Ql.

Aus jeder Aquivalenzklasse [x] := y ∈ IR | x ∼ y wahle einen Reprasentanten aus [0, 1].Dies ist moglich nach dem Auswahlaxiom. A tut’s.

Angenommen A ist lebesguemeßbar. Die Mengen A + q, q ∈ Ql, sind paarweise disjunkt.Das Lebesguemaß von B :=

⋃ q∈Ql ∩[−1,1](A+ q) berechnet sich via der Translationsinvarianzzu

λ(B) =∑

q∈Ql ∩[−1,1]

λ(A+ q) =∑

q∈Ql ∩[−1,1]

λ(A+ q) =∞λ(A)

mit den moglichen Werten 0 oder ∞. Andererseits gilt [0, 1] ⊂ B ⊂ [−1, 2] und damit 1 ≤λ(B) =∞λ(A) ≤ 3. Dies ist ein Widerspruch. q.e.d.

Proposition 25 Es gibt lebesguemeßbare Mengen, die nicht borelmeßbar sind.

Bew: Betrachte dazu die Cantorabbildung ϕ : C\B3 → [0, 1]\B2 aus (2.3). ϕ ist bijektiv undwegen der Monotonie sind ϕ und ϕ−1 borelmeßbar.

Sei A eine nicht lebesguemeßbare Menge. Dann ist ϕ−1(A) ⊂ C als Nullmenge lebesgue-meßbar, aber nicht borelmeßbar. q.e.d.

Bemerkung: Auch nicht meßbare Mengen sind manchmal nutzlich. Sei (Ω,A, µ) einbeliebiger Maßraum und C eine eventuell nicht meßbare Menge. Dann ist die Einschrankung(Ω|C = C,A|C = A∩C | A ∈ A, µ∗

|C) mit µ∗|C(A) := µ∗(A∩C) = infµ(B) | B ∈ A, A∩C ⊂

B ein Maßraum. Ist µ ein W-maß und hat C das außere Maß 1, so ist µ∗C ein W-maß.

2.2 Diverses

2.2.1 Regularitat∗Sei (Ω,A, µ) ein Maßraum. Ein Maß µ heißt von außen regular oder von oben regularbzgl. einem Mengensystem C, falls fur alle meßbaren Mengen A gilt

µ(A) = infµ(C) | A ⊂ C ∈ C.

Analog definiert man von innen regular oder unten durch

µ(A) = supµ(C) | C ∋ C ⊂ A.

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WS10/11 U. Rosler

µ heißt regular bzgl. C, falls es von außen und innen regular ist.Ein Maß µ heißt von außen σ−regular oder von oben bzgl. einem Mengensystem C,

falls fur alle meßbaren Mengen A gilt

µ(A) = inf∑

n

µ(Cn) | A ⊂ ∪nCn, Cn ∈ C.

Regularitat ist eine Art σ-Stetigkeit des Maßes bzgl. gewisser Mengensysteme.

Lemma 26 Jedes Radonmaß auf den reellen Zahlen ist regular von innen bzgl. kompaktenMengen, regular von außen bzgl. offenen Mengen und σ−regular von außen bzgl. kompaktenMengen.

Beweis: Sei zuerst µ ein endliches Maß. Betrachte die Menge D aller meßbaren Mengen,die sich dem Maße nach beliebig gut von außen durch offene Mengen und von innen durchabgeschlossene Mengen approximieren lassen.• D enthalt alle abgeschlossenen beschrankte Intervalle.Das Intervall [a, b] ist abgeschlossen und enthalten in der offenen Menge (a− ǫ, b+ ǫ). Die

σ-Stetigkeit des Maßes liefert µ((a− ǫ, b+ ǫ))→ǫ→ µ([a, b]).• D ist ein Dynkinsystem mit IR.D enthalt die reellen Zahlen und ist abgeschlossen bzgl. der Differenz aufsteigender Mengen

ist einfaach zu zeigen. Fur die Abgeschossenheit bzgl. abzahlbarer disjunkter Vereinigung seienDn ∈ D paarweise disjunkt. Wahle zu vorgegebenem ǫ abgeschlossene Mengen An und offeneMengen Un mit An ⊂ Dn ⊂ Un und µ(Un\An) ≤ ǫn und

n ǫn < ǫ. Sei N ∈ IN. Dann sindA = ∪n≤NAn abgeschlossen, U = ∪nUn offen und erfullen A ⊂ ∪nDn ⊂ U und

µ(U\A) ≤ µ(⋃

n

Un\⋃

m

Am) + µ(⋃

m

Am\A) ≤∑

n

µ(Un\An) +∑

m>N

µ(Dm) < 2ǫ.

Die zweite Summe ist klein fur große N wegen der Endlichkeit des Maßes (∑

n µ(Dn) <∞)).• D ist die Borel σ-Algebra.Die Menge der abgeschlossenen Intervalle erzeugen die Borel σ-Algebra, sind durchschnitt-

stabil und in D. Damit ist das Dynkinsystem eine σ-Algebra.• µ ist regular von oben durch offenen und von unten durch abgeschlossene.Folgt aus obigem.• µ ist regular von unten durch kompakte.Die abgeschlossenen beschrankten Mengen sind nach dem Satz von Heine-Borel genau

die kompakten Mengen. Zu jeder abgeschlossenen Menge A gibt es eine enthaltene kompakteMenge K mit µ(A\K) beliebig klein wahlbar. (A∩ [−n, n] ist kompakt und aufsteigend gegenA.)• Jedes µ ist σ−regular von oben durch kompakte.Jede offene Menge U laßt sich schreiben als hochstens abzahlbare disjunkte Vereinigung

von offenen Intervallen. Jedes offene Intervall I laßt sich beliebig gut durch hochstens abzahl-bar viele Kompakta [a, b] ⊂ I uberdecken mit µ(a) = 0 = µ(b). Fertig. (Formal: Zu vorgebe-nem B ∈ B wahle eine offene Obermenge U mit µ(U\B) < ǫ. U ist darstellbar als disjunkteVereinigung

⋃ In von abzahlbar vielen offenen Intervallen In. Uberdecke jedes Intervall In wieoben beschrieben durch abzahlbar viele kompakte Intervalle Kn,m = [an,m, an,m+1],m ∈ ZZmit µ(an,m) = 0, deren Innere alle disjunkt sind. Dies ist moglich, da x | µ(x) > 0hochstens abzahlbar ist (Ubung). Es gilt 0 ≤∑m µ(Kn,m)− µ(In) = 0.

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WS10/11 Maßtheorie

Damit folgt B ⊂ U ⊂ ∪n,mKn,m und∑

n,m µ(Kn,m) =∑

n µ(In) = µ(U) ≤ µ(B) + ǫ.)• Der Satz gilt auch fur nichtendliche Maße.Finde eine Folge xn ∈ IR mit xn →n→∞=∞ und xn →n→−∞ −∞ und µ(xn) = 0. dies

ist moglich. Dann zerlege IR in die disjunkten Intervalle (xn, xn+1], n ∈ ZZ und das Maß indie Summe abzahlbar vieler eingeschrankte Maße µn = µ(· ∩ (xn, xn+1). Der Rest ist Ubung.q.e.d.

Das folgende Lemma besagt in Worten, jede Borelmenge ist irgendwo dick.

Lemma 27 Sei λ das Lebesguemaß auf IR und B eine Borelmenge von strikt positivem Le-besguemaß. Dann existiert fur alle ǫ > 0 ein offenes, nichtleeres Intervall I mit

λ(I ∩B)

λ(I)≥ 1− ǫ.

Beweis: OEdA sei B beschrankt. Wahle eine offene Obermenge U von B mit λ(U\B) < δ.Die offene Menge hat eine Darstelllung U =

⋃ n∈INIn mit In offene Intervalle. Schatze ab

λ(B) =∑

n

λ(In ∩B)

λ(In)λ(In) ≤ sup

m

λ(Im ∩B)

λ(Im)

n

λ(In) ≤ supm

λ(Im ∩B)

λ(Im)(λ(B) + δ).

Fur δ hinreichend klein muß das Supremum dicht bei 1 liegen. q.e.d.

Proposition 28 Sei B eine Borelmenge von strikt positivem Lebesguemaß. Dann ist 0 eininnerer Punkt von B −B = x− y | x, y ∈ B.

Beweis. Sei I ein Intervall mit λ(I ∩B) > 34λ(I) > 0. Sei A := I ∩B. Hieraus folgt

λ(A ∩ (A+ ǫ)) = λ(A) + λ(A+ ǫ)− λ(A ∪ (A+ ǫ))

≥ 2λ(A)− λ(I ∪ (I + ǫ)) ≥ 2λ(A)− λ(I)− ǫ ≥ λ(I)

2− ǫ

Fur hinreichend kleine ǫ hat A ∩ (A+ ǫ) strikt positives Maß und ist daher nicht leer. Daherenthalt B −B ⊃ A−A die Werte ǫ und auch −ǫ. Dies reicht. q.e.d.

2.2.2 Isomorphien und standard Lebesgueraume*

Weshalb spielen Maße auf den reellen Zahlen versehen mit der Borel-σ-Algebra solch eine pro-minente Rolle? Antwort: Abzahlbar erzeugte σ-Algebren sind isomorph zur Borel σ-Algebraauf den rellen Zahlen eingeschrankt auf eine Teilmenge.

Zwei meßbare Raume heißen isomorph, falls es eine bimeßbare Bijektion der Grundraumegibt. (Eine Funktion heißt bimeßbar, falls sie bijektiv ist und sie und ihre Inverse meßbarsind.) Beachte, die σ-Algebren sind isomorph als geordnete Raume bzgl. der Mengeninklusion.(Der Isomorphiebegriff von σ-Algebren bezieht sich nur auf eine bijektive, strukturerhaltendeAbbildung zwischen den σ-Algebren. Fur meßbare Raume nimmt man den Grundraum mithinzu.)

Ein Borelraum ist eine Borelmenge versehen mit der induzierten Borel-σ-Algebra einestopologischen Raumes. Ein meßbarer Raum heißt separabel oder abzahlbar erzeugt, falls eseinen abzahlbaren Erzeuger gibt. Ein meßbarer Raum heißt punktetrennend oder hausdorffschfalls es zu jedem ω 6= ω′ eine meßbare Menge A gibt, die ω, aber nicht ω′ enthalt.

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WS10/11 U. Rosler

Durch Aquivalenzbildung laßt sich jeder meßbare Raum hausdorffsch machen. Die Rela-tion ω ∼ ω‘ ⇔ ∃A ∈ A : ω ∈ A, ω′ 6∈ A ist eine Aquivalenzrelation auf Ω. Der Raum Ω/∼der Aquivalenzklassen versehen mit der σ-Algebra

A/∼ := [ω] | ω ∈ A | A ∈ A)

ist ein Hausdorffscher meßbarer Raum.

Satz 29 Sei (Ω,A) ein separabler, hausdorffscher, meßbarer Raum. Dann ist (Ω,A) isomorphzu einer (nicht notwendig meßbaren) Menge in IR versehen mit der eingeschrankten Borel σ-Algebra. Diese Bijektion kann gegeben werden durch

f :=∑

n∈IN3−n211En .

Hierbei ist En ∈ A | n ∈ IN ein abzahlbarer Erzeuger fur A. Die Abbildung f : E → f(E)ist bimeßbar.

Beweis: f ist wohldefiniert und bijektiv. Fur die Bimeßbarkeit argumentiere uber Erzeugerund der Trialdarstellung f(En) = x ∈ f(Ω) | xn = 2. q.e.d.

Alle separablen metrischen Raume sind isomorph bzgl. der meßbaren Struktur zu einerTeilmenge der reellen Zahlen versehen mit der Borel σ-Algebra. Wahlen wir als abzahlbarenErzeuger der σ-Algebra einen abzahlbaren Erzeuger der Topologie, z.B. die offenen Balle mitrationalem Radius, so erhalt obige Konstruktion zwar die Topologie, nicht aber die Metrik.

Zwei Maßraume heißen isomorph, falls es eine maßerhaltende Isomorphie der meßbarenRaume gibt.

Maße werden durch einen Isomorphismus der meßbaren Struktur eindeutig transportiert.Fur alle abzahlbar erzeugten σ-Algebren reicht es daher Maße auf reellen Zahlen genauer zustudieren.

Wir sprechen von einem Standardlebesgueraum, falls die meßbaren Raume vollstandig sindund, nach eventueller Entfernung einer Nullmenge, maßtheoretisch isomorph zur Lebesgue-σ-Algebra auf IR versehen mit dem Lebesguemaß und eingeschrankt auf eine Menge ist.

Bemerkung:Die Konstruktion von Satz 29 geht auch mit der Binar- anstelle der Trialdar-stellung. Es treten dabei abzahlbar viele Punkte auf, deren Dualdarstellung nicht eindeutigist. Dies ist eine Lebesguenullmenge. Der Vorteil der Konstruktion per Binardarstellung isteine zusammenhangendere Menge als in der Trialdarstellung.)

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WS10/11 Maßtheorie

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Kapitel 3

Integrale

Ziel dieser Sektion ist der Integralbegriff als lineare und σ-stetige Fortsetzung I des Maßes µauf Funktionen.

Ein Maß µ fassen wir als eine Abbildung auf Indikatorfunktionen 11A auf, I(11A) = µ(A).Diese Abbildung setzen wir linear fort zu einer Abbildung I auf der Menge T+ der positivenTreppenfunktionen f =

∑ni=1 ai11Ai

via

I(f) :=∑

i

aiµ(Ai).

Damit ist die algebraische Erweiterung beendet.

Wir erweitern die Abbildung I zu I durch einen geeigneten Konvergenzbegriff via

I(f) = limn

I(fn)

mit Treppenfunktionen fn konvergiert gegen f. Als Konvergenzbegriff benutzen wir Ord-nungskonvergenz, fn konvergiert aufsteigend punktweise gegen f .

Mengentheoretischer Zugang: Eine Alternative ist der mengentheoretische Zugang.Wir identifizieren eine positive Funktion f : Ω 7→ IR+ mit der Menge (ω, x) | 0 ≤ x ≤ f(ω)auf dem Produktraum Ω× IR und definieren das Integral als das Mas dieser Menge bezuglichdem Produktmas. (IR ist versehen mit der Borel σ-Algebra und dem Lebesguemaaß.)

Vektorraumstruktur Ein anderer gern gewahlter Zugang ist es, die Menge T der Trep-penfunktionen als Vektorraum zu betrachten, mit einer Norm zu versehen, bezuglich dieserNorm T abzuschließen und dann das Funktional I auf den Abschluß von T stetig zu erweitern.Wir kommen hierauf bei banachraumwertigen Funktionen zuruck.

3.0.3 Algebraische Erweiterung

Eine Treppenfunktion ist eine Funktion der Form

f =n∑

i=1

ai11Ai(3.1)

mit reellen Zahlen a1, . . . , an und meßbaren Mengen A1, . . . , An. Die Standarddarstellungeiner Treppenfunktion ist eine Darstellung wie oben mit der zusatzlichen Forderung allea1, . . . , an sind verschieden und die die Mengen A1, . . . , An bilden eine meßbare Zerlegung

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WS10/11 Maßtheorie

(=Partition) des Stichprobenraumes Ω. (Zerlegung=Menge von Teilmengen, die paarweisedisjunkt sind und deren Vereinigung der ganze Raum ist. Wir sprechen von meßbarer Zerle-gung, falls die Mengen stets meßbar sind.)

Proposition 30 Die Treppenfunktionen sind genau die meßbaren Funktionen mit endlichemBildraum. Jede mb. Treppenfunktion hat eine eindeutige Standarddarstellung gegeben durch

f =n∑

i=1

ai11f−1(ai) (3.2)

mit a1, . . . , an die verschiedenen Werte von f .

Beweis: Eine Treppe a111A1 ist meßbar und die endliche Summe meßbarer Funktionen istmeßbar. Damit nimmt jede Treppenfunktion nur endlich viele Werte an und ist meßbar.

Die Darstellung (3.2) ist eindeutig fur eine meßbare Funktion mit endlichem Bildraum.Dies ist die Standarddarstellung einer Treppenfunktion. q.e.d.

Die Menge T = T (Ω, IR) der Treppenfunktionen ist ein Vektorraum. Wir betrachten denpositiven Kegel T+ der positiven Treppenfunktionen. (OEdA sind die Koeffizienten positiv.)Definiere auf T+ die Abbildung I

I(f) :=n∑

i=1

aiµ(f−1(ai))

mit Hilfe der Standarddarstellung von f.

Proposition 31 Die Funktion I : T+ → IR ist eine additive, skalare, isotone und erweiterteFunktion.

Beweis: I ist wohldefiniert, da die Standarddarstellung eindeutig ist. Mit entsprechender No-tation zeigen wir die Additivitat.

I(f + g) =∑

i

ciµ((f + g)−1(ci)) =∑

i

ci∑

j,k|aj+bk=ciµ(f−1(aj) ∩ g−1(bk))

=∑

j

k

(aj + bk)µ(f−1(aj) ∩ g−1(bk))

=∑

j

k

ajµ(f−1(aj) ∩ g−1(bk)) +

j

k

bkµ(f−1(aj) ∩ g−1(bk))

= I(f) + I(g)

Die Skalaritat und die Isotonie (die Differenz von Treppenfunktion ist eine Treppenfunktion)sind einfach. q.e.d.

Bemerkung: Fur einen additiven Operator auf einem Vektorraum ist Isotonie und Posi-tivitat dasselbe.

Folgerung: Fur jede Darstellung∑m

i=1 bi11Bieiner Treppenfunktion f gilt (nachrechnen)

I(f) :=m∑

i=1

biµ(Bi) (3.3)

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WS10/11 U. Rosler

Hintergrund Ordnungsstruktur

Sei A eine Menge. Eine Relation ist eine Teilmenge R von A × A. Die Komposition oderVerknupfung zweier Relationen R,Q ist gegeben durch

R Q =: (a, c) | ∃b ∈ A : (a, b) ∈ R, (b, c) ∈ Q.

Das Inverse einer Relation ist R−1 := (b, a) | (a, b) ∈ R. Eine Relation heißt reflexiv, fallsdie Relation die Diagonale (a, a) | a ∈ A enthalt. Eine Relation heißt symmetrisch, falls dieRelation gleich ihrer Inversen ist. Eine Relation heißt antisymmetrisch, falls der Durchschnittder Relation mit der Inversen genau die Diagonale ist. Eine Relation heißt transitiv, falls dieRelation unter Komposition abgeschlossen ist (R R ⊂ R).

Eine Teilordnung oder partielle Ordnung oder Ordnung auf einer Menge A ist eine re-flexive, antisymmetrische und transitive Relation. Wir schreiben a b fur (a, b) ∈ R undsprechen von b dominiert oder majorisiert a oder auch b ist großer als a. Analog benutzenwir Minorante und kleiner. Ein Tupel (A,) heißt geordnete Menge .

Sei (A,) eine partielle Ordnung. Ein Element a ∈ A heißt obere Schranke von B ⊂ Afalls b ≤ a fur alle b ∈ B gilt. Eine Menge B ⊂ A heißt nach oben (unten) beschrankt, falls eseine obere (untere) Schranke von A gibt. Wir sprechen von einer kleinsten oberen Schranke avon B falls a eine obere Schranke ist und fur alle anderen oberen Schranken x gilt a ≤ x.Notation: a = supb∈B b =

b∈B b.Eine kleinste obere Schranke a heißt Maximum von B, falls zusatzlich a ∈ B gilt.Notation: x = maxb∈B b.Analog verwenden wir das Infimum infb∈B =

b∈B b und Minimum.Notation: a ∨ b := supa, b a ∧ b := infa, b.

Ein Verband ist eine geordnete Menge abgeschlossen bzgl. endlichem Supremum und end-lichem Infimum. Wir schreiben (A,≺,∧,∨) in der Notation wie oben. Ein Verband heißt vonoben (unten) vollstandig falls jede nach oben (unten) beschrankte Teilmenge ein Supremum(Infimum) besitzt. Er heißt vollstandig, falls er von unten und oben vollstandig ist. Ana-log verwenden wir σ-vollstandig falls jede beschrankte abzahlbare Menge ein Supremum undInfimum besitzt.

Eine isotone Funktion ist eine ordnungserhaltende Funktion. Eine isotone Funktion f heißtvon unten σ-stetig, falls fur jede aufsteigende abzahlbare Folge an ∈M mit supn an ∈M gilt∨nf(an) = f(∨nan). Analog verwenden wir von oben σ-stetig und σ-stetig fur beides.

Bemerkung: Jeder Verband laßt sich σ-vervollstandigen, (von unten, von oben, ver-vollstandigen). Darunter verstehen wir eine kleinste, ordnungserhaltende und injektive Ein-bettung des Verbandes in einen σ-vollstandigen (von unten, von oben, vollstandigen) Ver-band. Bis auf Isomorphie (ordnungserhaltende Bijektion) ist diese eindeutig. (Keine Ubung:Dies ist eine mathematische Standardkonstruktion. Z.B. lassen sich so die reellen Zahlen ausden rationalen Zahlen konstruieren.) Weiterhin: jede isotone, von unten σ-stetige AbbildungI : V 7→ IR∪∞ laßt sich eindeutig von unten σ-stetig fortsetzen auf die σ-Vervollstandigungdes Verbandes durch

I(v) = limn

I(vn).

Hierbei ist vn ∈M, n ∈ IN, eine Folge mit vn րn v. Dies bildet den abstrakten Hintergrundunserer folgenden Argumentation.

Bemerkung: Eine σ-Algebra ist ein Verband mit der Ordnung induziert durch die Enthal-tensrelations, A ≺ B ⇔ A ⊂ B,A∨B = A∪B,A∧B = A∩B. Dieser Verband ist vollstandig.

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WS10/11 Maßtheorie

Ein Maß ist von unten σ-stetig, eine endliches Maß sogar σ-stetig. Der Satz von Caratheodoryist die σ-stetige Erweiterung einer σ-stetigen, additiven und isotonen Abbildung auf einemVerband. Der Ring (=Verband) wird erweitert zur σ-Algebra (Verbandsvervollstandigung)und das Pramaß zum Maß.

Das Integral

Der Raum der reellwertigen, positiven, erweiterten Treppenfunktionen T+ = T (IR+) verse-hen mit der punktweisen Ordnung ist ein Verband. Die Vervollstandigung von T+ bzgl. σ-Stetigkeit von unten ist der Raum F+

der erweiterten reellwertigen, meßbaren und positivenFunktionen. Zu gegebener Funktion f ∈ F+

konvergieren zum Beispiel die Treppenfunktionenfn

fn(x) :=n2n∑

i=0

i

2n11 i

2n≤f(x)< i+1

2n

aufsteigend gegen f.Die Erweiterung von I kann nur funktionieren, falls I auf T+ bereits σ-stetig von unten

ist. Dies liefert die nachste Proposition.

Proposition 32 Die Funktion I (3.3) ist eine additive, skalare, isotone, von unten σ-stetigeerweiterte Funktion. Die Abbildung I eingeschrankt auf I−1(IR) ist σ-stetig.

Beweis: Die Wohldefiniertheit, Linearitat, Skalaritat und Isotonie wurde in Proposition 31gezeigt.

Fur die σ-Stetigkeit von unten betrachte eine aufsteigende Folge fn ր f aus T+. Seien0 ≤ a1 < a2 < ... < aN die Werte von f und Ai = f−1(ai).• I(fn11Ai

)ր I(f11Ai) fur alle i = 1..N.

Dies folgt aus der σ-Stetigkeit des Maßes,

aiµ(Ai) = I(ai11Ai) ≥ I(fn11Ai

) ≥ (ai − ǫ)µ(Ai ∩ fn ≥ ai − ǫ)→n (ai − ǫ)µ(Ai).

Mit ǫ→ 0 erhalten wir die Teilbehauptung.• σ-Stetigkeit von unten.

I(fn) =∑

i

I(fn11Ai)ր

i

I(f11Ai) = I(f).

• I eingeschrankt auf I−1(IR) ist σ-stetig.Fur eine Folge fn ց f ∈ T+ betrachte f1−fn ր f1−f und argumentiere wie oben. q.e.d.

Definiere die Abbildung I von F+in die erweiterten reellen Zahlen via

I(f) = limnր∞

I(fn).

fur irgendeine Folge fn von positiven Treppenfunktionen punktweise aufsteigend gegen f.

Satz 33 Die Abbildung I : F+ → IR ist wohldefiniert. Sie ist als additive und σ-stetigeFortsetzung des Maßes µ eindeutig und ist additiv, skalar, isoton und σ-stetig von unten. DieFortsetzung I eingeschrankt auf I−1(IR) ist σ-stetig.

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WS10/11 U. Rosler

Beweis: • I ist wohldefiniert.Seien fn und gm zwei monoton gegen f aufsteigende Folgen von Treppenfunktionen. Dann

giltlimn

I(fn) ≥ limn

I(fn ∧ gm) = I(gm).

Dies ergibt limn I(fn) ≥ limm I(gm). Aus Symmetriegrunden gilt auch die andere Unglei-chung.• I ist additiv, skalar und isoton.Einfach.• I ist σ-stetig.Sei F+ ∋ fn ր f. Seien T+ ∋ fi,n րi fn. Dann konvergieren die Treppenfunktionen

gn :=∨

i,m≤n fi,m ≤ fn isoton gegen f. Aus der Sandwichposition

I(f) = lim I(gn) ≤ limn

I(fn) ≤ I(f)

ergibt sich die Behauptung.• Die Fortsetzung I eingeschrankt auf I−1(IR) ist σ-stetig.Verwende σ-Stetigkeit von unten und fn ց f ⇔ f1 − fn ր f1 − f.Es verbleibt die Eindeutigkeit der Fortsetzung zu zeigen. Dies ist einfach. q.e.d.Bem: F+

ist die σ-Vervollstandigung von unten bzgl. der (punktweisen) Ordnung vonT+. I ist die einzig mogliche σ-stetige Fortsetzung von I.

Jede Funktion f : Ω 7→ IR hat eine eindeutige Zerlegung f = f+ − f− mit f+ := f ∨0, f− = (−f)+. Sei Fe der Raum alle meßbaren erweiterten Funktionen f mit I(f+) oderI(f−) endlich. Erweitere I auf Fe durch

˜I(f) := I(f+)− I(f−).

Dies Objekt nennen wir Integral bzw. genauer Lebesgueintegral.

Dies ist (fast) der allgemeinste Integralbegriff.

Gebrauchliche Notationen fur das Integral ˜I sind

˜I(f) =: µ(f) =:

f(ω)dµ(ω) =:

Ωf(ω)µ(dω) =:

fdµ =:

f = µ(f) = µf.

Fur eine meßbare Menge A verwenden wir

Afdµ :=

f11Adµ.

Speziell auf IR verwenden wir∫ b

afdµ :=

(a,b]fdµ.

Hat µ keine Punktmaße (∀x ∈ IR : µ(x) = 0), so benutzen wir auch

∫ b

afdµ :=

[a,b]fdµ =: −

∫ a

bfdµ.

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WS10/11 Maßtheorie

Ist µ das Lebesguemaß λ auf IR so schreiben wir

f(x)λ(dx) =

f(x)dx.

Fur W-mase P ist∫fdP =: E(f) =: Ef der Erwartungswert von f.

Eine integrierbare Funktion f ist eine meßbare Funktion mit endlichem Wert∫ |f |dµ <∞.

Der Raum L1 der integrierbaren Funktionen ist ein Vektorraum.

Korollar 34 Das Integral∫

auf den integrierbaren Funktionen ist eine additive, skalare,isotone und σ-stetige Abbildung.

Ublicherweise wird nicht der Raum der integrierbaren Funktionen verwendet, sondern derRaum L1 der Aquivalenzklassen [f ] bzgl. der Aquivalenzrelation

f ∼ g ⇔∫

|f − g|dµ = 0.

Aus der Aquivalenzklasse werden dann Reprasentanten benutzt. (Der Integralwert ist un-beeinflußt von der Auswahl des Reprasentanten.) Der Sprachgebrauch unterscheidet nichtzwischen Funktionen und Aquivalenzklassen.

Korollar 35 Es gibt eine Bijektion zwischen erweiterten, additiven, skalaren, positiven undvon unten σ-stetigen Abbildungen I auf den positiven mesbaren Funktionen und Masen µ.Diese Bijektion kann gegeben werden durch I(11A) = µ(A).

Bew: Die so definierte Abbildung ist ein Mas und I die eindeutige Erweiterung im obigenSinne. q.e.d.

Bemerkung: Sei A ein linearer Operator auf eine Vektorraum von Funktionen mit Wertenin den reellen Zahlen. Dann ist A positiv genau dann wenn A isoton ist.

Bsp: Dichte: Sei µ ein Maß und f ≥ 0 eine meßbare Funktion. Dann ist die Mengen-funktion ν : A 7→ IR, definiert durch

ν(A) :=

Af dµ,

ein Maß.Notation dν = fdµ oder auch ν = fµ.Die Funktion f heißt Radon-Nikodym Dichte von ν bzgl. µ. Geschrieben g = dν

dµ .Bsp: Radon-Nikodym Dichte bzgl. dem Lesbesguemaß:Wir betrachten ein W-Maß

µ auf (IR,B). Die zugehorige Verteilungsfunktion F sei stetig differenzierbar. Die Behauptungist ∫

g(x)dµ(x) =

g(x)F ′(x)dx

fur alle integrierbaren Funktionen g. Die Behauptung ist richtig fur eine Treppe g = 11A mitA = (a, b]. (µ(A) =

A F ′(x)dx = F (b) − F (a).) Damit ist sie richtig fur jede A-meßbareMenge. (Die Menge M = A ∈ A | µ(A) = ∫

A F ′(x)dx ist eine σ-Algebra,die einen Erzeugerenthalt.) Da beide Seiten additiv und σ-stetig sind, gilt Gleichheit fur alle positiven meßbarenFunktionen. Dann aber auch fur alle integrierbaren Funktionen.

Die Funktion F ′ ist die Radon-Nikodym Dichte aus obigem Beispiel.

30

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WS10/11 U. Rosler

Bsp: Diskrete Raume: Sei Ω endlich oder abzahlbar versehen mit der Potenzmenge undsei µ ein Maß. Dann ist µ =

ω∈Ω f(ω)δω mit f(ω) = µ(ω). Das Integral ist die Summe,

gdµ =∑

ω∈Ωg(ω)f(ω).

Die Abbildung ω 7→ f(ω) laßt sich als Radon-Nikodym Dichte von µ bzgl. dem Zahlmaßauffassen.

3.0.4 Konvergenzsatze

Sei∫

das oben definierte Integral fur einen beliebigen Maßraum (Ω,A, µ). Wir benutzen∫f =

∫fdµ.

Satz 36 (Monotone Konvergenz) Sei fn, n ∈ IN, eine steigende (fallende) Folge erwei-terter meßbarer Funktionen und sei

∫f1 > −∞ (

∫f1 <∞.) Dann gilt

limn

fn = limn

fn.

Beweis: Dies ist die σ-Stetigkeit des Integrals. q.e.d.

Lemma 37 (Lemma von Fatou) Sei fn, n ∈ IN, eine Folge erweiterter, meßbarer Funk-tionen. Sind die fn gleichmaßig nach unten beschrankt durch eine integrierbare Funktion, sogilt

lim inf

fn ≥∫

lim inf fn.

Sind die fn gleichmaßig nach oben beschrankt durch eine integrierbare Funktion, so gilt

lim sup

fn ≤∫

lim sup fn.

Beweis: Definiere gm :=∧

m≤n fn. Die Folge gm,m ∈ IN, konvergiert aufsteigend gegenlim infn fn. Mit dem Satz von der monotonen Konvergenz erhalten wir

fm ≥∫

gm րm

lim infn

fn.

Fur die zweite Aussage betrachte die Folge −fn und beachte lim inf(−fn) = − lim sup fn.q.e.d.

Satz 38 (Dominierte Konvergenz) Sei fn, n ∈ IN, eine punktweise konvergente Folge er-weiterter, meßbarer Funktionen. Weiterhin sei |fn|, n ∈ IN, gleichmaßig durch eine integrier-bare Funktion beschrankt. Dann gilt

limn

fn =

lim fn.

Beweis: Folgerung aus dem Lemma von Fatou.

lim sup

fn ≤∫

lim sup fn =

lim inf fn ≤ lim inf

fn ≤ lim sup

fn.

31

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WS10/11 Maßtheorie

q.e.d.

Die Forderung einer Schranke ist essentiell. Als Beispiel betrachten wir: Ω = (0, 1] versehenmit der Borel σ-Algebra und dem Lebesguemaß λ. Sei fn := n11(0,1/n]. Es gilt limn fn ≡ 0,

lim

fndλ = 1 > 0 =

limn

fndλ.

Der Satz uber dominierte Konvergenz ist nicht anwendbar. Das Lemma von Fatou ist an-wendbar und die Ungleichung strikt.

3.0.5 Transformationssatz

Satz 39 (Transformationssatz) Sei (Ω,A, µ) ein Maßraum und (Ω′,A′) ein meßbarer Raum.Sei T : Ω 7→ Ω′ eine meßbare Abbildung. Dann gilt fur meßbare (erweiterte) Funktionenf : Ω′ 7→ IR, sofern eine Seite wohldefiniert ist,

f T dµ =

fd(µT )

Beweis: Die Aussage ist leicht nachzurechnen fur f = 11A′ , A′ ∈ A′. (Ubung). Beide Seitensind lineare, σ-stetige Fortsetzungen (einer Mengenfunktion). Diese sind eindeutig. q.e.d.

Beispiel: Sei T eine stetig differenzierbare Funktion auf den reellen Zahlen mit striktpositiver Ableitung T ′ und sei µ das Lebesguemaß. Es gilt die Transformationsformel mity = T (x), f integrierbar,

∫f(y)

T ′(T−1(y))dy =

f(T (x))dx.

Hierbei ist das Maß Tµ gegeben durch

(µT )((a, b]) =

[a,b]

1

T ′(T−1(y))dy.

Z.B. f(x) = ex, T (x) = x2 = y, µ(dx) = dx, x2 = y, dx = dy2√y ,

∫ey

2√ydy =

ex2dx.

Fur weitere und genauere Rechenregeln siehe Lehrbucher uber Differential und Integralrech-nung.

Fubini

Der wesentliche Satz dieses Abschnittes ist der Satz von Fubini.

Seien (Ω,A, µ) und (Ω′,A′, µ′) meßbare Raume. Ein Maß ν auf dem Produktraum Ω×Ω′

versehen mit der Produkt σ-Algebra A⊗A′ = σ(E), E = A × A′ | A ∈ A, A′ ∈ A′ heißtProduktmaß zu µ, µ′ falls ν(A×A′) = µ(A)µ′(A′) gilt fur alle A×A′ ∈ E .

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WS10/11 U. Rosler

Der Schnitt Bω einer Menge B ⊂ Ω×Ω′ bzgl. ω ist die Menge ω′ ∈ Ω′ | (ω, ω′) ∈ A⊗A′.

B

ω Bω

Satz 40 Zu zwei Masen gibt es ein Produktmas. Sind die Mase σ-endlich, so ist das Pro-duktmas eindeutig.

Beweis: Wir definieren ν durch

ν(B) =

(

11Bω(ω′)µ′(dω′)µ(dω).

Die Menge D aller B fur die obiges wohldefiniert ist, ist ein Dynkinsystem. Dies Systementhalt den durchschnittstabilen Erzeuger E der Produkt σ-Algebra. Damit ist D die Produktσ-Algebra.

Die Eindeutigkeit folgt aus Satz 14. q.e.d.Notation: µ

⊗µ′ ist das Produktmaß, falls eindeutig definiert.

Bem: Sind µ, µ′ σ-endlich, so auch das Proktmaß µ⊗

µ′.

Satz 41 (Fubini) Seien µ, µ′ σ-endliche Maße. Dann gilt

(

f(ω, ω′)dµ(ω))dµ′(ω′) =∫

f(ω, ω′)d(µ× µ′)(ω, ω′) =∫

(

f(ω, ω′)dµ′(ω′))dµ(ω).

Beweis: Aus Symmetrie und Eindeutigkeitsgrunden reicht es nur das zweite Gleichheitszeichenzu zeigen. Sei OEdA f positiv.

Fur f eine Treppe 11B mit B ∈ E gilt die Gleichheit. Da beide Seiten lineare und vonunten σ-stetige Abbildungen auf mesbaren Funktionen sind, gilt die Gleichheit fur Treppen-funktionen und den aufsteigenden Grenzwert von Treppenfunktionen. Das war’s. q.e.d.

Bemerkung: Die σ-Endlichkeit ist wichtig. Als Beispiel betrachten wir µ das Lebesguemaßund µ′ das Zahlmaß auf dem Einheitsintervall. Die Funktion (x, y) 7→ f(x, y) = 11x=y istmeßbar. Es gilt

(

f(x, y)dµ(x))dµ′(y) = 0

(

f(x, y)dµ′(y))dµ(x) = 1.

Diese Bemerkung zeigt, das man die Eindeutigkeit des Produktmaßes nicht σ-endliche Maßeund die Vertauschbarkeit der Integrale verliert (vgl. Halmos [7] page 145, Hahn-RosenthalSET FUCTIONS 1948 chap IV,§16[6]).

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WS10/11 Maßtheorie

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Kapitel 4

Ungleichungen

Fur Ungleichungen gibt es im wesentlichen zwei Quellen, uber die Monotonie und uber konvexeFunktionen. Ungleichungen mit Hilfe der Monotonie werden Markoffungleichungen genannt.Wesentliche bessere Ungleichungen ergeben sich durch konvexe Funtionen. Die Jensenunglei-chung in ihrer Grundform gilt jedoch nur fur Wahrscheinlichkeitsmaße.

Roslers Metatheorem:

Alle guten Integralungleichungen beruhen auf Konvexitat.

4.1 Markoff Ungleichung

Die Ungleichungen in diesem Abschnitt beruhen auf Monotonie.

Lemma 42 (Markoff Ungleichung) Sei ϕ : IR 7→ IR eine isotone, positive Funktion. Esgilt fur alle a ∈ IR

ϕ(f)dµ ≥ ϕ(a)µ(f ≥ a)

Beweis: Beachte ϕ(a)11ϕ(f)≥ϕ(a) ≤ ϕ(f) und verwende die Isotonie des Integrals. q.e.d.

Wichtige Spezialfalle sind die Momentabschatzungen fur ϕ(x) = xp, x, p ≥ 0

|f |pdµ ≥ apµ(|f | ≥ a)

und die exponentiellen (=Chernoff) Abschatzungen, ϕ(x) = exp(λx), λ ≥ 0

exp(λf)dµ ≥ exp(λa)µ(f ≥ a).

Fur W-maße ist ein praktischer und wichtiger Spezialfall die Tchebyscheff Ungleichung:

(f − e)2dµ ≥ a2µ(|f − e| ≥ a)

mit dem Erwartungswert e =∫fdµ.

Bemerkung: – In der Regel werden die Momentenabschatzungen besser fur zentrierteMomente.

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WS10/11 Maßtheorie

– Die Momentenabschatzungen sind besser als die Chernoff Abschatzungen, da gilt, (UbungReihenentwicklung)

infp>0

∫ |f |pdµap

≤ infλ>0

∫exp (λf)dµ

exp (λa).

Da sich hohere Momente schlecht berechnen lassen, werden gerne exponentiellen Abschatzun-gen genommen. Diese sind in der Regel gut.

Proposition 43∫ |f |dµ = 0⇔ µ(|f | > 0) = 0.

Beweis: Die Markoff Ungleichung aµ(|f | > a) ≤ ∫ |f |dµ liefert die Hinrichtung. Fur dieRuckrichtung sei

∫ |f |dµ > 0. Folglich gibt es eine Treppenfunktion 0 ≤ g ≤ |f | mit∫gdµ > 0.

Fur diese gilt 0 < µ(g > 0) ≤ µ(|f | > 0)). q.e.d.

4.2 Jensen Ungleichung

Die Ungleichungen in diesem Abschnitt beruhen auf Konvexitat.

Eine reellwertige Funktion ϕ auf einem Intervall I heißt konvex, falls fur alle t ∈ (0, 1)und x 6= y ∈ I gilt

ϕ(tx+ (1− t)y) ≤ tϕ(x) + (1− t)ϕ(y). (4.1)

Sie heist strikt konvex, falls in 4.1 stets echt kleiner gilt.

Satz 44 (Jensen) Sei P ein W-mas und ϕ eine konvexe Funktion. Dann gilt fur jede inte-grierbare Funktion f , sofern alles wohldefiniert ist,

ϕ X dP ≥ ϕ(

f dP ).

Gleichheit gilt genau dann, wenn die Funktion ϕ eine Gerade ist, Pf−1 fast uberall.

Beweis: Ohne Beweis sei angefuhrt, daß es fur jedes x0 ∈ IR eine lineare Funktion l, l(x) =ax+ b) (=Tangente) gibt mit l ≤ ϕ und l(x0) = ϕ(x0). Es gilt mit x0 = inf fdP

ϕ f dP ≥∫

l f dP = l(

f dP ) = l(x0) = ϕ(x0). (4.2)

• Gleichheit.

Gilt uberall Gleichheit in (4.2), so folgt∫(ϕ− l)︸ ︷︷ ︸

≥0

d(Pf−1) = 0 und daraus nach (43) die

Bedingung. Umgekehrt, die Bedingung impliziert die Gleichheit in (4.2). q.e.d.

Merkregel Meine Eselsbrucke ist Falscher Effee fur Eϕ ≥ ϕE.

Bemerkung: – Fur strikt konvexe Funktionen gilt Gleichheit genau dann, wenn f fastsicher konstant ist.

– Die Jensen-Ungleichung gilt auch, sofern EX wohldefiniert ist. (Der Positivteil oder derNegativteil von X ist integrierbar.)

– Die Jensen-Ungleichung gilt auch fur konvexe Funktionen ϕ : I → IR auf einem IntervallI.

Warnung: Die Jensenungleichung gilt nur fur Wahrscheinlichkeitsmaße.

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WS10/11 U. Rosler

Beispiel: p-te Momente Fur 1 ≤ p <∞ gilt fur W-maße∫

|f |pdP ≥ (

|f |dP )p.

Aber es gilt∑

n∈IN |xn|p ≤ (∑

n |xn|)p fur das Zahlmas.Mehrere interessante Ungleichungen folgen aus der Jensen Ungleichung in folgender ver-

allgemeinerter Form:

Korollar 45 (Jensen) Sei ϕ eine konvexe Funktion und µ ein Maß auf den reellen Zahlen.Seien f, g meßbare Funktionen und sei g integrierbar und uberall strikt positiv. Dann gilt,Wohldefiniertheit vorausgesetzt,

ϕ(

∫f

∫g) ≤

∫gϕ(f/g)∫g

.

Beweis: Das W-maß ν, gegeben durch ν(A) := 1a

A gdµ, A ∈ A, und a :=∫gdµ ist ein

W-maß. Die Jensenungleichung ergibt

linke Seite = ϕ

∫f

gdν ≤

ϕ(f

g)dν = rechte Seite.

Lp-Ungleichungen: Definiere fur 1 ≤ p <∞ die Abbildung ‖.‖p auf meßbaren Funktionendurch

‖f‖p := (

|f |pdµ)1/p. (4.3)

Die Abbildung ist wohldefiniert.

Satz 46 (Holder Ungleichung) Sei 1 < p < ∞ und q definiert durch 1/p + 1/q = 1. Furmeßbare Funktionen f, g gilt

‖fg‖1 ≤ ‖f‖p‖g‖q. (4.4)

Sind obige Ausdrucke endlich und ungleich 0, so gilt Gleichheit genau fur |f |p und |g|q sindechte Vielfache voneinander fast sicher.

Beweis: Sei die rechte Seite endlich. Nehme in Korollar 45 die konvexe Funktion ϕ(x) = −x1/pund die Funktionen |f |p, |g|q. Es ergibt sich die Holderungleichung. Da ϕ strikt konvex ist,gilt Gleichheit genau im Fall |f |p/|g|q eine Konstante. q.e.d.

Corollary 47 (Cauchy-Schwarz Ungleichung)

|fg|dµ ≤√∫

f2dµ

g2dµ.

Beweis: Spezialfall der Holderungleichung fur p = 2. q.e.d.

Corollary 48 Fur 1 < p, q, r und 1/p+ 1/q = 1/r gilt

‖fg‖r ≤ ‖f‖p‖g‖q.

Satz 49 (Minkowski) Fur 1 ≤ p <∞ gilt

‖f + g‖p ≤ ‖f‖p + ‖g‖p.

Gleichheit gilt genau fur f und g sind fast sicher positive Vielfache voneinander f.s..

37

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WS10/11 Maßtheorie

Beweis: Fur die Minkowskiungleichung verwende IR+ ∋ x 7→ ϕ(x) = −(1 + x1/p)p und dieFunktionen |f |p und |g|p. Die Gleichheit ergibt sich genau fur |f | und |g| Vielfache voneinanderund |f + g| = |f |+ |g| fast sicher. q.e.d.

Die letzten 4 Aussagen gelten auch fur 1 ≤ p, q, r ≤ ∞, wenn wir

‖f‖∞ := infa > 0 | µ(|f | > a) = 0

setzen. ‖f‖∞ heißt essentielles Supremum esssupf von |f | oder L∞-Norm.

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Kapitel 5

Orlicz und Lp-Raume

Besonders schone Raume von meßbaren Funktionen sind Lp-Raume, eine Unterklasse derOrlicz Raume. Hiervon wiederum sind die L2-Raume als Hilbertraume besonders interessant.Jeder Hilbertraum ist isomorph zu einem L2-Raum.

5.1 Orlicz-Raume

Eine Orliczfunktion ist eine unterhalbstetige positive konvexe Funktion ϕ : IR+ 7→ IR+ mitϕ(0) = 0 ungleich der 0-Funktion. Eine erweiterte Orliczfunktion ist eine unterhalb stetige,

positive, konvexe, erweiterte Funktion ϕ : IR+ 7→ IR+mit ϕ(0) = 0 und die Endlichkeitsmenge

D = ϕ−1(IR) hat ein nichtleeres Inneres.Orlicz Funktionen sind monoton steigend, links stetig und stetig bis auf eventuell in

dem rechten Randpunkt dr > 0 von D. Sie besitzen eine rechtsseitige Ableitung D+ϕ(x) =

limy↓xϕ(y)−ϕ(x)

y−x und eine linksseitige Ableitung D−ϕ(x) = limy↑xϕ(y)−ϕ(x)

y−x im Inneren von D.Erweitere die rechtsseitige (links-) Ableitung rechtsstetig (links-) zu einer erweiterten Funkti-on via dem Wert ∞ auf (dr,∞). Die Ableitungen sind jeweils monoton wachsend und rechts-bzw. linksstetig. Die linksseitige Ableitung ist stets kleiner gleich der rechtsseitigen und siestimmen uberein bis auf eventuell abzahlbar viele Punkte.

Jede erweiterte Orliczfunktion ϕ hat die Darstellung

ϕ(x) =

[0,x[Dϕ(dy) =

(x− y)+µ(dy)

mit µ ist ein Radonmaß auf D (zu DDϕ mit µ(0) = 0). (Es ergibt sich dasselbe Maß furdie links- bzw. rechtseitige Ableitung.)

Sei (Ω,A, µ) ein Maßraum und ϕ eine erweiterte Orlicz Funktion. Definiere die Abbildungd = dϕ : F × F → IR auf meßbaren Funktionen f, g via

dϕ(f, g) := infc > 0 |∫

ϕ

( |f − g|c

)

dµ ≤ 1.

Proposition 50 Es gilt∫ϕ( |f−g|dϕ(f,g)

)

dµ ≤ 1.

dϕ ist symmetrisch, erfullt die Dreiecksungleichung

dϕ(f, g) ≤ dϕ(f, h) + dϕ(h, g)

und ist ideal, d.h. dϕ(f + h, g + h) = dϕ(f, g) und dϕ(af, ag) = adϕ(f, g), a > 0.

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WS10/11 Maßtheorie

Bew: Die erste Aussage folgt aus monotoner Konvergenz.Wir rechnen nur die Dreiecksungleichung nach. OEdA sei die rechte Seite endlich. Sei

a > dϕ(f, h) und b > dϕ(g, h). Dann gilt

ϕ

( |f − g|a+ b

)

dµ ≤∫

ϕ

(a

a+ b

|f − h|a

+b

a+ b

|g − h|b

)

≤∫

a

a+ bϕ

( |f − h|a

)

dµ+

∫b

a+ bϕ

( |g − h|b

)

≤ a

a+ b+

b

a+ b= 1.

q.e.d.Die letzte Eigenschaft fuhrt auf Vektorraume. Sei ‖ · ‖ϕ : F → IR definiert durch ‖f‖ϕ =

dϕ(f, 0). Definiere Lϕ als die Menge aller f mit ‖f‖ϕ endlich. (Dies ist die Menge aller f mit∫ϕ( |f |c )dµ <∞ fur ein c > 0.)Lϕ ist ein Vektorraum. Sei Lϕ der Raum der Aquivalenzklassen bzgl. der Aquivalenzrela-

tion ∼ϕ,f ∼ϕ g ↔ dϕ(f, g) = 0

Diese stimmt uberein mit f ∼ g ⇔ µ(f 6= g) = 0. In Lϕ benutzen wir die ubliche Addition +

+([f ], [g]) := [f ] + [g] := [f + g]

die Skalarmultiplikation · : IR× Lϕ → Lϕ

·(c, [f ]) := c[f ] := [cf ]

und die Abbildung dϕ([f ], [g]) = dϕ(f, g) und ‖ · ‖ϕ : Lϕ 7→ IR

‖[f ]‖ϕ := dϕ(f, 0).

Lϕ heißt Orlicz Raum und ‖.‖ϕ die Orlicz Norm.Warnung:Wir unterscheiden in der Regel notationsmaßig nicht zwischen Funktionen und

ihren Aquivalenzklassen. Ebenso interessiert in der Regel nicht, wie groß die Aquivalenzklassenwirklich sind.

Bem: Das Verhalten der konvexen Funktion am rechten Endpunkt dr spielt keine Rollein der Definition des Orliczraumes. Wir konnten daher auch die Forderung unterhalbstetigweglassen.

Satz 51 Fur jede erweiterte Orlicz Funktion ϕ ist (Lϕ, ‖.‖ϕ) ein Banachraum.

Beweis: Alle genannten Objekte sind wohldefiniert. Lϕ ist ein Vektorraum und ‖.‖ϕ ist eineNorm (wird nachgerechnet). Beachte hierbei

ϕ(|f − g|) ≤ 1

2ϕ(|f |) + 1

2ϕ(|g|).

Wir kommen jetzt zur Vollstandigkeit. Sei [fn] ∈ Lϕ eine Cauchyfolge. Wir konnen eineTeilfolge ni →i ∞ wahlen mit ‖[fni+1 ] − [fni

]‖ϕ = bi < 2−i. Es reicht den Satz fur dieTeilfolge zu zeigen. Also konnen wir oEdA annehmen, die Teilfolge ist die Originalfolge. NehmeFunktionen fn als Representanten der Aquivalenzklasse [fn]. Sei g =

n∈IN |fn+1 − fn|

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WS10/11 U. Rosler

• ‖g‖ϕ ≤ 1.

Fur vorgegebenes ǫ =∑

i ǫi <∞ mit ǫi > 0 argumentiere

ϕ

( |g|1 + ǫ

)

dµ ≤∫

ϕ

(∑

n

bn + ǫn1 + ǫ

|fn+1 − fn|bn + ǫn

)

≤∑

n

bn + ǫn1 + ǫ

ϕ

( |fn+1 − fn|bn + ǫn

)

≤ 1

Mit ǫ→ 0 folgt die Teilbehauptung.

• g is f.s. endlich.

Wende die Markoffungleichung an auf die konvexe Funktion x 7→ ϕ(xc ) mit c = ‖f‖ϕ

µ(g > a) ≤∫ϕ( |g|

c

)

ϕ(ac

)

≤ 1

ϕ(ac

) →a→∞ 0.

• fn →n f = f1 +∑

i∈IN (fi+1 − fi) in Orlicznorm.

f ist wohldefiniert und endlich fast sicher. Aus der Teleskopdarstellung f = fn+∑

i≥n(fi+1−fi) folgt

‖f − fn‖ϕ ≤ ‖∑

i≥n

(fi+1 − fi)‖ϕ ≤∑

i≥n

‖fi+1 − fi‖ϕ →n 0.

Es verbleibt zu zeigen, dass die Aquivalenzklasse von [f ] unabhangig ist von der Auswahlder Reprasentanten. (Wir uberschlagen dies.) q.e.d.

Eine Orliczfunktion erfullt die ∇−Bedingung falls es ein a > 1 und b <∞ gibt mit

ϕ(ax) ≤ bϕ(x)

fur alle x ≥ 0.

Satz 52 Sei ϕ eine Orlicz Funktion mit der ∇−Bedingung. Dann ist (Lϕ, ‖.‖ϕ) separabel furjedes Radon Maß auf Ω = IR.

Beweis: Sei zuerst µ ein endliches Maß. Die Menge T aller Treppenfunktionen

N∑

n=1

qn11(rn,sn)

mit rationalen Zahlen qn, rn, sn ∈ Ql, N ∈ IN tut’s.

• T ist abzahlbar.

• 1A, A ∈ A liegt in dem Abschluß T von T bezuglich ‖.‖ϕ.Wegen der Regularitat des Maßes konnen wir A durch eine offene Menge U von oben

dem Maße nach approximieren. Jede offenen Menge konnen wir als abzahlbare Vereinigungdisjunkter offener Intervalle Un, n ∈ IN, schreiben. Jedes Un approximieren wir von oben

41

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WS10/11 Maßtheorie

durch offene Intervalle Vn mit rationalen Koeffizienten. Sei V := ∪Nn=1Vn. Damit ist fur jedesvorgegebene c > 0

ϕ

( |11A − 11V |c

)

dµ =

ϕ

(1

c

)

|11A − 11V |dµ

≤ ≤ ϕ

(1

c

)

(µ(U\A) + µ(V \U))

beliebig klein durch Wahl geeigneter Approximationen.• Alle Treppenfunktionen liegen in T .• Alle positiven f ∈ Lϕ liegen in T und dann auch ganz Lϕ.Hier muss man aufpasssen. Approximiere f von unten durch Treppenfunktionen fn. Dies

kann geschehen mit f − fn ≤ frac1n auf einer Menge An mit µ(Acn) klein. Wir erhalten

ϕ(f − fn

c) ≤ ϕ(

1

nc)µ(An) +

An

ϕ(f

c)

Der erste Term ist klein in n fur festes c.Der zweite wird abgeschatzt mit Hilfe der∇−Bedingungdurch µ(An)b

m mit m so gewahlt, dass cam ≥ ‖f‖ϕ gilt. Dies wird beliebig klein fur n hin-reichend gross.• Lϕ liegt in T .Zerlegung in Positiv und Negativteil.• T tut’s auch fur nicht endliche Maße.Zerlege den Raum Ω geeignet durch eine Partition und ’klebe’ aneinander. Puh. q.e.d.Bem: Ohne die ∇−Bedingung gibt es Gegenbeispiele zur Separabilitat.Lp-Raume Das Standardbeispiel ist die Orlicz Funktion ϕp(x) = xp fur ein 1 ≤ p < ∞.

Die Orlicznorm wird

‖f‖ϕp = (

|f |pdµ)1/p.

Der Orlicz-Raum Lϕp heißt Lp-Raum und die zugehorige Orlicz-Norm ‖.‖p := ‖.‖ϕp heißtLp-norm.

Bemerkung: Die L∞-Norm wird definiert durch

‖f‖∞ := esssup|f | := infα ∈ IR | µ(|f | > α) = 0 (5.1)

und L∞ analog dazu. Die L∞-Norm und der L∞-Raum ist die Orlicz Norm und der OrliczRaum zur erweiterten Orlicz Funktion ϕ = ∞11(1,∞). Der Raum L∞ ist vollstandig, aber imallgemeinen nicht separabel.

Proposition 53 Sei µ ein W-maß und 1 ≤ p ≤ q ≤ ∞. Dann gilt ‖f‖p ≤ ‖f‖q und Lp ⊃ Lq.

Beweis: Jensen angewandt auf die konkave Funktion x 7→ xp/q, x ≥ 0 ergibt

‖f‖p =(∫

|f |p)1/p

≤(∫

|f |pq/p)p/qp

= ‖f‖q.

Die erste Aussage impliziert die zweite Aussage. q.e.d.Bemerkung Sei 1 ≤ p < ∞. Sei L∗

p der Dualraum, d.h. der Raum der linearen undstetigen Funktionale auf Lp. Der Satz von Fischer-Riesz besagt L∗

p = Lq mit 1/p + 1/q = 1.Fur jedes lineare stetige Funktional B : Lp → IR gibt es ein g ∈ Lq mit B(f) =

∫fgdµ.

Warnung: Im allgemeinen gilt L∗∞

⊃6= L1.

Hilbertraume Besonders wichtig sind die L2-Raume, da sie Hilbertraume sind.

42

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WS10/11 U. Rosler

Lemma 54 L2 versehen mit der Bilinearform

< f, g >:=

fg dµ

und der Norm√< f, f > = ‖f‖2 ist ein Hilbertraum.

Hilbertraume sind selbstdual. Jeder Hilbertraum hat eine Orthonormalbasis. Hilbertraumemit gleicher Kardinalitat der Orthonormalbasis sind isomorph. Hilbertraume mit vorgegebe-ner Basiskardinalitat lassen sich uber Zahlmaße konstruieren. (D eine Menge, µ(A) = |D∩A|11d, d ∈ D bildet Orthonormalbasis mit der gleichen Kardinalitat wie D. ) Die Separabilitateines Hilbertraumes ist aquivalent zur Existenz einer hochstens abzahlbaren Basis.

Die Hilbertraume sind genau die L2-Raume.

Warnung: Im allgemeinen gilt L∗∞

⊃6= L1.

Die Hilbertraume sind genau die L2-Raume.

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WS10/11 Maßtheorie

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Kapitel 6

Konvergenz und Topologie

Wir betrachten verschiedene Konvergenzarten auf dem Raum der Maße und auf dem Raumder Zufallsgroßen.

Beachte, daß fast jede Konvergenzart eine Konvergenz im topologischen Sinne ist undumgekehrt, (Pedersen [9]). (Ein topologischer Raum ist ein Tupel (E, τ), wobei E eine Mengeist und τ eine Teilmenge der Potenzmenge ist, die E enthalt und abgeschlossen ist bezuglichendlichem Durchschnitt und beliebiger Vereinigung. Eine Folge en ∈ E, n ∈ IN, konvergiertgegen e ∈ E, falls fur alle U ∈ τ mit e ∈ U es ein n0 gibt, sodaß fur alle n ≥ n0 gilt en ∈ U.)Die fast sichere Konvergenz ist eine Aussnahme, dies ist keine topologische Konvergenzart.

6.1 Konvergenz von W-maßen

Fur ein Maß µ und eine Funktion f benutzen wir µ(f) :=∫fdµ, falls dies wohldefiniert ist.

Eine Folge µn von Maßen konvergiert bzgl. einer Klasse F von Funktionen, falls fur allef ∈ F gilt

µn(f)→n µ(f).

Notation: µnK→n µ.

Die zugehorige Topologie wird erzeugt von den Mengen

Uǫ,f (µ) := ν |∣∣∣∣

fdν −∫

fdµ

∣∣∣∣ < ǫ,

ǫ > 0, f ∈ F .Fur F bestehend aus den Treppen 11A, A ∈ A, erhalten wir die punktweise Konvergenz

von Maßen.

Ab jetzt sei (Ω, τ) ein topologischer Raum. Wir sprechen von schwacher Konvergenzfur die Konvergenz bezuglich aller stetigen beschrankten Funktionen.

Notation: µnw→n µ oder µn

d→n µ oder µnCb→n µ. Hierbei steht w fur weak , d fur dis-

tribution und Cb fur die Funktionenklasse. (Die W-theoretische schwache Konvergenz ist diefunktionalytische schwach* Konvergenz.)

Wir sprechen von vager Konvergenz fur die Konvergenz bzgl. allen stetigen Funktionenmit kompaktem Trager. (Der Trager supp(f) einer Funktion ist die kleinste abgeschlosseneMenge f 6= 0 enthaltend.)Notation: µn

v→n µ.

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WS10/11 Maßtheorie

Eine Familie M von Maßen heißt straff, falls es fur alle ǫ > 0 eine kompakte Menge Kgibt mit µ(Kc) ≤ ǫ fur alle µ ∈M.

Lemma 55 Eine Folge von W-maßen konvergiert schwach genau dann, wenn sie vage kon-vergiert und die Familie straff ist.

µnd→n µ⇔ µn

v→n µ und µn, n ∈ IN straff.

Beweis:’⇒‘ Sei K ein kompaktes Intervall und Kǫ := x ∈ IR | ∃y ∈ K : |x − y| ≤ ǫ. Es

gibt eine stetige Funktion f, die auf dem Kompaktum K stets 1 ist, außerhalb von Kǫ stets0 und ansonsten von unten durch 0, von oben durch 1 beschrankt ist (Lemma von Urysohn,[3]). Es gilt

µn(Kcǫ ) ≤ µn(1− f)→n µ(1− f) ≤ µ(Kc).

Wahlen wir K mit µ(K) ≥ 1− ǫ so gilt µn(Kcǫ ) < ǫ bis auf endlich viele n. Wir vergroßern

K entsprechend, um die restlichen n’s mit einzuschließen.

’⇐‘ Sei g stetig, beschrankt, und f,K wie oben. Argumentiere g = fg + (1− f)g,

|µn(g)− µ(g)| = |µn(fg)− µn(fg)|+ |µn((1− f)g)− µ((1− f)g)|.

Der erste Term wird klein fur n hinreichend groß. Der zweite Term wird abgeschatzt durch≤ ‖g‖∞(µn(K

c) + µ(Kc)) und klein fur K hinreichend groß. q.e.d.Beispiel: µn = δn auf den reellen Zahlen konvergiert vage (gegen Null), aber nicht

schwach.

Fur eine Verteilungsfunktion F sei F−1 die linksstetige Inverse

F−1(u) := infx | F (x) ≥ u.

Lemma 56 Seien µ, µn, n ∈ IN, W-maße auf den reellen Zahlen. Aquivalent sind die Aussa-geni) Die Folge µn konvergiert schwach gegen µ.ii) Die Folge konvergiert bezuglich einer der Klassen Cc, C

∞b , C∞

c .iii) Die zugehorigen Verteilungsfunktionen Fn konvergieren gegen F fur alle Stetigkeitspunktevon F.iv) Die Inversen F−1

n konvergieren gegen F−1 fur alle Stetigkeitspunkte von F−1.

Beweis: i) ⇔ ii). Konvergenz bzgl. Cb ist hier gleichbedeutend, Lemma 55, mit Konvergenzbzgl. Cc. Jede Funktion aus Cc laßt sich in Supremumsnorm beliebig gut durch eine C∞

c

Funktion approximieren. Dies reicht.i)⇒ iii) Sei fa diejenige stetige Funktion,die 1 auf (−∞, a], 0 auf [a + ǫ,∞) und sonst

linear ist. Es gilt

F (a− ǫ) ≤ µ(fa−ǫ)←n µn(fa−ǫ) ≤ Fn(a) ≤ µn(fa)→n µ(fa) ≤ F (a+ ǫ).

Anders geschrieben,

F (a− ǫ) ≤ lim infn

Fn(a) ≤ lim supn

Fn(a) ≤ F (a+ ǫ).

Dies gilt fur alle ǫ > 0.

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WS10/11 U. Rosler

iii) ⇐ i) Die Menge S der Stetigkeitspunkte von F ist dicht. (Eine monoton steigendeFunktion hat hochstens abzahlbar viele Unstetigkeitspunkte und ides sind Sprungstellen.)Betrachte die Menge aller meßbarer beschrankter Funktionen f mit µn(f) →n µ(f). DieseMenge ist abgeschlossen bzgl. Addition und gleichmaßiger Konvergenz. Sie enthalt alle Trep-pen 11(−∞,s] mit s ∈ S ein Stetigkeitspunkt. Die Menge enthalt alle stetigen Funktion mitkompaktem Trager, da diese sich gleichmaßig durch Treppenfunktionen obiger Treppen ap-proximieren lassen. Folglich konvergiert µn vage. Zusammen mit Straffheit der Folge, siehegleich, folgt schwache Konvergenz.• µn, n ∈ IN, ist straff.

Wahle Stetigkeitspunkte s1, s2 mit F (s1) < ǫ, F (s2) > 1− ǫ. Fur K = [s1, s2] gilt

µn(Kc) ≤ Fn(s1) + 1− Fn(s2)→n F (s1) + 1− F (s2) < 2ǫ.

Daher gilt µn(Kc) < 2ǫ bis auf endlich viele n. Wir vergroßern jetzt K entsprechend, um

diese n mit einzuschließen.iii) ⇔ iv) Dies ist einfach fur F stetig und strikt steigend. Der allgemeine Fall ist eine

unschone Ubung. q.e.d.

Eine Familie F von Funktionen heißt separabel oder trennend bzgl. einer Familie Mvon Maßen, falls je zwei Maße aus der Familie sich fur mindestens eine Funktion f aus derFunktionenfamilie unterscheiden. (∀µ 6= ν ∈M∃f ∈ F : µ(f) 6= ν(f).)

Cc ist W-maß trennend, Lemma 56 und Eindeutigkeit der Verteilungsfunktion.

6.1.1 Gleichgradige Integrierbarkeit

Gleichgradige Integrierbarkeit ist eine Eigenschaft von Maßen. Wir werden die w-theoretischeSprache mit Zgn verwenden.

Eine Familie F von Zgn heißt gleichmaßig integrierbar oder gleichgradig integrierbar, fallsgilt

g(c) := supX∈F

|X|>c|X|dP −→c→∞ 0.

Fur eine Funktion f heißt die Familie F gleichmaßig f -integrierbar oder gleichgradig f -integrierbar, falls die Familie f(X), X ∈ F gleichmaßig integrierbar ist. Eine Familie F vonZgn heißt p-gleichmaßig integrierbar 1 ≤ p < ∞, oder gleichmaßig p-integrierbar , fallssie gleichgradig f -integrierbar ist fur die Funktion f(x) = |x|p.

Bem: Gleichgradige Integrierbarkeit ist eine Eigenschaft der Verteilungen der Zgn undhangt nicht von der Realisation der Zgn ab.

Bem: Eine Familie gleichgradig integrierbarer Zgn erfullt stets supX E|X| ≤ c+g(c) <∞.Fur eine Zg X definiere H = HX : [0, 1] 7→ IR

HX(t) := sup∫

A|X|dP | P (A) ≤ t.

Fur eine Familie F von Zgn benutzen wir

HF (t) := supX∈F

HX(t).

Falls der W-raum reichhaltig genug ist und eine gleichformig verteilte Zg besitzt, (was wirstets annehmen,) so gilt

HX(t) =

∫ 1

1−tF−1(u)du,

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WS10/11 Maßtheorie

mit F die Verteilungsfunktion zu |X|. (Ubung)

Satz 57 Fur eine Familie F von Zgn sind die folgenden beiden Aussagen aquivalent:

(i) F ist gleichgradig integrierbar.

(ii) Fur alle ǫ > 0 gibt es eine integrierbare Zg Y mit supX∈F∫

|X|>Y |X|dP < ǫ.

(iii) HF : [0, 1]→ IR ist stetig in 0.

(iv) Es gibt eine aufsteigende Funktion ϕ : IR+ → IR+ mit limx→∞ϕ(x)x = ∞ und F ist

gleichgradig ϕ| · |-integrierbar.

Beweis: i)⇒ ii) Wahle Y als eine Konstante.

ii) ⇒ iii) In der Zerlegung

A|X| =

A∩|X|>Y |X|+

A∩|X|≤Y |X| ≤

|X|>Y|X|+

A|Y |

ist der erste Term klein durch Wahl des Y glm. in X. Der zweite Term ist klein in P (A) kleinglm. in X.

iii) ⇒ i) Zu vorgegebenem ǫ > 0 wahle ein p > 0 mit HF (p) < ǫ. Wahle eine Partition(Ai)

Ni=1 von Ω in N ≤ 1

p + 1 Mengen vom Maß ≤ p. Dann gilt gleichmaßig in X ∈ F∫

|X| ≤∫

∪iAi

|X| ≤∑

i

Ai

|X| ≤ HF (p)N <∞.

Die Markoffungleichung liefert

supX

P (|X| > c) ≤ supX

∫ |X|c≤ ǫN

c→c→∞ 0

Es folgt

supX

|X|>c|X| ≤ sup

XHX(P (|X| > c) ≤ sup

XHF (P (|X| > c) ≤ HF (sup

X(P (|X| > c))→c→∞ 0

iv) ⇒ i)∫

|X|>c|X| =

|X|>c

|X|ϕ(|X|)ϕ(|X|) ≤ sup

x≥c

|x|ϕ(|x|)Eϕ(|X|).

Der erste Faktor konvergiert mit c → ∞ gegen 0 glm. in X ∈ F und der zweite ist endlichgleichmaßig fur X ∈ F .

i) ⇒ iv) Wahle aufsteigende Folge 0 = e0 < en →n ∞ mit g(en) ≤ 2−n. Definiere dieFunktion ϕ durch ϕ(x) =

n∈IN0(|x| − en)

+. ϕ ist symmetrisch und auf IR+ strikt monotonsteigend gegen unendlich. Es gilt

limx→∞

ϕ(x)

x= lim

x

n

(x− en)+

x≥∑

n≤n0

lim infx

(x− en)+

x= n0 →n0 ∞

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WS10/11 U. Rosler

Zu vorgegebenem n0 sei c gross mit ϕ(en0) < c

ϕ|X|>cϕ(|X|) =

n

ϕ(|X|)>c(|X| − en)

+

≤∑

n≥n0

|X|>en0

(|X| − en)+ +

n<n0

ϕ(|X|)>c|X|

≤∑

n≥n0

|X|≥en|Xn|+

n<n0

g(ϕ−1(c))

≤∑

n≥n0

2−n +∑

n<n0

g(ϕ−1(c))→c→∞ 0

gleichmaßig fur X ∈ F . q.e.d.

Bemerkung: Die hier konstruierte Funktion ϕ ist eine Orlicz Funktion (ϕ ist positiv, kon-vex und ϕ(0) = 0). Zusatzlich ließe sich ϕ glatt wahlen, eventuell unendlich oft differenzierbarund ϕ(x) > 0 fur x > 0.

Der wesentliche Einsatz gleichgradiger Integrierbarkeit besteht in folgendem Lemma.

Lemma 58 Die Folge (Xn)n konvergiere in Verteilung gegen X∞. . Dann ist gleichgradigeIntegrierbarkeit der Familie Xn, n ∈ IN aquivalent zu

∫ |Xn| →n∫ |X| <∞.

Bew: Hinrichtung: Sei stets c ∈ IR.

• ∫ |X| ≤ lim infn∫ |Xn| <∞∫

|X| ∨ c = limn

|Xn| ∨ c ≤ lim infn

|Xn|

Mit dem Grenzwert c→∞ folgt die Teilbehauptung.

• lim supn∫ |Xn| ≤

∫ |X|∫

|X| ≥∫

|X| ∨ c = limn

|Xn| ∨ c = limn(

|Xn| −∫

(|Xn| − c)+ (6.1)

≥ lim supn

|Xn| − lim supn

(|Xn| − c)+) ≥ lim supn

|Xn| − g(c)(6.2)

Mit c→∞ erhalten wir lim sup∫ |Xn| ≤

∫ |X| ≤ lim inf∫ |Xn| und damit die Hinrichtung.

Fur die Ruckrichtung verwenden wir die Funktion gc mit gc(x) = 11x≥c+(x−c+1)11c−1≤x<c.

|Xn|>c|Xn| =

|Xn| −∫

|Xn|≤c|Xn|

≤ |∫

|Xn| −∫

|X||+ |∫

|X| −∫

|X| ∨ c|+ (

|Xn|≤c|Xn| −

gc(|Xn|))

+|∫

gc(|Xn|)−∫

gc(|X|)|+∫

gc(|X|)=: I + II + III + IV + V

Zu vorgegebenem ǫ gibt es ein c0 und ein n0 so, dass fur alle n ≥ n0 jeder der Terme kleinerals ǫ/5 wird. Zu jedem festen n < n0 gibt es ein cn so, dass die linke Seite kleiner als ǫ wird.Dann folgt mit c = sup0≤i<n0

die gewunschte Aussage g(c) < ǫ.

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WS10/11 Maßtheorie

Korollar 59 Sei Xn, n ∈ IN eine gegen X in Verteilung konvergierende Folge von Zgn. Istdie Familie (Xn)n gleichgradig integrierbar, so vertauschen fur jede stetige Funktion f mit

lim sup|x|→∞

|f(x)||x| <∞ (6.3)

das Integral und der Limes,

limn

f(Xn) =

f(X).

Bew: Die Familie f(Xn), n ∈ IN ist gleichgradig integrierbar und konvergiert in Verteilung.q.e.d.

Das folgende Korollar ist eine W-theoretische Aussage.

Korollar 60 Die L1-Konvergenz einer Folge (Xn)n von Zgn ist aquivalent zur stochasti-schen Konvergenz und gleichgradiger Integrierbarkeit. Beide Grenzwerte stimmen fast sicheruberein.

Bew: Hinrichtung: Die L1-Konvergenz impliziert stochastische Konvergenz und diese Konver-genz in Verteilung. Das obige Lemma liefert wegen ‖Xn‖ → ‖X‖1 die gleichgradige Integrier-barkeit.

Fur die Ruckrichtung argumentiere

|Xn −X| ≤∫

|X−Xn|<ǫ. . .+

ǫ≤|X−Xn|<c. . .+

c≤|X−Xn|. . .

≤ ǫ+ cP (|X −Xn| ≥ ǫ) + 2

|Xn|<c/2|Xn|+ 2

|X|>c/2|X|

alle drei Terme werden beliebig klein fur kleine ǫ, große c und n hinreichend groß. q.e.d.

Korollar 61 Seien Xn, n ∈ IN , p-integrierbare Zgn, 1 ≤ p <∞. Dann sind aquivalent

• Xn konvergiert in Lp.

• Xn → X stochastisch und ‖Xn‖p → ‖X‖p <∞.

• Xn konvergiert stochstisch und die Familie Xn, n ∈ IN ist gleichgradig p-integrierbar.

Im Konvergenzfalle sind der stochastische und der Lp-Limes gleich.

Der Beweis ist einfach aus Obigem...........................................................................

6.1.2 Weitere Metriken

Metriken fur Verteilungsfunktionen: Weitere Metriken lassen sich aus den Verteilungs-funktionen konstruieren. Hintergrund ist die eineindeutige Zuordnung von Maßen und Ver-teilungsfunktionen. Beispiele auf dem Raum der Verteilungsfunktionen sind

d(F,G) := ‖F −G‖∞

d(F,G) = inf ǫ | ∀x ∈ IR : |F (x)−G(x+ ǫ)| < ǫ und |F (x)−G(x− ǫ)| < ǫ

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WS10/11 U. Rosler

d(F,G) =

|F (x)−G(x)|dx.

Diese Metriken auf den Verteilungsfunktionen sind auch Metriken auf W-maßen, durch Iden-tifizierung von Verteilungsfunktion und W-maß. (d(µ, ν) = d(Fµ, Fν).)

Wasserstein Metrik: Sei d eine Metrik auf dem Werteraum E und µ, ν W-maße auf(E,B(E)). Definiere

D(µ, ν) := inf Ed(X,Y ).

Hierbei wird das Infimum uber alle X mit Verteilung µ und alle Y mit Verteilung ν auf einembeliebigen W-raum genommen. Dies ist eine Metrik auf dem Raum der W-maße.

Mallows Metrik: Ein Abstandsbegriff fur Maße impliziert in naturlicher Weise einenAbstandsbegriff fur Zgn via der Verteilung. Umgekehrt, haben wir einen Abstandsbegriff dfur Zufallsgroßen gegeben, so definieren wir einen (potentiellen) Abstandsbegriff d auf Maßendurch

d(µ, ν) := inf d(X,Y ).

Hierbei wird das Infimum uber alle X mit Verteilung µ und alle Y mit Verteilung ν auf einembeliebigen W-raum genommen.

Ein Beispiel ist die Mallows Metrik lp : Mp ×Mp 7→ IR, 1 ≤ p ≤ ∞,

lp(µ, ν) = inf ‖X − Y ‖p

auf dem Raum Mp := µ | ∫ |x|pµ(dx) < ∞ der p-fach integrierbaren Maße auf IR. OhneBeweis sei angefuhrt, das Infimum wird angenommen mit

lp(µ, ν) = ‖F−1µ (U)− F−1

ν (U)‖p,

U eine gleichformig verteilte Zg (siehe [2]).

Satz 62 Der Raum (Mp, lp), 1 ≤ p ≤ ∞, ist ein vollstandiger, metrischer Raum. Er istseparabel fur 1 ≤ p <∞.

Beweis: • Separabilitat.Sei D eine dichte abzahlbare Teilmenge in Lp. Dann ist die Menge aller Verteilungen dazudicht in Mp.

• Vollstandigkeit.Fur die Vollstandigkeit sei µn eine Cauchyfolge in lp-Mallow Metrik. Dann ist F−1

µn(U), U

gleichformig verteilt, eine Lp-Cauchyfolge. Diese konvergiert punktweise gegen ein F−1(U).Das zugehorige W-maß µ tut’s. q.e.d.

Eine Folge Xn ist lp konvergent, falls die Verteilungen in Mallows lp Metrik konvergieren.

Notation: Xnlp→n X.

Proposition 63 lp Konvergenz ist aquivalent zur schwachen Konvergenz plus Konvergenzdes p-ten absoluten Momentes. (=p-gleichmaßige Integrierbarkeit.)

Beweis: Wir benutzen die Version F−1n (U) = Xn und d(Fn, Fm) = ‖F−1

µ (U) − F−1ν (U)‖p.

Dann verwende den Satz 65.

Bemerkung: Beachte auch die gleichmaßige Integrierbarkeit, Korollar ??.

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WS10/11 Maßtheorie

6.2 Konvergenz von Zufallsgroßen

Konvergenzen der Verteilungen: Viele Eigenschaften ubertragen sich von den Vertei-lungen nach folgendem allgemeinen Prinzip: Eine Folge, bzw. Familie von Zgn Xn hat dieEigenschaft ∗, falls die zugehorigen Verteilungen die Eigenschaft ∗ besitzt. In diesem Sinnesprechen wir von schwacher und vager Konvergenz oder von einer straffen Familie vonZgn. Wir verwenden dieselben Symbole, z.B.

Notation: Xnd→ X ⇔ PXn

d→ PX .

Konvergenzen der Zgn: Nun zu Konvergenzarten der Zgn selbst. Eine FolgeXn, n ∈ IN,von Zgn konvergiert stochastisch oder in Wahrscheinlichkeit gegen eine Zg X, falls

limn

P (|Xn −X| > ǫ) = 0

fur alle ǫ > 0 gilt. Wir schreiben Xns→n X oder Xn

P→n X. s steht fur stochastic und P furprobability.

Diese Konvergenz entspricht Konvergenz bzgl. der Topologie auf den Zgn erzeugt durchdie Metrik

d1(X,Y ) := infǫ ∈ IR | P (|X − Y | > ǫ) < ǫ

oder der Metrik

d2(X,Y ) := E(|X − Y |

1 + |X − Y |).

Eine Folge Xn von Zgn konvergiert fast sicher, falls

P (limn

Xn = X) = 1

gilt.

Notation: Xnf.s.→n X.

Eine Folge Xn ist Lp konvergent bzw. konvergiert im p-ten Mittel, 1 ≤ p ≤ ∞, gegen X,

falls ‖Xn−X‖p →n 0. Wir schreiben XnLp→n X und sprechen auch von Konvergenz im p-ten

Mittel.

Hier eine Ubersicht. p-te Moment steht fur Konvergenz des p-ten absoluten Moments.

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WS10/11 U. Rosler

Satz 64

L∞

Lp, 1 ≤ p <∞

L1fast sicher

stochastisch

schwach

vage

+ p-te Moment

+ 1-te Moment

Version

+ 1-te MomentVersion

Version

straff

W-theorie

Maßtheorie

Der Beweis erfogt in einer Reihe von Aussagen.• Stochastische Konvergenz impliziert schwache Konvergenz.

Wir zeigen zuerst Xnv→ X. Sei f ∈ Cc.

|Ef(Xn)− Ef(X)| ≤ E(|f(Xn)− f(X)|(11|Xn−X|≥ǫ + 11|Xn−X|<ǫ))

≤ 2‖f‖∞P (|Xn −X| ≥ ǫ) + sup|x−y|<ǫ

|f(x)− f(y)|.

Der erste Term ist klein fur n groß, der zweite ist klein in ǫ, da eine stetige Funktion aufeinem Kompaktum gleichmaßig stetig ist.

Als nachstes zeigen wir Straffheit.

P (|Xn| > c) ≤ P (|Xn| > c, |Xn −X| < ǫ) + P (|Xn| > c, |Xn −X| ≥ ǫ)

≤ P (|X| > c− ǫ) + P (|Xn −X| ≥ ǫ).

Beide Terme sind klein fur ǫ, c, n geeignet.• Fast sichere Konvergenz impliziert stochastische Konvergenz.

P (|Xn −X| > ǫ) ≤ P (∃N ≥ n : |XN −X| > ǫ)→n 0.

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WS10/11 Maßtheorie

• L1-Konvergenz impliziert stochastische Konvergenz.Dies folgt aus der Markoff Ungleichung

P (|Xn −X| > ǫ) ≤ E|Xn −X|ǫ

→n 0.

• Lq-Konvergenz impliziert Lp-Konvergenz fur 1 ≤ p ≤ q ≤ ∞.Die Jensen Ungleichung ergibt ‖Y ‖p ≤ ‖Y ‖q.• L∞-Konvergenz impliziert fast sichere Konvergenz. Einfach.Gegenbeispiele: Alle Beispiele sind auf dem W-raum ([0, 1],B, λ).• Schwache Konvergenz impliziert nicht stochastische Konvergenz.

Seien Xn, n ∈ IN, uiv Zgn und keine Konstante. Diese Folge konvergiert schwach. Wurde sieauch stochastisch konvergieren, so wurde gelten,

P (|Xn −Xm| > ǫ) ≤ P (|Xn −X| > ǫ/2) + P (|Xm −X| > ǫ/2)→n,m 0.

Andererseits P (|Xn−Xm| > ǫ) = P (|X1−X2| > ǫ) > 0 ist eine strikt positive Konstante furn 6= m und ǫ hinreichend klein. Widerspruch.• Stochastische Konvergenz impliziert nicht fast sichere Konvergenz.

X1 = 11[0,1], X2 = 11[0,1/2], X3 = 11[1/2,1], X4 = 11[0,1/4], X5 = 11[1/4,1/2], ..., X8 = 1[0,1/8], ... usw.Formaler Xn := 11[i/2m,(i+1)/2m] mit n = 2m + i, 0 ≤ i < 2m. (Zeichnung machen!). Diesetut’s.• Lp-Konvergenz, 1 ≤ p <∞ impliziert nicht fast sichere Konvergenz.

Siehe oben.• Fast sichere Konvergenz impliziert nicht Lp-Konvergenz.

Die Folge Xn := an11[0,1/n] konvergiert fast sicher gegen 0, aber nicht in Lp fur geeignetgewahlte an.• Lp-Konvergenz impliziert nicht Lq-Konvergenz, 1 ≤ p < q ≤ ∞.

Wahle eine Folge Xn =∑n

i=1 11( 1i+1

, 1i]ai mit ai geeignet. Ubung.

Nun zu den verbleibenden positive Aussagen mit Zusatzbedingungen.Version: Eine Version einer Zg ist eine Zg mit derselben Verteilung. Beliebt ist folgende

Konstruktion. Sei U eine Zg mit gleichmaßiger Verteilung auf [0, 1]. Dann ist F−1(U) eineVersion von X. Ubung.• Sei Xn schwach konvergent gegen X. Dann existiert eine Version Yn der Xn mit Yn ist

fast sicher konvergent gegen eine Version von X.Seien Fn, F die zugehorigen Verteilungsfunktionen und U eine gleichmaßig verteilte Zg. Danntut’s die Folge Yn = F−1

n (U). Die Aussage beruht auf Lemma 56. (F bzw F−1 hat hochstensabzahlbar viele Unstetigkeitspunkte.) q.e.d.

Bemerkung: Schwache und stochastische Konvergenz stimmen uberein fur Zgn Xn, diegegen eine Konstante konvergieren. Auf diskreten W-raumen stimmen stochastische Konver-genz und fast sichere uberein.

Teilfolgenprinzip: Jede stochastisch konvergente Folge hat eine fast sicher konvergenteTeilfolge. Der Grenzwert ist derselbe. (Ubung)

Den folgenden Satz vergleiche mit dem Korollar ??.

Satz 65 Seien Xn, n ∈ IN , p-integrierbare Zgn, 1 ≤ p < ∞. Xn konvergiert in Lp gegen Xgenau dann, wenn Xn stochastisch gegen X konvergiert und ‖Xn‖p → ‖X‖p <∞ gilt.

XnLp→ X ⇔ Xn

s→ X und ‖Xn‖p →n ‖X‖p <∞.

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WS10/11 U. Rosler

Beweis:’⇒‘ Lp Konvergenz impliziert stochastische Konvergenz. Die umgekehrte Dreiecksun-

gleichung liefert|‖Xn‖p − ‖X‖p| ≤ ‖Xn −X‖p →n 0.

’⇐‘ Sei A die Menge |Xn −X| > ǫ konvergiert mit n dem Maße nach gegen 0.

‖Xn −X‖ ≤ ‖(Xn −X)11A‖+ ‖Xn −X11Ac‖≤ ‖Xn11A‖+ ‖X11A‖+ ǫ

≤ ‖Xn‖ − ‖Xn11Ac‖+ ‖X11A‖+ ǫ

≤ ‖Xn‖ − ‖X11Ac‖+ ‖X11A‖+ 2ǫ

≤ ‖Xn‖ − ‖X‖+ 2‖X11A‖+ 2ǫ→n 2ǫ→ǫ→0 0

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WS10/11 Maßtheorie

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Kapitel 7

Radon-Nikodym Dichte

Ein Maß ν heißt absolut stetig bezuglich µ, falls die µ-Nullmengen auch ν-Nullmengen sind.Wir sprechen auch von µ dominiert ν dominiert .Notation: µ << ν.

Fur ein Maß µ und eine positive meßbare Funktion f definiere das Maß ν durch

A ∋ A 7→ ν(A) =

Afdµ.

Wir schreiben ν = fµ oder dν = fdµ oder auch f = dνdµ . Die Funktion f heißt Radon-Nikodym

Ableitung oder Radon-Nikodym Dichte von ν bzgl. µ. Das Maß ν ist absolut stetig bzgl. µ.Quasi die Umkehrung obigen Beispiels ist der Satz von Radon-Nikodym.

Satz 66 (Radon-Nikodym) Seien µ, ν σ-endliche Maße. Dann ist ν absolut stetig bzgl. µaquivalent zur Existenz einer Radon-Nikodym Ableitung f = dν

dµ . Diese ist µ f.s. eindeutig.

Die σ-Endlichkeit ist wichtig, wie das Beispiel ν das Lebesguemaß und µ das Zahlmaß zeigt.Zwei Maße µ, ν heißen singular zueinander oder orthogonal, falls es eine meßbare Menge

A gibt mit µ(A) = 0 und ν(Ac) = 0. Notation: µ⊥ν.Die Orthogonalitat ist symmetrisch, die absolute Stetigkeit jedoch nicht.

Satz 67 (Lebesgue) Seien µ, ν σ-endliche Maße. Dann ist ν eindeutig darstellbar als dieSumme eines zu µ absolut stetigen Maßes νc und eines zu µ orthogonalen Maßes ν⊥.

Die obigen Satze werden wir fur endliche Maße beweisen und dann mit Hilfe der σ-Endlichkeitstandardmaßig ausdehnen. (Dies uberschlagen wir.) Zur Wiederholung, ein Maß heißt σ-endlich, falls es eine gegen Ω aufsteigende Folge (An)n von Mengen endlichen Maßes gibt.Verwendet wird gerne die aquivalente Bedingung, es gibt eine Partition Bn, n ∈ IN, von Ω inMengen endlichen Maßes. Die Aquivalenz ersieht man aus ∪ni=1Bn = An (bzw. Bn = An\An−1

mit A0 = ∅). Viele Satze uber endliche Maße lassen sich auch fur σ-endliche Maße zeigen,indem man µ(·) =∑

n µ(Bn ∩ ·) benutzt oder einen Grenzwert µ(·) = limn µ(An ∩ ·) benutzt.

7.1 Hahn-Jordan Zerlegung∗

Lemma 68 Sei λ die Differenz µ − ν zweier endlicher Maße. Dann gibt es zueinander or-thogonale endliche Maße λ+, λ− mit λ = λ+ − λ−. Die Zerlegung ist eindeutig.

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WS10/11 Maßtheorie

Ferner gibt es eine µ + ν eindeutige Partition A+⋃ A0

⋃ A− = Ω so dass fur alle A,diekeine (µ+ ν)-Nullmengen sind, gilt

λ(A) =

> 0 falls A ∈ A+

= 0 A ∈ A0

< 0 A ∈ A−

Beweis: Das Supremum α aller Werte λ(A), A ∈ A, ist endlich. Sei An ∈ A eine Folgemeßbarer Ereignisse mit λ(An) ≥ α− ǫn und

n ǫn <∞. Setze A := lim infnAn = ∪m ∩n≥m

An. Dann tun’s λ+, λ− als Einschrankungen von λ auf A bzw. Ac.

Die Folge BMm :=

m≤n≤M An, m ≤ M ∈ IN, ist monoton fallend in M bei festem mgegen eine Menge B∞

m und diese ist monoton steigend in m gegen A.

• λ(BMm ) ≥ α−∑M

n=m ǫn fur alle m,M ∈ IN.

Dies ergibt sich durch Induktion nach M fur festes m. Der Induktionsanfang ist trivial.Der wesentliche Induktionsschritt folgt aus

λ(B ∩ C) = λ(B) + λ(C)− λ(B ∪ C) ≥ λ(B) + λ(C)− α.

Der Rest ist standard.

• λ(B∞m ) ≥ α−∑n≥m ǫn.

Verwende den Satz uber monotone Konvergenz.

• λ(A) = α

Verwende erneut monotone Konvergenz.

• λ(B) ≤ 0 fur alle B ⊂ Ac und λ(C) ≥ 0 fur alle C ⊂ A.

Ansonsten ware λ(A⋃ B) > α oder λ(A\C) > α

• λ+ ≤ µ, λ− ≤ ν.

Einfach.

• Eindeutigkeit. Einfach, wird uberschlagen.

Sei M = A ∈ A | λ(A) = α und β = supA∈M (µ+ ν)(A).

• M ist abgeschlossen bzgl. Infimum und Supremum.

Folgt aus

λ(B ∩ C) + λ(B ∪ C) = λ(B) + λ(C)

und der Definition von α.

• β wird angenommen durch ein µ+ ν eindeutiges bestimmtes Ω+ ∈M.

Nehme Folge An ∈M mit absteigendem µ+ν-Maß. OEdA konnen wir An selbst absteigendwahlen. Der Grenzwert Ω+ tut es.

• Fur A ⊂ Ω+ keine (µ+ ν)-Nullmenge gilt λ(A) > 0.

Leicht.

Definiere Ω− entsprechend fur ν − µ und Ω0 := Ωc+ ∩ Ωc

−. Ω+,Ω0,Ω− ist eine meßbarePartition und es gelten die obigen Aussagen. Die Zerlegung ist eindeutig. q.e.d.

Def: Die obige Zerlegung des signierten Maßes λ bzw. des Grundraumes heißt Hahn-Jordan Zerlegung .

Lemma 69 Seien µ, ν σ-endliche Maße. Dann gibt es eine µ-fast sicher großte, positive,meßbare Funktion f mit fµ ≤ ν punktweise. Diese ist µ-fast sicher eindeutig.

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WS10/11 U. Rosler

Beweis: Wir zeigen das Lemma fur µ, ν endliche Maße. Betrachte

F := f : Ω→ IR+ | meßbar, fµ ≤ ν

und α := supf∈F∫fdµ. F versehen mit der punktweisen Ordnung und dem punktweisen

Infimum, Supremum ist ein Verband. Der wichtige Punkt ist: f, g ∈ F impliziert f ∨ g ∈ F.Dies folgt aus, B = f < g, A ∈ A

Af ∨ g dµ =

A∩Bgdµ+

A∩Bcfdµ ≤ ν(A ∩B) + ν(A ∩Bc) = ν(A)

• α wird fur ein f ∈ F angenommen.Die Menge F ist nicht leer. Sei fn ∈ F eine Folge mit

∫fndν → α.OEdA sei fn aufsteigend.

(Gehe uber zur Folge ∨i≤nfi ∈ F .) Der aufsteigende Grenzwert f der Folge tut’s. Er ist ausF (Satz von der monotonen Konvergenz)

Afdµ = lim

n

Afndµ ≤ ν(A)

und∫

A fdµ = limn∫

A fndµ = α.• f ist großte. Waere g ∈ F. So folgt α ≥ ∫

f ∨ gdµ ≥ ∫fd mu = α und damit 0 ≤

g ∨ f − f ≤ 0 f.s.Die Eindeutigkeit folgt aus demselben Grunde. q.e.d.Beweis des Lebesgue Satzes: Seien µ, ν endlich und f die maximale Funktion mit

fµ ≤ ν. Dann tun’s νc = fµ und ν⊥ = ν − νc.Beides sind Maße und νc ist absolut stetig bzgl. µ. Zu zeigen verbleibt ν⊥⊥µ.Betrachte λt := ν⊥− tµ, Ql ∋ t > 0, und sei Ωt der strikte Positivteil aus der Hahn-Jordan

Zerlegung von λt.• Die Abbildung Ql> ∋ t 7→ Ωt ist (µ+ ν⊥)-f.s. antiton.Es reicht zu zeigen s < t⇒ Ωs ⊃ Ωt µ+ ν⊥ f.s.Die Menge A = Ωt\Ωs erfullt λs(A) ≥ λt(A). Ware A keine (µ + ν⊥)-Nullmenge, so gilt

λt(A) > 0. Dies ware ein ist ein Widerspruch zur λs-Maximalitat von Ωs.• µ(Ωt) = 0 fur t > 0.Auf Ωt gilt ν⊥ ≥ tµ und damit ν⊥ ≥ gµmit g = t11Ωt .Ware µ(Ωt) > 0 so ware ν ≥ (f+g)µ

im Widerspruch zur Maximalitat von f.• ν⊥(Ωc

0) = 0ν⊥(Ω0) = limt→0 ν⊥(Ωt) = limt λt(Ω) = λ(Ω) = ν⊥(Ω)• EindeutigkeitSei ν = ν1 + ν2 eine weitere Zerlegung, ν1 << µ, ν2⊥µ. Auf der µ-Nullmenge Ω0 wie oben

stimmen die beiden Maße ν⊥ und ν2 uberein. Auf der Menge Ωc0 gilt ν1 + ν2 = ν = νc << µ.

Folglich ν2 orthogonal und absolut stetig bzgl. µ auf dieser Menge und damit identisch 0.Damit sind auch νc und ν1 gleich.

Die Ausdehnung von endlichen Maßen auf σ-endliche ist Standard. q.e.d.Beweis Radon-Nikodym: Benutze die Lebesgue Zerlegung νc = fµ wie oben. ν⊥ ist

gleichzeitig orthogonal und absolut stetig bzgl. µ. Dies bedeutet ν⊥ ist identisch 0.Die Umkehrung ist offensichtlich. Anwendung: Mit Hilfe der Radon-Nikodym Dichte

laßt sich unsere Beweisfuhrung besser verstehen. Seien f = dµdm , g = dν

dm die Radon-NikodymAbleitungen zum Referenzmaß m = µ+ν. Dann hat λ = µ−ν die Darstellung λ = fm−gm.f − g heißt auch Radon-Nikodym Dichte von λ zum Referenzmaß m. Dann sind Ω+,Ω0,Ω−die Mengen f − g strikt großer 0, gleich 0 und strikt kleiner 0.

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WS10/11 Maßtheorie

Korollar 70 (Radon-Nikodym Bijektion) Sei µ ein σ-endliches Maß. Es gibt eine Bijek-tion zwischen den endlichen, absolut stetigen Maßen ν bezuglich µ und den Aquivalenzklassenµ-integrierbarer positiver Funktionen f . Diese Bijektion kann gegeben werden durch die Zu-ordnung eines Maßes zu der Aquivalenzklasse der Radon-Nikodym Dichte,

[f ] 7→ fµ

Dies ist eine direkte Folgerung aus dem Satz von Radon-Nikodym.

Ein Vektorraumverband ist ein Objekt (V,+, ·,≤) mit (V,+, ·) ein reeller Vektorraum,(V,≤) ein Verband und die algebraische und die Ordnungsstruktur sind vertraglich (d.h.(ax− z)∨ (ay− z) = a(x∨ y) und (ax− z)∧ (ay− z) = a(x∧ y) fur alle x, y, z ∈ V, a ∈ IR+).

Folgerung: Sei m ein Maß und V der Raum der m-integrierbaren Funktionen. Dies ist einVektorraumverband. Sei L(m) der Raum der Ladungsverteilungen µ−ν mit µ+ν << m. DieAbbildung V ∋ f → fm ∈ L(m) ist ein Vektorraumverbandsisomorphismus. Das Supremumauf M(m) ist definiert durch

λ ∧ ρ = (f ∧ g)m λ ∨ ρ = (f ∨ g)µ

mit den Radon-Nikodym Ableitungen f, g von λ, ρ bzgl. m.

Ladungsverteilung: Sei M die Menge aller endlichen Maße auf einem meßbaren Raum(Ω,A). Die Menge

L = M −M = µ− ν | µ, ν ∈M

der Differenzen endlicher Maße heißt Vektorraum der signierten Maße bzw. der Ladungsver-teilungen.. Elemente daraus heißen signiertes Maß oder Ladungsverteilung. L ist ein Vektor-raumverband. Die Ordnung ist die punktweise Ordnung und das Infimum, Supremum wirdgegeben durch

(ρ ∧ λ)(A) = infB⊂A

(ρ(B) + λ(A\B)) (ρ ∨ λ)(A) = supB⊂A

(ρ(B) + λ(A\B))

(Direktes Nachrechnnen oder leichter mit Hilfe der Radon-Nikodym Ableitung.)

Auf dem Raum der Ladungsverteilungen ist die Abbildung ‖ · ‖tot : V → IR

‖λ‖tot := supA,B∈A

(λ(A)− λ(B)). (7.1)

eine Norm, ganannt die Totalvariationsnorm. Fur ein signiertes Mass λ = µ−µ berechnetsich diese zu

‖λ‖tot =∫

|f − g|d(µ+ µ) = ‖λ+‖tot + ‖λ−‖tot

mit f, g die Radon-Nikodym Ableitungen von µ, ν bzgl. m = µ+ ν. Die Ladungsverteilung λeingeschrankt auf Ω+ ist das Maß λ+ = µ− µ ∧ ν bzw. (f − g)+m.

Bem: Ladungsverteilungen werden manchmal auch eingefuhrt als Abbildungen λ voneiner σ-Algebra A in die erweiterten reellen Zahlen, die σ-stetig ist. (D.h. fur jede aufsteigende(absteigende) Folge An ∈ A gilt λ(An)→ λ(A).) Hat λ endliche Totalvariationsnorm (7.1) soist λ eine Differenz endlicher Maße.

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7.1.1 Satz von Fischer-Riesz∗

Sei L∗p(µ) der Raum der stetigen und linearen Abbildungen von Lp in die reellen Zahlen.

Satz 71 (Fischer-Riesz) Sei µ ein σ-endliches Maß. Dann ist L∗p(µ) isometrisch zu Lq(µ)

mit 1p + 1

q = 1, 1 < p, q < ∞. Genauer, fur jede Abbildung B ∈ L∗p(µ) gibt es ein g ∈ Lq(µ)

mit B(f) =∫fgdµ und ‖B‖ = ‖g‖q.

Beweis: Sei zuerst µ endlich. Die Abbildung λ : A → IR definiert durch λ(A) = B(11A) hateine endliche Totalvariationsnorm,

‖λ‖tot := supA∈A

(λ(A)− λ(Ac)) ≤ supA

(‖B‖‖11A‖p + ‖B‖‖11Ac‖p) ≤ ‖B‖2µ(Ω) <∞.

Die Operatornorm ‖B‖ von B ist endlich wegen der Stetigkeit des Operators. Damit ist λ einsigniertes Maß. Sei λ = λ+ − λ− die Hahn-Jordan Zerlegung. λ+ und λ− sind absolut stetigrelativ zu µ. (Nachrechnen.) Die Funktion

g =dλ+

dµ− dλ−

tut’s.• ∫ gfdµ = B(f) fur alle beschrankten f ∈ Lp

Zeige dies erst fur eine Treppe, dann fur eine positive Treppenfunktion (Linearitat), danndurch Approximation fur positive beschrankte f ∈ Lp (σ-Stetigkeit von unten) und schließlichfur beschrankte f ∈ Lp.• Die Lq-Norm von g ist beschrankt durch die Operatornorm ‖B‖ von B.

Sei fN := |g|qg 11|g|≤N . Dies ist eine beschrankte Funktion, daher in Lp, und es gilt

|‖fN‖pp| =

|g|q11|g|≤Ndµ

|B(fN )| = |∫

fNgdµ| =∫

|g|q11|g|≤Ndµ = ‖g11|g|≤N‖qq

∞ > ‖B‖ ≤ |B(fN )|‖fN‖p

= ‖g11|g|≤N‖q−q/pq → ‖g‖q

• ∫ gfdµ = B(f) fur alle f ∈ Lp.Die Ausdehnung erfolgt (durch σ-Stetigkeit) auf alle f ∈ Lp da | ∫ fgdµ| ≤ ∫ |fg|dµ ≤‖f‖p‖g‖q endlich ist.• ‖B‖ ≤ |g‖q.

‖B‖ = supf 6≡0

|B(f)|‖f‖p

≤ supf

‖fg‖1‖f‖p

≤ ‖g‖q.

• Die Abbildung L∗p ∋ B 7→ g ∈ Lq ist wohldefiniert, injektiv und surjektiv.

Leicht.• OEdA sei µ ein endliches Maß.

Sei An ∈ A, n ∈ IN, eine disjunkte Zerlegung mit µ(An) < ∞. Sei B ∈ L∗p und fn ∈ Lq

die zugehorige Darstellung, eingeschrankt auf die Menge An. Dann tut es f :=∑∞

n=1 fn11An .q.e.d.

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WS10/11 Maßtheorie

Spezialisierung auf IR : Jedem Radonmaß µ (µ(K) < ∞ fur Kompakta K) hattenwir bijektiv eine aufsteigende und rechtsstetige Funktion F mit F (0) = 0 zugeordnet viaµ((a, b]) = F (b)− F (a). Wir behandeln das Aquivalent fur Ladungsverteilungen.

Eine Funktion F : IR 7→ IR heißt absolut stetig, falls sup∑

i |F (ti+1 − F (ti)| < ∞ gilt.Hierbei ist das Supremum uber alle Zerlegungen t0 < t1 < . . . < tn genommen.

Proposition 72 Es gibt eine Bijektion zwischen Ladungsverteilungen λ und rechtsstetigen,absolut stetigen Funktionen F mit F (0) = 0. Diese Bijektion kann durch

λ((a, b]) = F (b)− F (a) (7.2)

gegeben werden.

Beweis: ⇒ Seien F+, F− die entsprechenden Funktionen fur λ+, λ−. Dann ist die Zuordnung

λ = λ+ − λ− 7→ F+ − F− = F

eindeutig.⇐ Umgekehrt fur gegebenes F definiere F via

F (b) := sup∑

i

|F (ti+1 − F (ti)|

Das Supremum ist uber alle Zerlegungen 0 = t0 < t< . . . < tn = b bzw. b = t0 < t1 < . . . <

tn = 0. Die Funktion F ist rechtstetig und aufsteigend. Die Funktionen F+ := F+F2 und

F− := F−F2 sind aufsteigend und rechtsstetig und erfullen F = F+ − F−. Seien λ+, λ− die

zugehorigen Maße. Wir erhalten die Zuordnung

F = F+ − F− → λ+ − λ− =: λ

von Funktionen in Ladungsverteilungen. q.e.d.

7.1.2 Totalstetig ∗Ein Maß ν heißt totalstetig bzgl. µ, falls

∀ǫ > 0 ∃δ > 0 ∀A ∈ A µ(A) < δ ⇒ ν(A) < ǫ.

Proposition 73 Ist ν totalstetig bzgl. µ, so ist ν absolut stetig bzgl. µ. Die Umkehrung giltfur endliche Maße ν.

Beweis: Nur die Umkehrung ist zu zeigen. Sei ν nicht totalstetig bzgl. µ. Dann gibt es einǫ > 0 und eine Folge An ∈ A mit ν(An) > ǫ und µ(An) →n 0. Wir konnen

n µ(An) < ∞annehmen. Die Eigenschaften der Menge A := lim supnAn ergeben nun einen Widerspruch.• ν(A) ≥ ǫ.Beachte A =

mBm und Bm :=⋃

i≥mAi fallt monoton gegen A. Mit Fatou ν(A) =ν(limmBm) ≥ limm ν(Bm) ≥ limm ǫ = ǫ.• µ(A) = 0.µ(A) = limm µ(Bm) ≤ limm

n≥m µ(An) = 0. q.e.d.

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7.2 Bedingte Erwartungen

Die bedingte W-keit einer Menge A unter B ist P (A | B) = P (A∩B)P (B) fur P (B) > 0. Wie groß

ist die W-keit von A, gegeben die Information ω ∈ B oder nicht. Dies wird beschrieben durchdie Funktion

f = 11BP (A | B) + 11BcP (A | Bc)

von Ω→ IR. Nehmen wir eine meßbare Partition (Bn)n des Grundraumes, so ergibt sich einemeßbare Funktion

f =∑

n

11BnP (A | Bn)

Diese erfullt ∫

BfdP =

B11AdP

fur alle B ∈ σ(Bn, n ∈ IN). Die Interpretation von f ist als die W-keit von A gegeben dieInformation der σ-Algebra σ(Bn, n ∈ IN).

Jetzt die Verallgemeinerung auf allgemeine σ-Algebren. Sei (Ω,A, µ) ein Maßraum undA0 ⊂ A eine Unter-σ-Algebra. Eine A0 − B meßbare Funktion g : Ω 7→ IR heißt bedingteErwartung von f unter A0, falls gilt

A0

f dµ =

A0

g dµ (7.3)

fur alle A0 ∈ A0 und beide Seiten sind wohldefiniert im Lebesgueschen Sinne.Notation: E(f | A0) oder E

A0(f).

Satz 74 (Existenz der bedingten Erwartung) Sei A0 ⊂ A eine Unter-σ-Algebra vonA0 und µ ein σ-endliches Maß. Dann existiert die bedingte Erwartung fur positive, erweiterteund meßbare Funktionen f : Ω→ IR+. Sie ist µ fast sicher eindeutig.

Beweis: OEdA sei µ ein endliches Maß. Betrachte fur positives und integrierbares f dasendliche Maß ν := f · µ. Seien ν0, µ0 die Einschrankungen der Maße ν, µ auf (Ω,A0). Es giltν0 << µ0. Dann tut’s die Radon-Nikodym Dichte 70 g = dν0

dµ0. Sei erfullt die definierende

Eigenschaft der bedingten Erwartung∫

A0

g dµ =

A0

g dµ0 =

A0

dν0 =

A0

dν =

A0

f dµ

Sei jetzt f positiv, erweitert und meßbar. Dann gibt es eine Folge von positiven integrier-baren Funktionen fn, n ∈ IN , die monoton aufsteigend sind gegen f. Dann tut’

E(f | A0) = limn→∞E(fn | A0).

• Wohldefiniertheit.Da die fn punktweise aufsteigend in n sind, konnen wir Funktionen E(fn | A0) punktweise

aufsteigend in n wahlen. (Z.B. wahle erst bedingte Erwartungen E(fn | A0) und verwendedann ∨i≤nE(fi | A0) als bedingte Erwartung von fn.)

Der Rest ist nachrechnen.∫

A0

E(f | A0)dµ = limn

A0

E(fn | A0)dµ = limn

fndµ =

fdµ

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WS10/11 Maßtheorie

• EindeutigkeitSeien g, h bedingte Erwartungen von f und A0 die Menge g > h. Es gilt

A0(g − h)dµ =

A0(f − f)dµ = 0 und damit µ(A0) = 0. Mit Symmetrie foglt g = h. q.e.d.Die Definition fur positive Funktionen erweitern wir zu allgemeinen meßbaren Funktionen.

f hat eine eindeutige Darstellung f = f+ − f− als Differenz des Positivteils f+ = f ∨ 0 unddes Negativteils f− = (−f) ∨ 0. Setze

E(f | A0) = E(f+ | A0)− E(f− | A0)

sofern die rechte Seite f.s. wohldefiniert ist. (Wir muessen ∞−∞ vermeiden.)

Satz 75 (Existenz der bedingten Erwartung 2) Sei A0 ⊂ A eine Unter-σ-Algebra vonA und µ ein σ-endliches Maß. Dann existiert die bedingte Erwartung auf L1(A) und ist einepositive, additive, skalare, σ-stetige Abbildung von L1(A) nach L1(A0).

Beweis: Die Aussagen sind leicht bis auf die letzte, die aus dem nachsten Satz folgt. q.e.d.Mit der bedingten Erwartung konnen wir umgehen wie mit dem Lebesgueintegral. Insbe-

sonders gelten die Konvergenzsatze und die Standardungleichungen.

Satz 76 Es gelten die drei Konvergenzsatze und die Jensen Ungleichung jeweils µ fast sicher:

• Monotone Konvergenz:fn րn f,

∫f1dµ > −∞⇒ E(fn | A0)րn E(f | A0)

fn ցn f,∫f1dµ <∞⇒ E(fn | A0)ցn E(f | A0)

• Fatou:∫infn fn > −∞⇒ lim infnE(fn | A0) ≥ E(lim infn fn | A0)

∫supn fn <∞⇒ lim supnE(fn | A0) ≤ E(lim supn fn | A0)

• Dominierte Konvergenz:fn →n f, supn |fn| ∈ L1 ⇒ E(fn | A0)→n E(f | A0)

• Jensen Ungleichung: Fur eine konvexe Funktion ϕ und ein W-maß µ gilt, sofernwohldefiniert,

E(ϕ(f) | A0) ≥ ϕ(E(f | A0))

Wir uberschlagen den Beweis, der analog zum Lebesgueintegral verlauft.Hier noch einige haufig benutzte Eigenschaften.

Lemma 77 Sei alles wohldefiniert. Die folgenden Aussagen gelten alle µ-fast sicher.

• |E(f | A0)| ≤ E(|f | | A0)

• E(fh | A0) = hE(f | A0) fur A0-meßbare Funktionen h.

• Towerproperty: Fur A0 ⊂ A1 ⊂ A Unter-σ-Algebren gilt

E(E(f | A0) | A1) = E(f | A0) = E(E(f | A1) | A0)

• supnE(fn | A0) ≤ E(supn fn | A0)

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Beweis: Standard.

Beachte, die bedingten Erwartungen sind nur µ-fast sicher definiert und sind, mathema-tisch gesehen, eher Aquivalenzklassen bzgl. µ-Nullmengen. Wir rechnen damit allerdings wiemit Funktionen, die nichts anderes als Reprasentanten der Aquivalenzklasse sind. Im Folgen-den unterscheiden wir (einfachheitshalber) nicht zwischen Funktionen und Aquivalenzklassen(falls nicht notwendig).

Korollar 78 (Eigenschaften der bedingten Erwartung) Unter den Voraussetzungen desobigen Satzes ist die bedingte Erwartung ein linearer, positiver, projektiver, stetiger und σ-stetiger Vektorraumhomomorphismus, der die 1 auf die 1 abgebildet.

Beweis: Nach dem obigen Satz ist die bedingte Erwartung wohldefiniert. Die Eigenschaftenwerden nachgerechnet. (Eine Projektion ist eine idempotente, lineare Abbildung auf einemVektorraum in sich selbst.) q.e.d.

Bsp: Sei A0 die triviale σ-Algebra ∅,Ω. Dann gilt E(f | A0) =∫fdµ.

Bsp: Sei A0 eine Unter-σ-Algebra erzeugt von einer abzahlbaren, meßbaren PartitionBn, n ∈ IN, mit 0 < µ(Bn) <∞. Dann ist die bedingte Erwartung

E(f | A0) =∑

n

11Bn

Bnfdµ

µ(Bn)

Bsp: Gruppenmittelwert Sei G eine endliche Gruppe von meßbaren, maßerhaltendenAbbildungen g : Ω 7→ Ω, d.h. µg−1 = µ. Sei A0 die σ-Algebra aller G-invarianter Ereignisse,A0 = B ∈ A | ∀g ∈ G : g−1(B) = B. Dann gilt fur f ≥ 0

E(f | A0) =1

|G|∑

g∈Gf g.

Beweis: Benutze eine Variablentransformation um∫

B fdµ =∫

B f gdµ zu zeigen. Der Restist leicht. q.e.d.

Korollar 79 Sei µ ein W-maß. Die bedingte Erwartung E(· | A0) : Lp(A) → Lp(A0), 1 ≤

p ≤ ∞ ist ein linearer, positiver, σ-stetiger Operator mit Operatornorm 1. Die Fixpunkte derbedingten Erwartung sind die A0-meßbaren und p-integrierbaren Funktionen.

Beweis: Fur 1 ≤ p <∞ verwende die Jensen-Ungleichung fur IR+ ∋ x 7→ xp,

|E(f | A0)|pdµ ≤∫

|E(|f |p | A0)dµ = ‖f‖pp.

Analog fur p =∞,

esssup |E(f | A0)| ≤ esssup E(|f | | A0)| ≤ esssup |f |.

Der Rest ist Ubung.

Folgerung: Die bedingte Erwartung ist eine stetige Funktion auf Lp.

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WS10/11 Maßtheorie

Lemma 80 Seien 1 ≤ p, q ≤ ∞ dual, 1p + 1

q = 1. Dann definiert

Lp(A)× Lq(A) ∋ (f, g) 7→ E(fg | A0) ∈ L1(A0)

eine Bilinearform. Es gilt die bedingte Holder Ungleichung

E(|fg| | A0) ≤ (E(|f |p | A0))1/p(E(|g|q | A0))

1/q.

Beweis: Der bedingte Erwartungswert als Operator ist wohldefiniert, da∫

|E(fg | A0)| ≤∫

E(|fg| | A0) = ‖fg‖1 ≤ ‖f‖p‖g‖q <∞.

Der Operator ist bilinear.Sei zur Abkurzung X = (E(|f |p | A0))

1/p und Y = (E(|g|q | A0))1/q. Es reicht zu zeigen

E(| fXgY | | A0) ≤ 1 auf jeder Menge A0 ∈ A0.

A0

E(| fX

g

Y| | A0) dµ ≤

11A0

|f |X

|g|Y

dµ ≤(∫

11A0 |f |pXp

)1/p (∫ 11A0 |g|qY q

)1/q

≤(∫

A0

E(|f |p | A0)

Xpdµ

)1/p (∫

A0

E(|g|q | A0)

Y qdµ

)1/q

= µ(A0)1/p+1/q = µ(A0)

Alternative Einfuhrung der bedingten Erwartung uber Hilbertraume.Eine Projektion auf einem Hilbertraum H ist eine lineare Abbildung A : H 7→ H mit A A =A. Eine orthogonale Projektion ist eine selbstadjungierte (A = A∗) Projektion. OrthogonaleProjektionen gestatten die Hilbertraumorthogonalzerlegung H = H0

⊗H⊥

0 mit H0 = AHund H⊥

0 der Orthogonalraum. Dieses setzen wir als bekannt voraus.

Lemma 81 Es gibt genau eine surjektive orthogonale Projektion H 7→ H0.

Beweis: Fur f ∈ H betrachte die Abbildung Tf : H0 → IR definiert durch Tf (h) =< f, h > .Die Abbildung Tf eingeschrankt auf H0 ist aus dem stetigen Dualraum H∗

0 von H0. Da H0

selbstdual ist, siehe Satz von Riesz, gibt es genau eine Funktion g ∈ H0 mit < f, h >=< g, h >fur alle h ∈ H0. Definiere die Abbildung A : H → H0 durch A(f) = g. A tut’s.

A ist wohldefiniert. Der Bildraum ist H0, da A auf H0 die Identitat ist. Hieraus folgt dieSurjektivitat und dann die Projektionseigenschaft. Die Orthogonalitat rechnen wir nach,

< A∗f, f >=< f,Af >=< Af,Af >=< Af, f >

fur alle f, f ∈ H. q.e.d.In unserem Fall sei der Hilbert Raum H = L2(A) versehen mit der Bilinearform < f, g >=

∫fgdµ. Fur eine Unter-σ-Algebra A0 ist H0 := L2(A0) ⊂ H ein Unterhilbertraum. Dann ist

die orthogonale Projektion A auf H0 die bedingte Erwartung. Es verbleibt nachzurechnen inHilbertraumnotation

< A(f), 11A0 >=< f, 11A0 >

fur alle A0 ∈ A0. Dies ist erfullt.Der Definitionsbereich von A kann dann auf positive Funktionen und auf Lp Funktionen

ausgedehnt werden.

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WS10/11 U. Rosler

Umgekehrt, die bedingte Erwartung wie vormals definiert, liefert auf dem Hilbertraumdie eindeutige surjektive orthogonale Projektion nach H0. Die Surjektivitat und Projektions-eigenschaft ergibt sich durch E(f | A0) = f fur f ∈ H0. Die Orthogonalitat folgt aus

E(f | A0)gdµ =

fgdµ =

fE(g | A0)dµ

erst fur eine Treppe g = 11A, dann eine Treppenfunktion und mit σ-Stetigkeit fur g aus demHilbertraum H.

7.2.1 Faktorisierung

Seien f : Ω → Ω′ und g : Ω → Ω′′ meßbare Funktionen. f heißt g-meßbar, falls f meßbar istbezuglich der von g erzeugten σ-Algebra uber Ω. In Formeln, falls f−1(A′) ⊂ g−1(A′′).

Hintergrund ist das

Lemma 82 (Faktorisierungslemma) Seien f : Ω→ Ω′ und g : Ω→ Ω′′ meßbare Funktio-nen. Die σ-Algebren A′,A′′ seien abzahlbar erzeugt. Dann gilt

f ist g meßbar ⇔ ∃h : Ω′′ 7→ Ω′ meßbar mit f = h g.

Beweis: Die Rueckrichtung folgt aus f−1(A′) = g−1(h−1(A′)) ⊂ g−1(A′′).Fur die Hinrichtung betrachte zuerst einen Grundraum Ω′ ⊂ IR in den reellen Zahlen. Fur

eine g-meßbare Treppenfunktion f gilt der Satz. Ein allgemeines g-meßbares f approximierevon unten durch Treppenfunktionen fn. Das zugehorige hn ist monoton steigend gegen ein h.Dies tut’s.

Die Ausdehnung auf allgemeinere W-Raume ergibt sich aus folgendem Lemma. q.e.d.

Lemma 83 Jede abzahlbar erzeugte σ-Algebra A besitzt einen abzahlbaren, isotonen Erzeu-ger.

Ist A abzahlbar erzeugt so gibt es eine Menge C in den rellen Zahlen versehen mit derinduzierten Borel σ−Algebra B ∩ C, so dass A isomorph (bijektiv und strukturerhaltend) istzu B ∩ C. Ist A punktetrennend (∀ω1 6= ω2 ∈ Ω∃A ∈ A : ω1 ∈ A,ω2 6∈ A) so gibt es eineBijektion ϕ : Ω→ C die bimeßbar (ϕ and ϕ−1 sind meßbar) ist.

Bew: Nehme zuerst an, A sei punktetrennend.Sei En ∈ A, n ∈ IN ein abzahlbares Erzeugendensystem der σ-Algebra A. Definiere die

Abbildung ϕ1 : Ω→ 0, 1IN ,ϕ1(ω)(i) := 11Ei

(ω)

und definiere ϕ2 : 0, 1IN 7→ [0, 1] via

ϕ2((x1, x2, . . .)) =∞∑

i=1

2xi3−i.

Sei ϕ := ϕ2 ϕ1. Die Mengen Aq := ϕ−1(Bq), Bq = (−∞, q]), q ∈ Ql tun’s.Die Abbildung ϕ ist injektiv, da ϕ1, ϕ2 injektiv sind. Sei C das Bild von ϕ und definiere

die σ-Algebra C auf C durch C = ϕ(A). Da ϕ : Ω→ C eine bijektive Abbildung ist, liefert ϕauch eine Bijektion der σ-Algebren.• Jeder Erzeuger von A wird unter ϕ auf einen Erzeuger von C abgebildet und umgekehrt.

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WS10/11 Maßtheorie

Sei E ′ ein Erzeuger von A und A′ stets σ-Algebren. Dann gilt

ϕ(A) = ϕ(∩E ′⊂A′A′) = ∩ϕ(E ′)⊂ϕ(A′)ϕ(A′) = σ(E ′) = C• C = B ∩ C mit B die Borel σ-Algebra.C wird erzeugt durch die ϕ(En) = Fn∩C, n ∈ IN,mit Fn = y ∈ IR | yn = 2 in der Trialdarstellung y =

i∈IN yi3−i. Die Borelsche σ-Algebra wird von allen Fn, n ∈ IN erzeugt. Damit gilt C =

σ(Fn ∩ C, n ∈ IN) = σ(Fn, n ∈ IN) ∩ C = B ∩ C.Die Mengen Bq, q ∈ Ql bilden einen Erzeuger der Borelschen σ-Algebra und Bq ∩C, q ∈ Ql

einen Erzeuger von C. Daher sind die Urbilder Aq, q ∈ Ql ein Erzeuger von A.Ist A nicht punktetrennend, so betrachte die Aquivalenzrelation ∼ auf Ω

ω ∼ ω′ ⇔6 ∃A ∈ A : ω ∈ A,ω′ 6∈ A.

Gehe uber zu dem Raum Ω∼ der Aquivalenzklassen [ω], nehme hierauf die σ-Algebra A∼der Mengen [A], A ∈ A. Diese ist isomorph zu A. Mit entsprechender Notation ist ϕ∼ eineBijektion von Ω∼ auf ein C ⊂ IR. Diese ist eine Isomorphie der σ-Algebren. q.e.d.

Bem: Die obige Menge C ⊂ IR kann auch nicht meßbar sein! Wichtig bei dieser Betrach-tung ist die Isomorphie der σ-Algebren.

Bem: Zwei meßbare Raume (Ωi,Ai), i ∈ 1, 2, heißen isomorph zueinander, falls es einebijektive, meßbare Abbildung ϕ : Ω1 → Ω2 gibt, deren Inverse meßbar ist. Ein meßbarerRaum heißt Standard-Borel, falls er isomorph ist zu einer Borelmenge in IR versehen mitder induzierten Borel σ-Algebra. Zwei Maßraume (Ωi,Ai, µi), i ∈ 1, 2, heißen isomorphzueinander, falls es eine bijektive, meßbare Abbildung ϕ : Ω1 → Ω2 gibt, die das Maß erhalt(µ2 = µ1ϕ

−1) und deren Inverse meßbar ist. In der W-theorie spielen Standard-Borelw-raumeeine besondere Rolle, siehe z.B. bedingte W-keiten. Dies umfaßt z.B. alle polnischen Raume.

Sei jetzt (Ω,A, µ) ein Maßraum. In der bedingten Erwartung notieren wir die Teil-σ-Algebra A0 durch deren Charakterisierung wie z.B. durch ein Erzeugendensystem oder auchFunktionen.Notation: E(f | E) oder E(f | X) fur E(f | A0) wobei A0 = σ(E) oder σ(X) gesetzt ist.(σ(X) ist die kleinste σ-Algebra, bezuglich der die Funktion X meßbar ist.)

Sei X : Ω→ IR, f ∈ F+ meßbar und E(f | X) eine Version (Reprasentant) der bedingtenErwartung und damit eine feste σ(X) − B-meßbare Funktion Ω → R. Nach dem Faktorisie-rungslemma gibt es eine reelle Funktion h mit E(f | X) = h X. Wir benutzen E(f | X = x)fur die Abbildung h(x) = E(f | X) X−1(x).Sprache: E(f | X = x) heißt bedingte Erwartung von f (bedingt) unter X = x.

Beachte, in der Regel ist X = x eine Nullmenge. Die obige Funktion h ist µX fast sicherwohldefiniert. Mit der bedingten Erwartung bedingt nach X = x laßt sich rechnen wie mitbedingten Erwartungen.

Sei jetzt (Ω,A, µ) ein Maßraum. Das Faktorisierungslemma gilt auch fur Aquivalenzklassen(bzgl f.s. Gleichheit), mit den entsprechenden Modifikationen. Die Aquivalenzklasse [f ] istmeßbar bzgl. der Aquivalenzklasse [g] falls fur alle f ∈ [f ], g ∈ [g], A′ ∈ A′′ es ein A′′ ∈ A′′

gibt mit der symmetrischen Differenz f−1(A′)g−1(A′′) als Nullmenge. Wir uberschlagen dietechnischen Details.

7.2.2 Weitere Beziehungen *

Wir zeigen einige Beispiele aus der Wahrscheinlichkeitstheorie. (Wir setzen den Begriff derUnabhangigkeit voraus. Ein W-maß bezeichnen wir stets mit P.)

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WS10/11 U. Rosler

Proposition 84 Fur unabhangige Zgn X,Y gilt PX fast sicher

E(f(X,Y ) | X = x) = E(f(x, Y ))

Beweis: Sei M die Menge aller Funktionen mit obiger Eigenschaft. M enthalt alle Funktionender Form f(x, y) = 11x∈A11y∈B∫

CE(f(X,Y ) | X = x)PX(dx) =

11X∈CE(f(X,Y ) | X)dP

=

11X∈Cf(X,Y )dP =

∫ ∫

11x∈Cf(x, y)PX(dx)P Y (dy)

CE(f(x, Y ))PX(dx) =

C11x∈A(

11Y ∈BdP )PX(dx)

=

Cf(x, y)P Y (dy)PX(dx)

fur alle Borelmengen C.Weiterhin ist M abgeschlossen bezuglich Treppenfunktionen und monotoner Grenzwerte.

Dies reicht. q.e.d.Beispiel: Ebene Seien X,Y : Ω → IR Zufallsgroßen mit der gemeinsamen Verteilung

gemaß der Dichte f : IR2 7→ IR, d.h. P ((X,Y ) ∈ ·) = ∫

· f(x, y)dxdy.Dann ist g, g(x) :=

∫f(x, y)dy, die Dichte von X. g ist meßbar und

P (X ∈ A) =

∫ ∫

11x∈Af(x, y)dxdy =

Ag(x)dx.

Ferner gilt

E(h(Y ) | X) =

∫h(y)f(X, y)dy

g(X), E(h(Y ) | X = x) =

∫h(y)f(x, y)dy

g(x)

fur jede integrierbare oder positive meßbare Funktion h.Sei dazu h = 11B und A,B borelsch.

X−1(A)E(h(Y ) | X)dP = E(11X∈A11Y ∈B) = P ((X,Y ) ∈ (A,B))

=

A

Bf(x, y)dydx =

A

B f(x, y)dy

g(x)g(x)dx

=

X−1(A)

∫h(y)f(X, y)dy

g(X)dP.

Hieraus folgt die erste Behauptung wegen der fast sicheren Eindeutigkeit der bedingten Er-wartung.

Alle meßbaren Treppenfunktionen h erfullen die Behauptung und alle monotonen Grenz-werte hiervon wegen der σ-Stetigkeit. q.e.d..

Lemma 85 Seien A0 und A1 Unter-σ-Algebren und f integrierbar oder positiv und meßbar.Falls σ(A0, f) unabhangig von A1 ist, gilt P -f.s.

E(f | A0,A1) = E(f | A0).

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WS10/11 Maßtheorie

Beweis:

D := D ∈ σ(A0,A1) |∫

DE(f | A0,A1)dP =

DE(f | A0)dP.

Man rechnet leicht nach, daß D ein Dynkin-System ist. E := A0 ∩A1|A0 ∈ A0, A1 ∈ A1 istein Erzeuger von σ(A0,A1). Fur A0 ∈ A0, A1 ∈ A1 ist

A0∩A1

E(f | σ(A0, A1))dP = P ((11A0f)11A1) = P (11A0f)P (11A1)

= P (11A0E(f | A0))P (11A1) = P (11A0E(f | A0)11A1) =

A0∩A1

E(f | A0)dµ.

Daher gilt E ⊂ D. q.e.d.

Man beachte hier den Spezialfall A0 trivial: Aus σ(f) unabhangig von A0 folgt E(f |A1) = E(f).

7.3 Bedingte Wahrscheinlichkeiten∗Mit der bedingten Erwartung E(. | A0)(ω) oder auch E(. | X = x) laßt sich rechnen wiemit Erwartungen oder bedingten Wahrscheinlichkeiten. Wann ist fur festes ω die bedingteErwartung E(. | A0)(ω) als eine Abbildung auf Funktionen darstellbar als ein Integral?

Das Problem besteht darin eine Festlegung K(ω,A) von E(11A | A0)(ω) als Funktion zufinden, die es bis auf eine Nullmenge simultan fur alle meßbaren Mengen A tut. Und dieseFestlegung soll all die guten Eigenschaften der bedingten Erwartung haben, wie linear, scalar,σ-stetig. Mathematisch ist dies ein Lifting von Aquivalenzklassen zu Funktionen.

7.3.1 Kerne aus bedingten Erwartungen

Seien (Ω,A) und (Ω′, A′) meßbare Raume. Ein Kern ist eine Abbildung K : Ω × A′ 7→ IRmit den Eigenschaften

(i) fur alle ω ist K(ω, ·) : A′ 7→ IR ein Maß,(ii) fur alle A′ ∈ A′ ist K(·, A′) : Ω 7→ IR meßbar.

Ein Wahrscheinlichkeitskern ist ein Kern mit K(ω, ·) ein W-maß fur jedes ω. Ein Sub-wahrscheinlichkeitskern ist ein Kern mit K(ω,Ω′) ≤ 1 fur jedes ω.

Sprache: Wir sprechen von einem Kern von (Ω,A) nach (Ω′,A′).Wir benutzen die Notation K(ω, f) :=

∫f(x)K(ω, dx) falls das Integral wohldefiniert ist.

Satz 86 Sei (Ω,A, P ) ein Standard Borelw-raum. Sei A0 eine Unter-σ-Algebra von A. Danngibt es einen W-kern K : Ω × A → IR, so daß fur alle positiven meßbaren Funktionen f dieFunktion K(., f) : Ω→ R fast sicher gleich der bedingten Erwartung E(f | A0) ist.

Beweis: Der Standard Borelw-raum ist isomorph zu einer Borelmenge versehen mit der Borelσ-Algebra (siehe Lemma (83). Wir fuhren den Beweis auf den reellen Zahlen.

Betrachte den abzahlbaren Erzeuger Aq := (−∞, q], q ∈ Ql der Borel σ-Algebra. Wahle furjedes q ∈ Q eine Funktion F (., q) : Ω→ IR aus, die fast sicher gleich der bedingten ErwartungE(Aq | A0) ist.

• Die Funktionen F (., p) sind punktweise aufsteigend in p bis auf ω in einer NullmengeN1.

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Fur festes p < q gilt F (., p) ≤ F (., q) bis auf ein Nullmenge. Es gibt nur abzahlbar vielerationale Paare p ≤ q und die Vereinigung abzahlbar vieler Nullmengen ist eine Nullmenge.• lim infQl∋q→−∞ F (ω, q) = 0 bis auf eine Nullmenge N2.Leicht.• lim infQl∋q→∞ F (ω, q) = 1 bis auf eine Nullmenge N3.Leicht.Sei N = N1 ∪N2 ∪N3. Definiere G : Ω× IR 7→ IR durch

G(ω, x) = infQl∋q≥x

F (ω, q).

• G(ω, .) ist eine Verteilungsfunktion fur alle ω 6∈ N.Nachrechnen. Ubung.Sei µω, ω ∈ N c, das W-maß zur Verteilungsfunktion G(ω, ·) via

µω(Bq) = G(ω, q),

q ∈ Ql. Dies W-maß ist eindeutig. Sei µω das Punktmaß in 0 fur ω ∈ N. Dann tut’s K(ω,A) :=µω(A).• K ist ein Kern.Fur festes ω ist K(ω, .) ein Maß. Es verbleibt zu zeigen:

D := A ∈ A | K(., A) : Ω 7→ IR ist meßbar ist gleich A. Zeige hierzu D ist ein Dynkinsystem. (Ω ∈ D, D ist abgeschlossen bzgl. demKomplement und disjunkter abzahlbarer Vereinigung.) D enthalt das durchschnittsstabileErzeugendensystem Aq, q ∈ Q von A. .

Notation: µω(·) heißt bedingte Wahrscheinlichkeit.

Folgerung 87 Bis auf eine gemeinsame Nullmenge gilt µω(A) = E(1A | A0)(ω) fur alleA ∈ A und E(f | A0)(ω) =

∫fdµω.

Beweis: Dies gilt fur f eine Treppe, f eine Treppenfunktion, per σ-Stetigkeit fur positive fund per Zerlegung f = f+ − f− fur alle f , sofern die Ausdrucke wohldefiniert sind. q.e.d.

Bemerkung: Es existieren nicht immer bedingte Maße, sogar fur Teilmengen der reellenZahlen versehen mit der Borel σ-Algebra. (Wenn der Grundraum zu ’perforiert’ ist. ) Furjede Zg mit Werten in (IR,B) existiert die bedingte W-keit.

Bsp: Fur ein meßbares B sei 0 < P (B) < 1 und A0 := ∅, B,Bc,Ω. Die bedingte

Wahrscheinlichkeit, bedingt auf B, ist das W-maß P (· | B) := P (·∩B)P (B) wohldefiniert. Es gilt

P (A | A0) = 11BP (A | B) + 11BcP (A | Bc).

Sei nun (Bn)n∈IN eine meßbare Partition von Ω, stets 0 < P (Bn) < 1. Sei A0 die kleinsteσ-Algebra erzeugt von der Partition. Die bedingte Erwartung wird durch bedingte W-maßegegeben,

P (A | A0) :=∑

n

P (A | Bn)11Bn : Ω→ IR

E(f | A0) =

fdP (· | A0) =∑

n

fdP (· | Bn)11Bn

fast sicher.Bedingte W-keit unter X = x sind die Verallgemeinerungen von bedingten W-keiten

bedingt auf Ereignisse vom Maß 0.

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Kapitel 8

Produktraume *

Ziel dieses Paragraphen sind Maße auf allgemeinen Produktraumen und der Existenzsatzvon Kolmogoroff fur Produktraume. Diese werden fur die Existenz stochastischer Prozessebenotigt, z.B. fur die Existenz einer Folge von unabhangigen Zufallsgroßen.

8.1 Produktraume

Wir starten mit dem mengentheoretischen Produktraum. Seien Ωi, i ∈ I, beliebige Mengen,I ein beliebiges Indexsystem. Das kartesische Produkt

ΩI :=∏

i∈IΩi

dieser Mengen ist die Menge aller Funktionen ω : I 7→ ∪i∈IΩi mit ω(i) ∈ Ωi fur alle i ∈ I.Sind alle Ωi, i ∈ I, gleich, etwa E, so benutzen wir die gebrauchliche Notation ΩI = EI .Ebenso benutzen wir ΩJ =

j∈J Ωj fur J ⊂ I. Dies entspricht allen Funktionen ω|J , ω ∈ ΩI

eingeschrankt auf J.Projektion: Fur K ⊂ J ⊂ I sei

ΦJ,K : ΩJ → ΩK

die Projektion auf die K-Koordinaten. Formal ist dies die Einschrankung der Funktionen ausΩJ auf K. Wir benutzen die Notation ΦK := ΦI,K wenn moglich. Die Abbildung Φi := Φiheißt i-te Koordinatenabbildung .

Die Menge der Projektionsabbildungen ist transitiv, d.h. sie erfullen

ΦK,L ΦJ,K = ΦJ,L (8.1)

fur L ⊂ K ⊂ J.

Bsp. Endliche Tupel: Fur endliche Mengen I und eine fest vorgegebene Numerierungi1, i2, . . . , in der Elemente von I identifizieren wir den Produktraum ΩI mit

Ωi1 × Ωi2 × . . .× Ωin .

Ein Element ist ein Tupel (ω1, ..., ωn). In dieser Darstellung als Tupel ist stets die Reihenfolgeder Aufzahlung implizit enthalten.

Definiere die Abbildung πJ := Φ−1J ΦJ : ΩI → ΩI .

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WS10/11 Maßtheorie

Proposition 88 Es gilt– die Abbildung J → πJ ist antiton (bzgl. der Enthaltensordung f’ur Mengen und der

punktweisen fur Funktionen)– πJ πK = πJ∩K = πK πJ fur alle K, J ⊂ I.– die Projektionseigenschaft πJ πJ = πJ fur alle J ,

Beweis: Ubung mit Wertebereichen von Funktionen.Zylindermengen: Eine Zylindermenge in ΩI ist eine Menge der Form Φ−1

J (AJ) mitAJ ⊂ ΩJ , J ⊂ I. Die Koordinatenmenge J heißt Basis des Zylinders.

Jede Menge A ⊂ ΩI ist eine Zylindermenge wegen A = Φ−1I (A) mit Basis I. Interes-

sant sind kleinere Basen, im Sinne der Enthaltenrelations. Dies Beispiel zeigt die Basis einesZylinders ist nicht eindeutig. (Ubung).

Proposition 89 Sind J und K zwei Basen einer Zylindermenge, so auch J ∩K.

Beweis: Die Zylindermenge Z habe zwei Darstellungen Φ−1J (AJ) = Φ−1

K (AK) mit J 6= K.Dann gilt πJ(Z) = Z und πK(Z) = Z. Hieraus folgt πJ∩K(Z) = Z und damit Z = Φ−1

J∩K(A)fur A ∈ ΩJ∩B. (Ohne Beweis A = ΦJ,J∩K(AJ) = ΦK,J∩K(AK).)

Rechteckmengen: Eine Rechteckmenge oder auch Rechteckzylinder ist eine Menge derForm

j∈JΦ−1j (Aj)

mit Aj ⊂ Ωj , j ∈ J ⊂ I. Ist I endlich, etwa I = 1, 2, . . . , n, so schreiben wir dieRechteckmengen in der pragnanteren Form A1 ×A2 × . . .×An. Beachte die Reihenfolge desIndex.

Schnitt: Der Schnitt einer Menge A ∈ ΩI in Richtung x ∈ ΩJc ist

SxI,J(A) := ΦJ(A ∩ Φ−1

Jc (x)).

Eine alternative Beschreibung ist ω|J | ω ∈ A,ω|Jc = x durch Einschrankung der Funktio-nen bestimmtes Verhalten auf Jc.

B

ω Bω

8.1.1 Produkt σ-Algebra

Wir kommen jetzt zu Produktraumen mit meßbarer Struktur. Seien (Ωi,Ai), i ∈ I, beliebigemeßbare Raume. Die Produkt σ-Algebra AI ist die kleinste σ-Algebra auf ΩI , bezuglich deralle Koordinatenabbildungen Φi, i ∈ I, meßbar sind. Wir benutzen die Notation

AI =:⊗

i∈IAi

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WS10/11 U. Rosler

Wir benutzen⊗

, da AI nicht das mengentheoretische Produkt ist, sondern eine Strukturenthalt. Das Tupel (ΩI ,AI) heißt Produktraum (der meßbaren Raume (Ωi,Ai), i ∈ I.) Analogverwenden wir AJ fur J ⊂ I.

Proposition 90 Die Abbildungen ΦI,J , J ⊂ I, sind AI −AJ meßbar.

Beweis: i) Die Urbilder Φ−1J,j(Aj), Aj ∈ Aj , j ∈ J, bilden ein Erzeugersystem E fur die

Produkt σ-Algebra AJ . Das Urbild Φ−1I,J(E) des Erzeugersystems ist in AI wegen der Projek-

tionseigenschaft (8.1) Φ−1I,j(E) = Φ−1

I,J(Φ−1J,j(E)). Dies reicht im Hinblick auf Proposition 6.

q.e.d.

Proposition 91 Die Produkt σ-Algebra AI ist gleich der Menge aller meßbarer Zylinder-mengen mit abzahlbarer Basis. Jede meßbare Zylindermenge hat eine Darstellung Φ−1

J (AJ)mit abzahlbarem J und meßbarem AJ ∈ AJ .

Beweis: • M ist eine σ-Algebra.

M ist nicht leer und komplementabgeschlossen, (Φ−1· (A))c = Φ−1

· (Ac). Sie ist abge-schlossen bzgl. der abzahlbaren Vereinigung. Dies folgt aus Jn ⊂ I (hochstens) abzahlbar,J := ∪nJn, (hochstens) abzahlbar,

(⋃

n

Φ−1Jn

(AJn))c =

n

Φ−1Jn

(AcJn)

=⋂

n

Φ−1J (Φ−1

J,Jn(Ac

Jn)) = Φ−1J (⋂

n

Φ−1J,Jn

(AcJn)) ∈M

• AI ⊂MM enthalt alle Mengen Φ−1

i (Ai), die wiederum einen Erzeuger E der Produkt σ-Algebrabilden. Aus E ⊂ M folgt AI = σ(E) ⊂ σ(M) =M• M ⊂ AI

Einfach, da ΦJ meßbar ist.

Daraus folgtM = AI . q.e.d.

Die meßbaren Rechteckmengen sind (genau diejenigen) von der Form

j∈JΦ−1j (Aj)

mit Aj ∈ Aj , j ∈ J ⊂ I hochstens abzahlbar.

Proposition 92 Sei J ⊂ I endlich. Fur A ∈ AI ist jeder Schnitt SxI,J(A), x ∈ ΩJc , meßbar

bzgl. der Produkt σ-Algebra AJ .

Beweis: Betrachte die Menge M aller Mengen A ∈ AI mit obiger Eigenschaft. Die MengeM ist eine σ-Algebra. (Nachrechnen, der wesentliche Punkt ist ΦJ(A

c ∩ Φ−1Jc (x)) = ΦJ(A ∩

Φ−1Jc (x))c.)M enthalt einen Erzeuger, da die erzeugenden Abbildungen Φi meßbar sind bezuglichM−Ai. Damit folgtM = AI . q.e.d.

Proposition 93 Rechteckmengen mit hochstens abzahlbarer Basis sind genau dann meßbar,wenn in der Darstellung jedes Aj meßbar ist Aj ∈ Aj ist.

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WS10/11 Maßtheorie

Beweis: Die Ruckrichtung ist einfach. Fur die Hinrichtung zeige SI\j,xI = Aj fur ein geeignetes

x ∈ ΩI\j und vorgegebenes j ∈ J. Aj muß meßbar sein. q.e.d.

Lemma 94 Die Menge R′ der meßbaren Rechteckzylinder mit endlicher Basis bilden einenSemiring.

Beweis: Die Eigenschaften eines Semiringes sind nachzuprufen. ∅ ∈ R0 ist offensichtlich. Dieendliche Durchschnittsabgeschlossenheit folgt aus

∩n≤N ∩j∈Jn Φ−1j (Aj,n) = ∩j∈I ∩n|j∈Jn Φ−1

j (Aj,n) = ∩j∈IΦ−1j (∩n|j∈JnAj,n).

Daß die Differenz als disjunkte endliche Summe von Semiringmengen darstellbar ist, ist eineunangenehme Schreibarbeit. Wir begnugen uns mit einem Bild im IR2.

A

B

Dies reicht. q.e.d.

8.2 Maße auf Produktraumen.

Wir kommen jetzt zu maßtheoretischen Produktraumen.

Ein Produktmaß auf dem Produktraum (ΩI ,AI) ist ein Maß µ darauf mit

µ(⋂

j∈JΦ−1j (Aj)) =

j∈Jµ(Φ−1

j (Aj)) (8.2)

fur alle meßbaren Rechteckmengen.

Das Produktmaß induziert ein Maß µi auf (Ωi,Ai), i ∈ I, via µi(Ai) = µ(Φ−1i Ai), Ai ∈ Ai.

Umgekehrt, zumindest fur Wahrscheinlichkeitsmaße, wie wir gleich zeigen werden, gibt es zuvorgegebenen µi genau ein Produktmaß µ. Daher verwenden wir die Notation µ = µI =:⊗

i∈I µi.

Das Tripel (ΩI ,AI , µI) heißt Produktmaßraum oder auch nur Produktraum (bezuglich derMaßraume (Ωi,Ai, µi)i).

Wir kommen jetzt zur Existenz des Produktmaßes.

Satz 95 Seien (Ωi,Ai, µi), i ∈ I, W-Raume. Es gibt genau ein Produktwahrscheinlichkeits-maß auf dem Produktraum.

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WS10/11 U. Rosler

Beweis: Fall: I bestehe aus den zwei Elementen 1 und 2. Setze fur Rechteckmengen

µ(A1 ×A2) = µ1(A1)µ2(A2).

In Funktionenschreibweise mit Funktionen f = 11A1×A2 .

f(x, y)µ(d(x, y)) =

∫ ∫

f(x, y)µ1(dx)µ2(dy).

Die rechte Seite hangt nicht von der Reihenfolge der Integration ab Satz 41. Dehne die rechteSeiten linear aus auf Treppenfunktionen und dann σ-stetig auf meßbare positive Funktionen.(Ubung.) Dann tut’s µ definiert durch µ(A) =

∫11Aµ1(dx)µ2(dy).

Fall: I endlich. Argumentiere induktiv uber n = |I|.Fall: I abzahlbar, oEdA I = IN. Der Beweis folgt obiger Konstruktion mit einem zusatz-

lichen Kompaktheitsargment. Sei R0 der Semiring aller Rechteckmengen mit endlicher Basis.Definiere µ : R0 7→ IR wie in (8.2)

µ(∩j∈JΦ−1j (Aj) =

j∈Jµj(Aj)

• Die Mengenfunktion µ ist wohldefiniert und ein Inhalt.Ubung. Dies ist keine Trivialitat und benotigt die Projektionseigenschaft.Setze diese Mengenfunktion auf den von R0 erzeugten Ring R additiv fort.• µ : R 7→ IR ist ein Pramaß.

Wir zeigen die σ-Stetigkeit bei der leeren Menge, welches hinreichend ist. Annahme: An ∈ R0

ist fallend gegen die leere Menge und limn µ(An) > 0.Nach Fubini gilt

µ(An) =

µ2(Sx1

I\1(An))µ1(dx1)

mit µ2 der analoge entsprechende Inhalt auf∏

i≥2Ωi. Sx1

I\1(An) ist der Schnitt von An in

Richtung erster Koordinate an der Stelle x1. (Beachte µ2(B2×B3×. . .) = µ(Ω1×B2×B3×. . .)

wie fur endliches I.)Der Satzes von der monotonen Konvergenz impliziert

limn

µ(An) =

limn

µ2(Sx1

I\1(An))µ1(dx1).

Folglich gibt es ein x∗1 ∈ Ω1 mit limn µ2(S

x∗

1

I\1(An)) > 0. (Wir integrieren uber eine echte

Funktion, keine Aquivalenzklasse.)Ebenfalls nach Fubini und monotoner Konvergenz

limn

µ2(Sx∗

1

I\1(An)) =

limn

µ3(S(x∗

1,x2)

I\1,2(An))µ2(dx2)

mit µ3 der analoge Inhalt auf∏

i≥3Ωi. Es gibt ein x∗2 ∈ Ω2 mit limn µ3(S

I\1,2(x∗

1,x∗

2)(An)) > 0.

Analog wahle x∗3, x∗4, . . . usw. Dann liegt x∗ := (x∗1, x

∗2, ...) in dem Durchschnitt aller An.

(Ubung.) Widerspruch.• Fur hochstens abzahlbare J ⊂ K gilt µKΦ−1

K,J = µJ .Die Aussage gilt fur alle Rechteckmengen in AJ mit endlichem Trager. Die bilden einen

Erzeuger der Produkt σ-Algebra AJ .

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WS10/11 Maßtheorie

• Die eindeutige Caratheodory Erweiterung liefert das gewunschte Produktwahrschein-lichkeitsmaß µ = µI .

Fall: I beliebig. Definiere µI : AI 7→ IR durch

µI(A) = µJ(AJ)

Fur Zylindermengen A = Φ−1(AJ), AJ ∈ AJ mit hochstens abzahlbarer Basis J ⊂ I. µI tut’s.

• Wohldefiniertheit.

A habe die beiden Darstellungen A = Φ−1J (AJ) = Φ−1

K (AK) mit hochstens abzahlba-rer Basis J,K. Dann gilt ΦJ∪K(A) = Φ−1

J∪K,J(AJ) = Φ−1J∪K,K(AK) und damit µJ(AJ) =

µJ∪K(Φ−1J∪K,J (AJ)) = µJ∪K(Φ−1

J∪K,K(AK)) = µK(AK).

• µI ist ein W-maß. Nachrechnen. q.e.d.

Korollar 96 Voraussetzungen wie im obigen Satz. Es gilt fur J ⊂ K ⊂ I µKΦ−1K,J = µJ

Nachrechnen.

Bsp. Lebesguemaß: Sei Ωi = 0, 1 und µi(1) = 1/2 fur alle i ∈ I = IN. Betrachte dieAbbildung ϕ : ΩI → [0, 1] mit

ϕ(ω) =∞∑

i=1

ωi2−1

Die Abbildung ϕ ist surjektiv und, wenn wir eine µI Nullmenge herausnehmen, injektiv. (DieDualdarstellung ist eindeutig.) Dann ist ϕ(AI) die Borel σ-Algebra auf [0, 1] und µIϕ

−1 istdas Borelmaß darauf.

Projektiver Limes*

Wir betrachten eine Klasse O von Objekten derselben mathematischen Struktur, wie Vek-torraume, meßbare Raume, Gruppen, oder anderes. Weiterhin gebe es gewisse strukturerhal-tende Abildungen zwischen den Objekten, z.B. lineare Abbildungen, meßbare Abbildungen,Gruppenhomomorphismen, usw.. Diese Abbildungen heißen Morphismen.

Ein projektives System ist ein Tupel (O,M) einer Menge O von mathematischen Objektenund einer transitiven MengeM von Morphismen. (Transitiv bedeutet, falls ϕα,β : α→ β undϕβ,γ : β → γ Morphismen aus M sind, so auch ϕα,γ = ϕβ,γ ϕα,β .) Anders formuliert, dasfolgende Diagramm kommutiert:

α β γϕα,β ϕβ,γ

ϕα,γ

Auf O ist eine transitive Relation durch die Morphismen vorgegeben via,

α β ⇔ ∃ϕ ∈M ϕ : α→ β.

Der projektive Limes eines projektiven Systems (O,M) ist ein weiteres Objekt mitdieser mathematischen Struktur und folgenden Eigenschaften.

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WS10/11 U. Rosler

(i) Es gibt Morphismen ϕ,α : γ → α fur alle α ∈ O, so daß

(O ∪ ,M∪ ϕ,α | α ∈ O)

ein projektives System derselben mathematischen Struktur bildet.

(ii) ist das kleinste derartige Objekt. Sei δ ein weiteres Objekt mit Morphismen ϕδ,. wiein (i). Dann gibt es einen Morphismus ϕ : δ → mit

ϕδ,α = ϕ,α ϕδ,.

Die erste Bedingung fordert die Vertraglichkeit der Morphismen ϕ,α mit der Projektions-struktur. Sehr einpragsam ist die graphische Darstellung als links abgeschlosser Graph (dernicht linear sein muß):

δ′ δ αϕδ, ϕδ,α

ϕδ,α

Beispiel: Produktmaß Der Produktraum von W-raumen ist der projektive Limes einesprojektiven Systems. Betrachte die Objekte (ΩJ ,AJ , µJ), fur J ⊂ I abzahlbar. Dies sindWahrscheinlichkeitsraume. Die Morphismen sind die Projektionsabbildungen ΦK,J fur J ⊂ K.Diese erfullen die Vertraglichkeitsbedingung (8.1),

ΦK,L ΦJ,K = ΦJ,L ΦJ,KµJ = µK

J ⊂ K ⊂ L. Das Objekt (ΩI ,AI , µI) mit den Morphismen ΦJ fur hochstens abzahlbareTeilmengen J ⊂ I ist der projektive Grenzwert.

Dies ist das kleinste Objekt mit Morphismen, welches das projektive System projektivabschließt. Ware δ = (Ω,A, µ) ein weiterer W-Raum mit den Morphismen Φδ,J , der dasprojektive System projektiv abschließt. Dann tut es die Abbildung

Ω ∋ ω 7→ ϕδ,I(ω) =∏

i

Φi(ω) ∈ ΩI .

Kompakte Klassen *

Dieser Abschnitt ist nur der Vollstandigkeit halber gegeben und kann beim ersten Lesenuberschlagen werden.

Eine Teilmenge K ⊂ P(Ω) der Potenzmenge heißt kompakte Klasse, bzw. hat die endlicheDurchschnittseigenschaft, falls fur jede abzahlbare Folge Kn ∈ K mit

⋂Nn=1Kn 6= ∅ fur jedes

N ∈ IN auch⋂

n∈IN Kn 6= ∅ gilt.Aquivalent ist die Forderung

nKn = ∅ fur eine Folge impliziert⋂N

n=1Kn = ∅ fur einN ∈ IN.In topologischen Raumen ist die Menge der kompakten Mengen eine kompakte Klasse. (Diesist das Hauptbeispiel und vielleicht das einzig relevante.)

Lemma 97 Ist K eine kompakte Klasse, so auch die Menge der abzahlbaren Durchschnitteund die Menge der endlichen Vereinigungen von Mengen aus K.

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WS10/11 Maßtheorie

Beweis: Fur Durchschnitte ist die Behauptung einfach. Sei nun Dn :=⋃in

i=1Kni mit Kn

i ∈ Kund

⋂Nn=1Dn 6= ∅ fur alle N ∈ IN. Definiere den Produktraum

L :=∞∏

n=1

1, 2, . . . , in = 1, 2, . . . , i1 × 1, 2, . . . , i2 × . . .

LN := (l1, l2, . . .) ∈ L | ∩Nn=1Knln 6= ∅.

• LN , N ∈ IN, sind nicht leer und die Folge LN ist fallend.• ∩NLN ist nicht leer.

Wahle aus jedem LN ein lN aus. Nach dem Schubfachprinzip gibt es ein 1 ≤ l∗1 ≤ i1 mit#N ∈ IN | l∗1 = lN1 =∞. Ebenso findet man ein l∗2 mit #N ∈ IN | l∗1 = lN1 , l∗2 = lN2 =∞usw. Damit gilt (l∗1, l

∗2, l

∗3, . . .) ∈ ∩NLN .

Damit gilt ∩n≤NKnl∗n6= ∅ fur alle N ∈ IN. K ist eine kompakte Klasse, also ∩nKn

l∗n6= ∅.

Hieraus folgt ∩nDn 6= ∅. q.e.d.

Lemma 98 Sei I eine beliebige Indexmenge, Ki ⊂ P(Ωi), i ∈ I, kompakte Klassen. Dann ist

K := Φ−1i (Ki) | i ∈ I, Ki ∈ Ki

eine kompakte Klasse.

Beweis: Sei Kn eine Folge aus K mit ∩Nn=1Kn 6= ∅ fur alle N ∈ IN. Fur Kn = Φ−1

in(Kn

in) ∈K, n ∈ IN, in ∈ I, Kn

in ∈ Kin . gilt

∩Nn=1Kn = ∩i ∩n≤N |in=i Φ

−1i (Kn

i ) = ∩iΦ−1i (∩n≤N |in=iK

ni ).

Der Durchschnitt wird uber alle i ∈ I genommen, mit n ≤ N | in = i nicht leer.Fur jedes solche i sind die endlichen Durchschnitte ∩n≤N |in=iK

ni nicht leer (wegen

∩Nn=1Kn 6= ∅.) Da Ki eine kompakte Klasse ist, ist der abzahlbare Durchschnitt Ai :=

∩n|in=iKni nicht leer. Folglich auch ∩∞n=1K

n = ∩iΦ−1i (Ai) nicht. q.e.d.

8.2.1 Die Kolmogoroffschen Erweiterungssatze

Seien (Ωi,Ai), i ∈ I,meßbare Raume und (ΩJ ,AJ), J ⊂ I endlich, der Produktraum versehenmit der Produkt σ-Algebra.

Eine maßerhaltende Abbildung ist eine Abbildung zwischen Maßraumen, die die Maßeerhalt.

Satz 99 (Daniell-Kolmogoroff) Seien (Ωi,Ai, µi), i ∈ I W-raume mit beliebiger Index-menge I. Fur jedes i ∈ I gebe es ein kompaktes System Ki derart, daß

∀ǫ > 0 ∀Bi ∈ Ai ∃Ki ∈ Ki ∃Ai ∈ Ai : Ai ⊂ Ki ⊂ Bi und µi(Bi\Ai) < ǫ.

Seien (ΩJ ,AJ) die Produktraume fur endliches J ⊂ I. Seien µJ W-maße auf (ΩJ ,AJ) sodass (ΩJ ,AJ , µJ), J ⊂ I endlich mit den Projektionen Φ.,. ein projektives System bilden bzgl.W-raumen und maßerhaltenden Abbildungen.

Dann gibt es einen projektiven Grenzwert und dieser ist (ΩI ,AI , µI) zusammen mit denProjektionsabbildungen als Morphismen.

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WS10/11 U. Rosler

Dieser Satz wird haufig in folgender Form verwendet.

Satz 100 (Kolmogoroff) Sei E ein polnischer Raum mit der Borelschen σ-Algebra B. Seien(EJ ,BJ , µJ), J ⊂ I endlich, W-raume und die Projektionsabbildungen seien maßerhaltend.Dann ist der projektive Limes (ΩI ,BI , µI) mit einem W-maß µI .

Beweis erste Version: Sei R0 die Menge aller meßbarer Rechteckzylinder mit endlicher Basis.R0 ist ein Semiring, Proposition 94. Auf R0 betrachten wir die additive Mengenfunktionµ : R0 7→ IR definiert durch

µ(Φ−1J (AJ)) := µJ(AJ)

fur meßbare Rechteckzylinder AJ . (Die Wohldefiniertheit von µ verwendet die Vertraglich-keitsbedingung und ist keine Trivialitat.) Erweitere µ (eindeutig) zur additiven Mengenfunk-tion auf dem von R0 erzeugten Ring R, Lemma 16.

Die additive Mengenfunktion µ auf R ist ein Pramaß, d. h. σ-stetig bei der leeren Menge.Dazu zeigen wir:

K := ∩j∈JΦ−1j (Kj) | |J | <∞, Kj ∈ Kj , j ∈ J

ist ein kompaktes System, siehe vorhergenden Abschnitt.• Fur alle ǫ > 0 und alle meßbaren Rechteckzylinder B mit endlichen Zylinder J gibt es

eine Menge K ∈ K mit Basis J und einen meßbaren Rechteckzylinder A mit A ⊂ K ⊂ B undµ(B\A) < ǫ.

Sei B = ∩j∈JΦ−1j (Bj) ∈ R0. Wahle zu vorgegebenen ǫj , Bj Mengen Kj ∈ Kj und Aj ∈ Aj

mit Aj ⊂ Kj ⊂ Bj und µj(Bj\Aj) < ǫj . SetzeK = ∩j∈JΦ−1j (Kj) ∈ K, A = ∩j∈JΦ−1

j (Aj) undschließe und schließe µ(B\A) ≤ ∑j µj(Bj\Aj) ≤

j ǫj kann beliebig klein gewahlt werden.Sei oEdA J = 1, 2, . . . , n. (Ansonsten wahle eine Indizierung j1, j2, . . . , jn der Elemente vonJ .) Betrachte C0 = B, Cl = (∩0<i≤lΦ

−11 (Ai)) ∩n>i>l Φ

−1i (Bi) fur l ∈ IN≤n. Dann gilt

B\A =⋃

n

i=1Ci\Ci−1 ⊂

n

i=1Φ−1i (Bi\Ai)

(Mache ein Bild fur eine zweielementige Menge J .)Unter Anwendung von Caratheodory erhalten wir eine Fortsetzung von µ zu einem Maß

auf der σ-Algebra σ(R0) = AI .Die Eindeutigkeit ist einfach. Ebenso, daß dies das kleinste projektive Objekt ist. q.e.d.Beweis zweite Version: Nehme als kompakte Klasse Ki die Menge aller kompakten Mengen

in E. Diese tun’s. q.e.d.Bemerkung: Der Satz von Kolmogoroff gibt nicht nur die Existenz des projektiven Limes,

sondern auch die Produktgestalt des meßbaren Raumes (ΩI ,AI).Beispiel von Jessen*: Ohne Kompaktheitsbedingung konnen wir fur den projektiven

Limes nicht den Produktraum nehmen.Betrachte Ω = [0, 1) mit der Borel σ-Algebra B und dem Lebesguemaß λ. Fur eine Menge

A betrachten wir den eingeschrankten Raum ΩA := Ω ∩ A versehen mit der eingeschrank-ten σ-Algebra B|A := B ∩ A | B ∈ B und dem eingeschrankten Maß λ|A auf B|A mitλ|A(C) = infλ(B) | B ∈ B, C ⊂ B (Nachrechnen, dies ist ein Maß. Es ist das außere Maßλ∗ eingeschrankt auf B|A.)

Betrachte die Reellen Zahlen als Vektorraum uber den rationalen Zahlen. Definiere dieAquivalenzrelation x ∼ y ⇔ x− y ∈ Ql auf [0, 1). Sei A ⊂ [0, 1) ein Representantensystem derAquivalenzklassen. Die Mengen Aq = A+ q modulo 1 fur q ∈ Ql ∩ [0, 1) bilden eine paarweisedisjunkte Zerlegung von [0, 1). Fur jedes q ∈ Ql ist Aq nicht Lebesguemeßbar, Abschnitt 2.1.3.

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WS10/11 Maßtheorie

Das innere Lebesguemaß von jedem Aq ist 0. (B ∋ B ⊂ Aq ⇒ λ(B) = 0.) Das innereLebesguemaß von jeder endlichen Vereinigung von Aq ist 0. (Ubung).

Sei Ωq := Acq versehen mit der σ-Algebra Aq := B|Ωq

und dem W-maß µq := λ|Ωq. Auf

dem Produktraum (ΩJ ,AJ), J ⊂ Ql endlich, definiere die W-Maße µJ durch

µJ(C) = λ∗(x ∈ [0, 1] | ∩j∈JΦ−1j (x) ∈ C).

(Nachrechen, dies ist ein wohldefiniertes W-maß.) Die W-raume (ΩJ ,AJ , µJ), J ⊂ Ql endlich,bilden eine projektive Familie (bezuglich den Objekten der W-raume und den Projektionsab-bildungen als maßerhaltende Morphismen.) (Ubung).

Angenommen, der projektive Limes ware (ΩQl,AQl, µ). Sei q1, q2, . . . eine Abzahlung derrationalen Zahlen. Die Mengen

Dn := ω ∈ ΩQl | ω(qi) = ω(qj) fur 1 ≤ i, j ≤ n

konvergieren fallend gegen die Diagonale ω ∈ ΩQl | ω(q) = ω(r) ∈ [0, 1) fur alle q, r ∈ Ql inΩQl. Dies ist die leere Menge, da es fur jedes x ∈ [0, 1) ein q ∈ Q gibt mit x 6∈ Ωq. Dies ergibtden Widerspruch, Jn := q1, . . . , qn,

limn

µ(Dn) = limn

µJn(ΦJn(Dn)) = 1 6= 0 = µ(limn

Dn) = limn

µ(Dn)

im Widerspruch zur σ-Stetigkeit von µ. q.e.d.

8.3 Maße aus Kernen

Bedingte W-keiten lassen sich als Kerne interpretieren und umgekehrt, zu vorgegebenen Ker-nen lassen sich W-Maße mit zugehorigen bedingten W-verteilungen konstruieren.

8.3.1 Kerne

Seien (Ω,A), (Ω′,A′) meßbare Raume. Ein Kern ist eine Abbildung K : Ω×A′ → IR miti) K(x, .) : A′ → IR ist ein Maß fur alle x ∈ E,ii) K(., A′) : Ω→ IR ist eine meßbare Funktion fur alle A′ ∈ A′.Wir sprechen von einem endlichen Kern, falls alle Maße K(e, .) endlich sind. Ein Kern

heißt Wahrscheinlichkeitskern oder auch Markoff Kern oder Ubergangskern, falls alle Maßein i) W-Maße sind. Ebenso sprechen wir von σ-endlichen Kernen usw.

Ein Kern K induziert eine lineare, σ-stetige Abbildung F(Ω′, IR+)→ F(Ω, IR+) auf posi-tiven, erweiterten und meßbaren Funktionen via

f 7→∫

f(y)K(., dy).

Wir benutzen die Notation K(., f). Diese Abbildung last sich via K(x, f) = K(x, f+) −K(x, f−) ausdehnen.

Ebenso induziert ein Kern eine isotone, lineare Abbildung von Maßen auf A nach Maßenauf A′ via

µ 7→∫

EK(x, .)µ(dx).

Wir benutzen die Notation K(µ, .) und K(µ, f) analog.

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WS10/11 U. Rosler

Die Komposition von Kernen K : Ω × A′ 7→ IR und L : Ω′ × A′′ 7→ IR ist gegeben durchKL = K L : Ω×A′′ → IR

KL(e,A′′) :=∫

E′

L(e′, A′′)K(e, de′).

Lemma 101 Die Komposition von Kernen ist ein Kern. Die Komposition ist assoziativ.

Beweis: • KL ist ein wohldefinierter Kern.

KL ist wohldefiniert. Fur festes x ist KL(x, .) ein Maß. Fur die zweite Eigenschaft ei-nes Kerns approximiere L(x′, A′′) von unten durch Treppenfunktionen, fur die wiederum dieAussage gilt.

• Assoziativitaet.Zu zeigen ist (K L) M = K (L M). Dies folgt aus Fubini KLM(x,A′′′) :=

∫(∫M(x′′, A′′′)L(x′, dx′′))K(x, dx′) durch vertauschen der Integrationsreihenfolge. q.e.d.

Hier sind einige Beispiele von Kernen K.

Maß: Sei µ′ ein Maß auf A′. Definiere

K(x,A′) := µ′(A′).

Der Kern K ist unabhangig von der ersten Koordinate.

Faltungskern: Wir betrachten die reellen Zahlen und ein Maß µ auf der Borelschenσ-Algebra B. Definiere fur x ∈ IR, B ∈ B

K(x,B) := µ(B − x).

Matrizen: Sei M eine positive n× n Matrix, M : ⌊1, n⌋ × ⌊1, n⌋ 7→ IR. Definiere

K(i, A) :=∑

j∈AM(i, j).

M ist eine stochastische Matrix genau dann wenn K ein W-kern ist.

Bedingte Erwartung: Sei (Ω,A) = (Ω′,A′) und An ∈ A, n ∈ IN, eine disjunkte meßbareZerlegung von E. Alle Ereignisse haben strikt positives endliches Maß µ(An) > 0. Definiere

K(ω,A) :=∑

n

11ω∈Anµ(A | An)

mittels der bedingten Maße µ(A | B) := µ(A ∩ B)/µ(B). K ist gleichzeitig die bedingteErwartung

K(ω,A) = E(11A | σ(An, n ∈ IN))(ω)

bezuglich der von (An)n aufgespannten σ-Algebra.

Integralkern: Sei k : Ω × Ω′ 7→ IR+ eine positive meßbare Funktion bzgl. der Produktσ-Algebra A⊗A′. Sei µ′ ein σ-endliches Maß auf A′. Dann ist K

K(x,A′) :=∫

A′

k(x, y)µ′(dy)

ein Kern.

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WS10/11 Maßtheorie

W-Maße aus Kernen

Zur weiteren Orientierung zeigen wir beispielhaft die Konstruktion von W-Maßen durchKerne. Dies entspricht der Vorstellung eines Wahrscheinlichkeitsbaums mit bedingten Wahr-scheinlichkeiten in elementarer Notation.

Proposition 102 Seien (Ω1,A1, µ) ein W-raum, (Ω2,A2) ein meßbarer Raum und K : Ω1×A2 → IR ein W-kern. Dann ist P, definiert durch

fdP =

∫ ∫

f(x, y)K(x, dy)µ(dx)

fur positive meßbare Funktionen f ein W-maß auf dem Produktraum (Ω = Ω1 × Ω2,A =A1 ⊗A2).

Die bedingte Erwartung unter der σ-Algebra Φ−11 (A1) =: A0 ⊂ A ist E(11A | A0)(ω) =

K(Φ1(ω), SΦ1(ω)2 (A)) f.s. und die bedingte W-keit

P (A | Φ1 = x)(x) = K(x, Sx2 (A))

fur A ∈ A.Beweis: • P ist wohldefiniert.Ist f eine meßbare Funktion, so ist f(x, .) : Ω2 → IR meßbar. (Dies entspricht dem SchnittSx1,2,2(A) einer meßbaren Menge A.)• P ist ein W-maß. Einfach.• PΦ−1

1 = µFur die bedingte Erwartung berechne durch Variablenwechsel, A0 ∋ B = Φ−1(C), C ∈

A1,∫

BK(Φ1(ω), S

Φ1(ω)2 (A))P (dω) = =

CK(x, Sx

2 (A))µ(dx) =

11C(x)11A(x, y)K(x, dy)µ(dx)

= P (B ∩A) =

BE(11A | A0)dP

Die fast sichere Eindeutigkeit der bedingten Erwartung liefert die Behauptung. q.e.d.Dies Beispiel laßt sich erweitern auf endliche Produkte durch die Hintereinanderschaltung

mehrerer Kerne. Das Maß P wird sinngemaß definiert durch∫

fdµ =

. . .

f(x1, . . . , xn)Kn−1((x1, . . . , xn−1), dxn) . . .K

1(x1, dx2)µ1(dx1). (8.3)

Der Kern hat wieder die Interpretation als bedingte W-keit. (Genaue Formulierung als Ubung.)Beispiel: Polyas Urnenmodell Aus einer Urne mit S schwarzen und W weißen Kugeln

wird zufallig mit Gleichverteilung eine Kugel gezogen, die Farbe angesehen und anschließendwerden insgesamt c + 1 ∈ IN Kugeln derselben Farbe zuruckgelegt. Wie groß ist die Wahr-scheinlichkeit, daß im dritten Ziehen eine schwarze Kugel gezogen wird, gegeben die ersteKugel war weiß und die zweite schwarz? Oder wie groß ist die Wahrscheinlichkeit als dritteKugel eine schwarze zu ziehen gegeben die erste war weiß.

Als meßbare Raume wahlen wir Ω1 = Ω2 = Ω3 = 0, 1 jeweils versehen mit der Po-tenzmenge als σ-Algebra. 0 entspricht einer weißen Kugel und 1 einer schwarzen. Das W-Maß µ1 auf (Ω1,P(Ω1)) ist gegeben durch µ1(1) = S

S+W = 1 − µ(0). Die Ubergangskerne

K1 : Ω1 × P(Ω2) 7→ IR und K2 : Ω1 × Ω2 × P(Ω3) 7→ IR sind gegeben durch

K1(1, 1) = S + c

W + S + c= 1−K1(1, 0)

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WS10/11 U. Rosler

K1(0, 1) = S

W + S + c= 1−K1(0, 0)

und fur das dritte Ziehen

K2((1, 1), 1) = S + 2c

W + S + 2c

K2((1, 0), 1) = S + c

W + S + 2c= K2((0, 1), 1)

K2((0, 0), 1) = S

W + S + 2c

usw. Das W-Maß P auf dem Produktraum (∏

iΩi,P(∏

iΩi) i ∈ I = 1, 2, 3 sei das Kernmaßµ aus (8.3). Die Projektionsabbildungen Φi geben die Farbe der i-ten gezogenen Kugel an.Damit ist die erste gesuchte Wahrscheinlichkeit

P (Φ3 = 1 | Φ1 = 0,Φ2 = 1) =P (Φ1 = 0,Φ2 = 1,Φ3 = 1)

P (Φ1 = 0,Φ2 = 1)

=µ1(0)K

1(0, 1)K2((0, 1), 1)µ1(0)K1(0, 1) = K2((0, 1), 1) = S + c

S +W + 2c

und die zweite

P (Φ3 = 1 | Φ1 = 0) =

i P (Φ1 = 0,Φ2 = i,Φ3 = 1)

P (Φ1 = 0)

= K1(0, 0)K2((0, 0), 1) +K1(0, 1)K2((0, 1), 1) = S

S +W + c.

Halbgruppen

Seien (Ωt,At), t ∈ T meßbare Raume nd (T,≤) sei eine halbgeordente Menge. Eine Halbgruppevon Kernen ist eine transitive Familie Ks,t : Ωs×At 7→ IR von Ubergangskernen fur s < t ∈ T.Transitiv bedeutet

Ks,t Kt,u = Ks,u

fur alle s < t < u ∈ T . Sind alle meßbaren Raume (Ωt,At) = (E, E) gleich, so sprechen wirvon einer Halbgruppe von Kernen uber E.

Jede solche Familie laßt sich stets erweitern um Kt,t, t ∈ T durch Kt,t(x,A) = 11A(x).Wir betrachten nur erweiterte Familien und nehmen dies mit in die Definition hinein.

Im folgenden betrachten wir nur Halbgruppen uber E. Sei (T,+) selbst eine Halbgruppe(+ : T × T → T ist assoziativ). Eine Halbgruppe von Kernen uber E heißt zeitlich homogenoder zeittranslationsinvariant (bezuglich (T,+)) falls mit s, t, u, s+ u, s+ t ∈ T gilt

Ks,t = Ks+u,t+u

Wir schreiben, falls moglich, dann Kt fur Ks,s+t.Analog sei (E,+) eine Halbgruppe mit einer meßbaren Verknupfung + : E×E → E. Eine

Halbgruppe von Kernen uber E heißt raumlich homogen oder raumtranslationsinvariant fallsfur alle x, y ∈ E, A ∈ E

K .,.(x,A) = K .,.(x+ y,A+ y)

gilt.

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WS10/11 Maßtheorie

T hat in den meisten Fallen die Interpretation als Zeit und heißt daher Zeitparameterraum.Insbesondere ist fur T ⊂ IR dies eine gangige Interpretation. Wir konnen auch andere Objektezulassen, z.B. Baume. E hat die Bedeutung eines Raumes und heißt Zustandsraum.

Kompositionshalbgruppe: Sei K ein Kern auf E. Definiere induktiv Kn, n ∈ IN, durch

Kn+1 := KKn = KnK.

Die Familie Km,n := Kn−m,m ≤ n ∈ IN, ist eine Halbgruppe von Kernen. Diese heißtKompositionshalbgruppe von K. Diese ist zeittranslationsinvariant. K wird gerne als eineMatrix M geschrieben mit Eintragen K(i, j). Dann ist Kn die Matrixmultiplikation Mn.

Faltungshalbgruppen: Sei E eine additive Gruppe (E,+) mit meßbaren Gruppenope-rationen + und −. Eine Faltungshalbgruppe von Maßen ist eine Familie µs,t, s < t ∈ T ⊂ IR+

von Wahrscheinlichkeitsmaßen mit

µs,t ⋆ µt,u = µs,u,

⋆ bezeichne die Faltung∫

f(x+ y)µ(dx)ν(dy) = inf f(z)(µ ∗ ν)(dz)(dz)

Mit Ks,t(x,A) = µs,t(A − x) ergibt dies eine raumlich homogene Faltungshalbgruppe vonKernen. (Ubung).

Gauß Halbgruppe: Sei E = IR, E = B, T = IR+. Die Gaußsche Halbgruppe wird gegebendurch

Ks,t(x,B) :=

Bϕx,t−s(y)dy

fur s < t. Hierbei ist ϕm,σ2 die Dichte der Normalverteilung mit Erwartung m ∈ R undVarianz 0 < σ2 <∞,

ϕm,σ2(y) :=1√2πσ2

exp−(y −m)2

2σ2.

(Hier ist einiges nachzurechnen.) Sie ist eine raumlich und zeitlich invariante Faltungshalb-gruppe. Ks,t ist ein Integralkern mit der Dichte ks,t(x, y) = ϕx,t−s(y − x) bzgl. dem Lebes-guemaß.

Poisson Halbgruppe: Sei E = ZZ+, E = P(E), T = IR+. Definiere fur s < t

Ks,t(x,A) :=∞∑

n=0

exp(−(t− s))(t− s)n

n!11x+n∈A = Pois(t− s)(A− x).

Diese Markoffsche Halbgruppe heißt Poisson Halbgruppe. Sie ist eine raumlich und zeitlichinvariante Faltungshalbgruppe.

8.4 Maße aus Kernen

Seien (Ei, Ei), i ∈ I = IN0 meßbare Raume und Kn,n+1 : En × En+1 → IR Ubergangskerne.Durch Komposition erhalten wir hieraus eine Halbgruppe Ks,t, s ≤ t. Fur i < j1 < j2 <. . . < jl, J := j1, . . . , jl sei der Ubergangskern Ki,J : Ei × EJ → IR gegeben durch

Ki,J(e, f) :=

. . .

f(x1, . . . , xl)Kjl−1,jl(xl−1, dxl)K

jl−2,jl−1(xl−2, dxl−1) . . .Kjl,j2(x1, dx2)K

i,j1(e, x1)

analog wie das Kernmaß fur positive meßbare Funktionen f .

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WS10/11 U. Rosler

Satz 103 (Ionescu-Tulcea) In obigem Set-up gibt es einen W-Kern K : E0×EIN → IR mit

K(e0,Φ−1J (AJ)) = K0,J(e0, AJ) (8.4)

fur alle J = 1, 2, . . . , n, AJ ∈ EJ .

Beweis: • Die Objekte der Ubergangskerne K0,⌊1,n⌋ ⌊1, n⌋ := 1, . . . , n mit den ProjektionenΦ : E⌊1,n⌋ → E⌊1,m⌋ bilden ein projektives System.

Das wesentliche hierbei benotigte Argument ist

K0,⌊1,n+1⌋(e0, A1 × . . .×An × En+1) = K0,⌊1,n⌋(e0, A1 × . . .×An)

fur alle n ∈ IN.

Sei R0 die Menge aller Rechteckmengen in EIN . Definiere die Abbildung K : E0×R0 7→ IRwie in (8.4)

• K ist wohldefiniert.

Dies ist die projektive Eigenschaft des Systems.

Die Menge R0 der Rechteckmengen ist ein Semiring. Erweitere fur jedes feste e0 ∈ E0 dieAbbildung K zu einer additiven Mengenfunktion auf dem von R0 erzeugten Ring R, Lemma(18).

• Fur jedes A ∈ R gibt es ein n ∈ IN mit K(e,A) = K0,⌊1,n⌋(e0,Φn(A)) fur alle e0 ∈ E0.

Die Behauptung gilt fur jede Rechteckmengen A. Da jede Menge A ∈ R eine disjunkteendliche Vereinigung von Rechteckmengen ist und beide Seiten additiv sind, folgt die Behaup-tung.

• Der Inhalt K(e0, .) ist fur jedes e0 ∈ E0 ein Pramaß.

Wir zeigen die σ-Stetigkeit in der leeren Menge. Dazu sei An ∈ R, n ∈ IN, eine Folge vonRingmengen aus R monoton fallend gegen die leere Menge. Wir haben limnK(e0, A

n) = 0 zuzeigen.

Nehmen wir an limnK(e0, An) > 0 ware strikt positiv. OEdA durch Umnummerierung

sei An = (Φn)−1ΦnAn und damit K(., An) = K0,⌊1,n⌋(.,Φn(An)) an. Wir benutzen hier fn fur11Φn(An).

K(e0, An) =

E1

fn(e1, . . . , en)K1,⌊2,n⌋(e1, d(e2, . . . , en))K0,1(e0, de1)

Wegen monotoner Konvergenz

0 < limn

K(e0, An) =

limn

fn(e1, . . . , en)K1,⌊2,n⌋(e1, d(e2, . . . , en))K

0,1(e, de1)

konnen wir ein e∗1 ∈ E1 finden mit strikt positivem Integranden an der Stelle (e0, e∗1). Analog

konnen wir wegen

0 < limn

fn(e1, . . . , en)K1,⌊2,n⌋(e1, d(e2, . . . , en))

=

E2

limn

fn(e∗1, . . . , en)K

2,⌊3,n⌋(e2), d(e3, . . . , en))K1,2(e∗1, de2)

ein e∗2 ∈ E2 finden mit strikt positivem Integranden an der Stelle (e0, e∗1, e

∗2).

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WS10/11 Maßtheorie

Fahren wir so fort, so finden wir induktiv ein e∗ := (e0, e∗1, e

∗2, e

∗3, ...). Dies e∗ ist Element

von jedem An. (Konstruktion). Dies ist ein Widerspruch.Wir erweitern K(e0, .) mit Caratheodory eindeutig zu einem W-Maß auf EIN .Es verbleibt zu zeigen, daß die Abbildung K(., A) meßbar ist fur jedes A ∈ EIN . Die Menge

der A’s mit dieser Eigenschaft bildet ein Dynkin-System. Dieses Dynkin-System enthalt dendurchschnittstabilen Erzeuger der Rechteckmengen R0. Damit ist dies die Produkt σ-Algebraselber. q.e.d.

Wir erweitern dies zu uberabzahlbar vielen vorgegebenen Kernen. Wir beschranken unsder Einfachheit halber auf den Zeitparameter T ⊂ IR+.

Satz 104 Sei Ks,t, 0 ≤ s ≤ t ∈ T = IR+, eine Markoff Halbgruppe auf einem polnischenRaum E versehen mit der Borel σ-Algebra. Dann existiert ein Markoff Kern K : E×EIR+ 7→IR mit

K(e,Φ−1t (At)) = K0,t(e,At)

s ≤ t, At ∈ E, e ∈ E.

Beweis: Sei e fest. Betrachte die W-Maße K0,J(e, .) fur J ⊂ T auf den meßbaren Raumen(EJ , EJ).Mit den Projektionen bilden diese ein projektives System. Das wesentliche Argumentist wieder von der Bauart

K0,j1,j2,j3(e,Aj1 × Ej2 ×Aj3) = K0,j1,j3(e,Aj1 ×Aj3)

(Bachte, das neue Element j2 wurde zwischen die anderen eingefugt, nicht notwendigerweiseam Schluss.) Nach dem Satz von Kolmogoroff 100 existiert das projektive Maß K(e, .) auf(EIR+

,⊗

t∈T E) mit den Koordinatenabbildungen als Morphismen.Dieses konstruierte Maß K(e, .) tut‘s. Die Kerneigenschaft wird standardmaßig nachge-

rechnet (A ∈ . | K(., A) ist meßbar = ...) q.e.d.Bem: Wir haben hier die kompakten Mengen des polnischen Raumes als kompakte Klasse

benutzt. Sollte auch ohne gehen(?).

Brownsche Maß und Brownsche Bewegung: Das Brownsche Maß ist das Maß (aufdem Produktraum IRIR+

versehen mit der Produkt σ-Algebra zu der Gaußschen Halbgruppe

Ks,t(x,B) :=

Bϕx,t−s(y)dy.

Eine Zufallsvariablen mit dieser Verteilung und (zusatzlich) stetigen Pfaden heißt BrownscheBewegung.

Poisson Prozess: Zu der Poissson Halbgruppe

Ks,t(x,A) :=∞∑

n=0

exp(−t+ s)(t− s)n

n!11x+n∈A = Pois(t− s)(A− x)

gibt es ein Maß auf ZZIR+bzw. IRIR+

. Eine Zufallsgroße mit diesem (Markoff) Maß als Ver-teilung und (zusatzlich) rechtsstetigen Pfaden heißt Poisson Prozess.

Beide Prozesse haben raumlich und zeitlich invariante Ubergangskerne. Mehr uber dieinhaltliche Bedeutung dazu in der Sektion uber Prozesse.

Bemerkung: Die Existenz von stetigen bzw. rechtsstetigen Versionen muß bewiesen wer-den und ist keine Trivialitat.

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Beispiel: Produktmaße Produktmaße auf endlichen Produktraumen lassen sich als Spe-zialfall der Konstruktion durch Kerne sehen. Der Kern hangt nicht von der ersten Koordinateab. In der Sprache der Wahrscheinlichkeitstheorie liefert dies die Existenz einer Folge vonunabhangigen Zufallsgroßen Xi, i ∈ IN, mit den µi als Verteilung der Xi. Die Projektionsab-bildung Φi auf dem Produktraum spielt die Rolle von Xi.

Markoffketten: Der Satz von Ionescu-Tulcea hat Anwendung in der Konstruktion vonMarkoff Ketten auf einem endlichen (oder abzahlbaren) Zustandsraum E. Gegeben sei einestochastische Matrix (positive Eintrage und Zeilensumme stets 1) und eine Startwahrschein-lichkeit π auf (E, E). Die Kompositionen Pn, n ∈ ZZ+ bilden eine Halbgruppe. Die Zufalls-großen Φi = Xi, i ∈ IN, auf dem Produktraum EIN mit der Produkt σ-Algebra ist eine MarkoffKette mit den Ubergangswahrscheinlichkeiten

P (Xn+1 = j | Xn = i) = P (i, j).

Bsp. Baumindex: Sei V = ∪∞n=0INn die Menge endlicher Folgen einschließlich der leeren

Folge. Diese Menge ist ein gerichteter Graph mit den Kanten (v, vi), v ∈ V, i ∈ IN. JedemKnoten v ∈ V ordnen wir einen meßbaren Raum (Ev,Av) zu. Sei K

v,(vi)i : Ev×⊗

i∈IN Avi →IR ein Ubergangskern fur alle (v, (vi)i). Solche Kerne konnen wir hintereinanderschalten imSinne

Kv,(vi)i(Lvi,(vij)j )i(x,A) =

11A((yi,j)i,j)∏

i∈INLvi,(vij)j (yi, d(yij)j)K

v,(vi)i(x, d(yi)i)

Wir erhalten W-Kerne auf Kv,(vVn) : Ev×AvVn → IR mit Vn die Menge der Folgen der Langen. Dann ist fur jedes x ∈ E∅ das Tupel (ΩVn ,AVn ,K

∅,Vn(x, .)), n ∈ IN, versehen mit denProjektionen ΦVn,Vm , m ≤ n ein projektives maßerhaltendes System. Dieses hat, analog zuIonescu-Tulcea, einen projektiven Grenzwert (ΩV ,AV ,K(x, .)).

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8.5 Prozesse

Durchgehend benutzen wir denselben W-raum (Ω,A, P ). Alle Prozesse sind auf diesem W-raum definiert.

Ein stochastischer Prozess ist eine Familie von Zufallsgroßen Xt : Ω 7→ Et, t ∈ T. DieIndexmenge T ist in der Regel eine geordnete Menge. Sehr haufig ist die Indexmenge eineTeilmenge der reellen Zahlen und erhalt dann die Interpretation als Zeitparameterraum. Invielen Fallen ist (Et, Et) = (E, E) fur alle t ∈ T. Wir sprechen dann von einem Prozess mitZustandsraum E.

In diesem Sinne ist jede deterministische Funktion f : T 7→ E ein (degenerierter) sto-chastischer Prozeß. Allgemein ist die Abbildung T ∋ t 7→ Xt(ω) ein Pfad des Prozesses (zuω).

Sei ET =∏

t∈T Et der Produktraum. Jeder stochastische Prozeß X = (Xt)t∈T ist eine Zu-fallsgroße X : Ω 7→ ET , meßbar bzgl. der Produkt-σ-Algebra ET definiert durch Φt(X(ω)) =(X(ω))(t) = Xt(ω). Die Verteilung eines Prozesses X ist das Maß PX = P (X−1(·)) auf demProduktraum (ET , ET ). Eine Marginalverteilung zur Basis S ⊂ T ist das W-Maß PΦSX =P (XS ∈ ·) auf ES . Wir sprechen von eindimensionanlen, endlich dimensionalen (usw. ) Margi-nalverteilungen fur S einelementig, mit endlich vielen Elementen usw.. Die endlich dimensio-nalen Verteilungen bestimmen im Regelfall (Kolmogoroff oder Ionescu-Tulcea) die Verteilungdes Prozesses.

Zwei Zgn X und Y, nicht unbedingt auf demselben W-raum definiert, heißen Kopienvoneinander, falls deren Verteilung ubereinstimmt, PX = P Y . Durch Vergroßern, (=Pro-duktbildung) des zugrunde liegenden W-raumes konnten wir X,Y auf demselben W-raumbetrachten. Dies ist der Regelfall. Zwei Zgn X und Y auf demselben W-Raum heißen Ver-sion voneinander, falls sie fast sicher ununterscheidbar sind auf dem Bildraum. In Formeln,P (X ∈ AY ∈ A) = 0 fur alle meßbaren Mengen A. Sie heißen fast sicher gleich oderununterscheidbar, falls P (X 6= Y ) = 0 gilt.

Der Begriff Kopie betrifft die Verteilung einer Zg, Version und Gleichheit die Auspragungder Zgn, einmal bzgl. dem Bildraum und einmal auf dem Definitionsraum. Gleichheit impli-ziert Version und Version impliziert Kopie, aber im allgemeinen nicht umgekehrt.

Betrachten wir jetzt Prozesse X,Y : Ω → ET . Diese sind Kopien voneinander, falls alleendlich dimensionalen Marginalverteilungen ubereinstimmen. Sie sind Versionen voneinander,falls P (Xt 6= Yt) = 0 fur alle t ∈ T gilt. (Argumentiere uber das Erzeugendensystem Φ−1

t (.)der Produkt-σ-Algebra. Die Produkt-σ-Algebra ist die Menge aller meßbaren Zylindermengenmit abzahlbarer Basis.) Fur die Ununterscheidbarkeit sei angemerkt, dass die Menge X 6= Yeventuell garnicht ET meßbar ist.

Standardbeispiel: Sei Ω das Einheitsintervall, B die Borel σ-Algebra darauf, λ das Le-besgue Maß. Definiere die Prozesse Xt(ω) = 11t=ω und Yt ≡ 0, t ∈ T = [0, 1]. Diese Prozessesind Versionen voneinander, da P (ω | Xt(ω) 6= Yt(ω)) = 0 fur alle t ∈ T gilt. Sie sind nichtfast sicher gleich, die Menge X 6= Y ist der gesamte Raum Ω.

Warnung: Die Menge X 6= Y = ω ∈ Ω | ∀t ∈ T | Xt(ω) 6= Yt(ω) ist im allge-meinen nicht meßbar. Dazu sei, (Ω,B, λ, T ) wie im obigen Beispiel und A ⊂ [0, 1] eine nichtLebesgue meßbare Menge. Die Prozesse Xt(ω) := 11A(t)11t(ω), Yt ≡ 0, t ∈ T sind Versionenvoneinander, aber X 6= Y ist die nicht meßbare Menge A.

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8.5.1 Pfadmengen

Sei X : Ω→ ET , Xt(ω) = X(ω)(t) ein stochastischer Prozesss mit Zeitparametermenge T inden reellen Zahlen. Die Funktion ω 7→ supt∈T Xt(ω) ist eventuell nicht meßbar. Das Problemtaucht nur fur uberabzahlbare T auf. Fur T abzahlbar ist das obige Supremum und auchY : Ω × T → E mit Y (ω, t) := Xt(ω) meßbar bzgl. A ⊗ ET − E , jedoch im allgemeinennicht fur uberabzahlbere T. Das Meßbarkeitsproblem ließe sich umgehen, wenn jeder PfadT ∋ t

ω7→ Xt(ω) durch abzahlbar viele Werte Xt(ω) mit t aus einer abzahlbaren Mengebestimmt ware. Eine derartige Theorie separabler Prozesse wurde von Doob ausgefuhrt (sieheMeyer [8]).

Wir sind nicht ganz so anspruchsvoll. Unser Ziel sind zwei wichtige Prozesse, die BrownscheBewegung und der Poissonsche Zahlprozess.

Die Brownsche Bewegung

Ein Prozess Xt, t ∈ T ⊂ IR, mit unabhangigen Zuwachsen ist ein Prozess mit Xti−Xti−1 , i =1, ..., n, unabhangig fur alle t0 < t1 < ... < tn ∈ T.

Eine Brownsche Bewegung zu σ2 > 0 ist ein stochastischer Prozeß Xt : Ω 7→ IR, t ∈ T =IR+, mit den Eigenschafteni) Die Zuwachse sind unabhangig.ii) Xt −Xs hat eine N(0, σ(t− s)) Normalverteilung fur alle s < t.iii) X0 ≡ 0.iv) Die Pfade T ∋ t 7→ Xt(ω) sind stetig.

Die Standard Brownsche Bewegung ist eine Brownsche Bewegung (BB) mit σ2 = 1. DieStandardnotation ist Bt oder Wt. (Norbert Wiener hat als erster die BB mathematisch exaktdefiniert, Brown war Physiker.)

Satz 105 Die Brownsche Bewegung existiert.

Beweis: Sei µs,t die Normalverteilung N(0, (t − s)σ2) fur s < t. Sei Ks,t, s < t ∈ IR+, dieGaußsche Halbgruppe,

Ks,t(x,A) = µs,t(A− x).

Nach Kolmogoroff existiert zu dieser Halbgruppe ein W-Kern KT : IR×BT → IR als projek-tiver Limes. Nehme als Xt die Projektionen Φt auf die t-te Koordinate zu dem Maß KT (0, ·)auf RT . Es gilt X0 = 0.

Die ersten zwei Eigenschaften werden nachgerechnet, die dritte ist einfach. Die Idee zumNachweis der vierten und letzten Eigenschaft besteht in der Einschrankung dieses Maßesauf stetige Funktionen. Beachte, die Menge C der stetigen Funktionen ist nicht Produkt-σ-Algebra meßbar (da sie keine Zylindermenge mit abzahlbarer Basis ist). Eine entsprechendeTheorie entwickeln wir jetzt allgemein.

Sei (Ω,A, P ) ein W-raum. Das außere Maß zu P ist die Abbildung P ∗ von der Potenz-menge uber Ω in die erweiterten reellen Zahlen definiert durch

P ∗(Q) = infP (A) | Q ⊂ A ∈ A.

Das außere Maß ist wohldefiniert, isoton und ist eine Erweiterung des Maßes (=stimmt mitµ auf der σ-Algebra A uberein).

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WS10/11 Maßtheorie

Proposition 106 Sei (Ω,A, P ) ein W-Raum und Q ⊂ Ω eine Menge von P -außeren Maß1. Dann ist die Einschrankung P|Q von P auf Q, definiert durch P|Q(A∩Q) = P (A) fur alleA ∈ A, ein W-maß auf (Q,A|Q = A ∩Q | A ∈ A).Beweis: • P|Q ist wohldefiniert.

Sei A∩Q = B ∩Q mit A,B ∈ A. Es folgt AB ⊂ Qc. Dies impliziert Q ⊂ (AB)c. Ausder Istonie des außeren Maßes folgt 1 = P ∗(Q) ≤ P ∗((AB)c) = P ((AB)c) ≤ 1 und damitP (AB) = 0 und P (A) = P (B).

Der Rest ist einfach. q.e.d.Fur Produktw-raume (IRT ,BT , P ) ist Q eine Menge von P -außerem Maß 1 genau dann,

wenn P (A) = 1 gilt fur alle Zylindermengen A mit abzahlbarer Basis, die Q ⊂ A erfullen.(Die Produkt-σ-Algebra ist die Menge aller Zylindermengen mit abzahlbarer Basis.)

Wir werden diese Aussage anwenden auf holderstetige Funktionen. Fur 0 ≤ γ ≤ 1, d > 0sei Hγ,d(S) die Menge der Funktionen f : S → IR mit

|f(x)− f(y)| ≤ d|x− y|γ

fur alle x, y ∈ S ⊂ T. Wir verwenden zur Abkurzung Φ−1T,S(H.(S)) = H.(S, T ).

Die Abbildungd 7→ Hγ,d(S, T )

ist isoton (fur festes γ, S) und die Abbildung

S 7→ Hγ,d(S, T )

ist antiton (fur festes γ, d) und σ-stetig von unten (=fur aufsteigende Mengen Sn, n ∈ IN,gegen S gilt Hγ,d(Sn)→n Hγ,d(S, T )).

Ein Element aus Hγ(S) := ∪d>0Hγ,d(S) heißt (gleichmaßig) γ-holderstetig auf S. Beachte,Hγ(S) ist der aufsteigende Grenzwert der Mengen Hγ,dn(S), n ∈ IN, einer gegen ∞ aufstei-genden, abzahlbaren Folge (dn)n. Holderstetige Funktionen sind stetig. Die 1-Holderstetigkeitwird auch Lipschitzstetigkeit genannt.

Warnung, die AbbildungS 7→ Hγ(S, T )

ist antiton, aber im allgemeinen nicht mehr σ-stetig von unten.

Proposition 107 Sei S eine Teilmenge der reellen Zahlen und sei f : S → IR (γ, d)-holder-stetig. Dann gibt es eine (γ, d)-holderstetige Fortsetzung von f auf den reellen Zahlen. Ist Sdicht in den reellen Zahlen, so ist die Erweiterung eindeutig.

Bew: Definiere eine Fortsetzung g : S → IR von f auf dem Abschluss S von S durch g(t) =limS∈s→t f(s). g ist wohldefiniert als Funktion, ist (γ, d)-holderstetig und die einzige moglicheFortsetzung in Hγ,c(S). (Nachrechnen.)

Fur x ∈ Scgibt es ein großtes offenes Intervall in der offenen Menge S

cmit x als innerem

Punkt. Sei (a, b) dies Intervall und a, b ∈ S. Setze g linear fort auf dem Intervall [a, b] mit denStutzwerten g(a) auf a und g(b) auf b, formal h(x) := b−x

b−ag(a) +x−ab−a g(b). Ist a = −∞ oder

b =∞ so wahle h(x) = g(b) bzw. = g(a). Die Fortsetzung h : IR→ IR tut’s. q.e.d.

Lemma 108 Sei P ein W-Maß auf (IRT ,BT ), T ⊂ IR. Dann hat die Menge Hγ(T, T ) der γ-holderstetigen Funktionen auf T außeres Maß 1 genau dann, wenn fur jede abzahlbare MengeS ⊂ T gilt P (Hγ(S, T )) = 1.

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WS10/11 U. Rosler

Beweis: • Hγ(S, T ) ∈ Φ−1S (BS) fur hochstens abzahlbare S.

Sei S abzahlbar und ϕ : S → IN eine Abzahlung von S (=ϕ ist bijektiv) und Sn =ϕ−1(1, 2, . . . , n). Die Menge Hγ,d(Sn, T ) ist in Φ−1

Sn(BSn) und konvergiert gegen Hγ,d(S, T ) ∈

Φ−1S (BS),

Hγ,d(Sn, T ) ∈ Φ−1Sn

(BSn) = Φ−1S Φ−1

S,Sn(BSn) ∈ Φ−1

S (BS).Mit einer abzahlbaren Folge 0 < di րi ∞ folgt die Behauptung.• ’Hinrichtung’:Die ’Hinrichtung’ folgt aus der Isotonie des außeren Maßes,

1 ≤ P ∗(Hγ(T, T )) ≤ P ∗(Hγ(S, T )) = P (Hγ(S, T )) ≤ 1

fur S wie oben.• ’Ruckrichtung’: Sei Hγ(T, T ) ⊂ A ∈ BT . Dann ist A = Φ−1

S (Z) eine Zylindermengemit (hochstens) abzahlbarer Basis S, Z ∈ BS . Es reicht zu zeigen Hγ(S, T ) ⊂ A, denn diesimpliziert P (A) = 1.

Sei f ∈ Hγ(S, T ). Dann existiert eine Funktion g ∈ Hγ(T, T ) mit f|S = g|S , Proposition108. Damit

f ∈ Φ−1S (f|S) = Φ−1

S (g|S) = Φ−1S ΦS(g) ⊂ Φ−1

S ΦS(A) = Φ−1S ΦSΦ

−1S (Z) = Φ−1

S (Z) = A.

q.e.d.

Theorem 109 Sei P ein W-maß auf dem Produktraum (IRT ,BT ) mit T = [0, 1]. Falls esKonstanten 0 < α, 1 < β und a gibt mit

|f(t)− f(s)|αP (df) ≤ a|t− s|β

fur alle s < t ∈ T , so hat Hγ(T ) außeres P -maß 1 fur alle γ < β−1α .

Beweis: Sei Dn die Menge der reellen Zahlen i2n , 0 ≤ i ≤ 2n, und D der Grenzwert der

aufsteigenden Folge Dn. Definiere Bd = ∩n∈IN ∩2n

i=1 Hγ,d( i−12n , i

2n , T ) und B = ∪d>0Bd.• P (B) = 1.Die Markoffungleichung liefert, δ := β − 1− γα > 0,

P (Hcγ,d(s, t, T )) ≤

∫ |f(t)− f(s)|αP (df)

(dα|t− s|α)γ ≤ a

dαγ|t− s|β−αγ

P (Bcd) ≤

n∈IN

2n∑

i=1

P (Hcγ,d(

i− 1

2n,i

2n, T ))

≤ a

dαγ

n∈IN

2n∑

i=1

2−n(β−αγ)

≤ a

dαγ

n∈IN2−nδ

=a2−δ

dαγ1

1− 2−δ→d→∞ 0

Die Abbildung d→ Bd ist aufsteigend, die Bd sind meßbar und damit auch der Grenzwert B.

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• ∀d > 0 ∃d′ ≥ d ∀S ⊂ T, D ⊂ S : Bd ∩ C(S, T ) ⊂ Hγ,d′(S, T ) mit C(S, T ) = f : T →IR | f|S stetig .

Sei f ∈ Bd, s < t ∈ S. Wir benutzen die Dualdarstellung x =∑

i∈IN xi2−i, xi ∈ 0, 1

und nicht alle Koordinaten sind 1 ab einer gewissen Stelle. Fur t =∑

i ti2−i und entsprechend

s sei i0 das kleinste i ∈ IN mit si 6= ti. Aktuell gilt si0 = 0 < 1 = ti0 . Sei i1 das kleinstei > i0 mit ti = 1 und ∞, falls keine solches i existiert. Definiere die aufsteigende Folge tn =∑n

i=1 ti2−i ∈ Dn, n ∈ IN reeller Zahlen. Es gilt tn ↑ t, ti−ti−1 = ti2

−i, t−u =∑∞

i=i0(ti+1−ti)

fur u = ti0 und f(t)− f(u) =∑

i=i0(f(ti+1)− f(ti)) wegen der Stetigkeit. Es folgt

|f(t)− f(u)| ≤∞∑

i=i0

|f(ti+1)− f(ti)|

≤ d∞∑

i=i0

|ti+1 − ti|γ = d∞∑

i=i0

ti+12−(i+1)γ

≤ d∞∑

i=i1

2−iγ = d2−i1γ∞∑

i=0

2−iγ

= d2−i1γ1

1− 2−γ≤ d

1− 2−γ|t− u|γ

≤ c1|t− u|γ

mit einer Konstanten c1. Mit einem symmetrischen Argument, schreibe u − s =∑

i xi2−i in

der Dualdarstellung und mit der Folge xn =∑n

i=0 xi2−i →n u−s erhalten wir |f(u)−f(s)| ≤

c2|u− s|γ mit eventuell einer anderen Konstanten c2. Dies ergibt

|f(t)− f(s)| ≤ |f(t)− f(u)|+ |f(u)− f(s)| ≤ c1|t− u|γ + c2|u− s|γ ≤ c3|t− s|γ

mit einer Konstanten c3 ≥ d.Die oben angefuhrten Abschatzungen gelten gleichmaßig in S ⊃ D.• Bd ⊂ C(D,T )Holderstetigkeit impliziert Stetigkeit.• Hγ(D,T ) = BAus Hγ,d(D,T ) ⊂ Bd ∩ C(D,T ) ⊂ Hγ,d′(D,T ) folgt die Teilaussage mit d→∞.• ∀S ⊂ T, D ⊂ S : Hγ(S, T ) = B ∩ C(S, T )Die Aussage folgt aus Hγ,d(S, T ) ⊂ Bd ∩C(S, T ) ⊂ Hγ,d′(S, T ) mit d→∞ fur eine Folge.• P (B ∩ C(S, T )) = 1 fur hochstens abzahlbare S.OEdA gilt D ⊂ S. Fur jedes s ∈ S\D sei dn ∈ D eine Folge mit |dn − s| → 0 schnell

genug. Sei As,m = ∩n≥mHγ,d(dn, s) und As der Grenzwert der aufsteigenden Folge As,m inm. Wegen

P (Acs,m) ≤ c3

n≥m

|dn − s|β−γα <∞

mit c3 eine Konstante und Wahl der dn, konvergiert P (Acs,m) in m gegen 0. Damit gilt

P (As,m) →m P (As) = 1. Damit ist A := ∩s∈S\DAs meßbar und hat Maß 1. Aus B ∩ A ⊂B ∩ C(S, T ) folgt die Behauptung.• P (Hγ(S, T )) = 1 fur hochstens abzahlbare S.OEdA sei D ⊂ S. Aus Hγ,d(S, T ) ⊂ Bd ∩ C(S, T ) ⊂ Hγ,d′(S, T ) folgt B ∩ C(S, T ) =

Hγ(S, T ) und damit die Teilaussage.Mit der Proposition 107 ergibt sich der Satz. q.e.d.Jetzt in stochastischer Schreibweise die stochastische Formulierung:

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WS10/11 U. Rosler

Korollar 110 Sei X = (Xt)t∈T=[0,1] ein reellwertiger Prozeß. Falls es Konstanten 0 < α, 1 <

β und a gibt mit E|Xt −Xs|α ≤ a|t − s|β fur alle s < t ∈ T , so gibt es eine γ-holderstetigeKopie von X fur alle γ < β−1

α .

Beweis: Die ω’s ersetzen die Funktionen. Nehme die Einschrankung von P auf die Menge

ω ∈ Ω | ∃d > 0 ∀s, t ∈ T : |Xt(ω)−Xs(ω)| ≤ d|t− s|γ.

Diese tut’s, Proposition 106 und Satz 109. q.e.d.Der obige Satz und das Korollar lassen sich schnell ausdehnen auf kompakte T, nicht

jedoch auf ganz IR+.Bsp: Brownsche Bewegung Die Pfade der Brownschen Bewegung auf [0, 1] sind fast

sicher γ-holderstetig fur jedes γ < 1/2. Es gilt Xt − Xs ∼ N(0, t − s) ∼ √t− sN(0, 1) unddamit

E|Xt −Xs|α ≤ aα|t− s|α/2

fur α > 2. γ < α/2−1α = α−2

α →α→∞↑ 12 .

Insbesondere ist die Menge C der stetigen Funktionen eine 1-Menge fur das außere Maß.Die Menge Hγ(T ) ist nicht BT meßbar, hat außeres Maß 1 und ist in C enthalten. Stan-dardmaßig nimmt man in die Definition der BB bereits die Stetigkeit der Pfade mit hinein,nicht die Holderstetigkeit.

Fortsetzung des Existenzbeweises der BB: Zu n ∈ IN sei Wnt : Ωn → IR eine BB auf dem

Intervall t ∈ Tn = [n − 1, n] mit stetigen Pfaden. Sei Pn das W-maß dazu. Durch Ubergangauf den Produktraum Ω = ΩIN versehen mit der Produkt-σ-Algebra und dem Produktmaßkonnen wir von unabhangigen Zgn (Wn

t )t∈Tn : Ω → IRTn , n ∈, IN definiert auf demselbenW-raum ausgehen. Definiere fur t ∈ IR+, n = ⌊t⌋, die untere Gaussklammer

Wt = Wn+1t−n +

n∑

i=1

W i1

Dies ist eine standard Brownsche Bewegung. (Hier ist einiges Nachzurechnen.) q.e.d.Alternative Konstruktion: Fur die Konstruktion des Prozesses ergeben sich gute Al-

ternativen durch stetige (oder holderstetige) Funktionen. Wir konnten einen Prozess konstru-ieren bzgl. der vorgegebenen Halbgruppe Ks,t, s ≤ t ∈ D auf einer dichten und abzahlbarenTeilmenge D von T, wie zum Beispiel das oben verwendete D. Zeige dann µD(C(D)) = 1oder µD(Hγ(D)) = 1 und erweitere das Maß µD von (IRD,BD) auf (IRT ,BT ). (Hintergrundist, jede stetige (holderstetige) Funktion auf S kann zu genau einer auf T erweitert werden.)

Noch einmal abstrakt die (gemachte) Konstruktion. Sei (IRT ,BT , µ) ein W-raum und dieMenge C(T ) der stetigen Funktionen auf T habe außeres Maß 1. Dann ist die Abbildung

ϕ1 : (C(T ),BT|C(T ), µ|C(T ))→ (RT ,BT , µ)

definiert als Einbettung ein Maßraummorphismus, d.h. meßbar und maßerhaltend (µϕ−1 =µ|C(T )). Sei D eine dichte, abzahlbare Teilmenge von T. Die Abbildung

ϕ2 : (C(D),BD|C(D), µ|C(D))→ (C(T ), BT|C(T ), µ|C(T ))

definiert durch die Einbettung ist ein Maßraumisomorphismus, d.h. ϕ2 ist bijektiv ϕ2, ϕ−12

sind Maßraummorphismen.

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Proposition 111 Sei Xt, t ∈ T = IR+ ein stochastischer Prozess auf (Ω,A, P ) mit stetigenPfaden. Dann ist X ′ : Ω×T → IR definiert durch X ′(ω, t) = Xt(ω) meßbar bzgl. der Produkt-σ-Algebra A⊗B und der Borelschen.

Bew: OEdA sei T = [0, 1). Sei S eine dichte, abzahlbare Teilmenge von T. Wie oben dargelegt(allerdings fur Ω = IRT ), ist XT : Ω→ IRT A−BT -meßbar aquivalent zu XS : Ω→ (IRS ,BS)meßbar wegen der Pfadstetigkeit. Die letztgenannte Zg ist genau dann meßbar, wenn X :Ω× S → IR, definiert durch X(ω, s) = Xs(ω), meßbar ist bzgl. der Produkt-σ-Algebra. (DieHinrichtung ist offensichtlich. Fur die Ruckrichtung verwende, fur A ∈ A × Pot(S) ist jederSchnitt ω ∈ Ω | (ω, s) ∈ A in Richtung s ∈ S meßbar in A.)

Eigenschaften

Proposition 112 Sei Wt, t ∈ IR+, eine Brownsche Bewegung zu σ2 = VarW1.

• Fur a > 0 ist Wat, t ∈ IR+, eine Brownsche Bewegung zum Parameter aσ2.

• Fur a > 0 ist aWt, t ∈ IR+, eine Brownsche Bewegung zum Parameter a2σ2.

• Fur s > 0 ist Xt+s −Xs, t ∈ IR+, eine Brownsche Bewegungvzu σ2.

• Yt := tX1/t fur t > 0 und Y0 := 0 ist f.s. eine Brownsche Bewegung zu σ2.

Beweis: Die ersten drei Aussagen sind einfach. Nur die vierte Aussage benotigt eine Argu-mentation.

Die Unabhangigheit der Zuwachse von Yt = tX1/t ist etwas Schreibarbeit, laßt sich jedochauf die Unabhangigkeit der Zuwachse des X-Prozesses zuruckfuhren.

Der Zuwachs Yt − Ys = tX1/t − sX1/s = −s(X1/s − X1/t) + (t − s)(X1/t − 0) ist eine

Summe von zwei unabhangigen Zgn mit Gaussverteilung zu den Parametern (0, s2σ2(1s − 1t ))

und (0, (t − s)2 σ2

t ). Diese ist Gaussverteilt mit Parameter die Summe der Einzelparameter(=(0, σ2(t− s))).

Es verbliebe zu zeigen limt→0 tX1/t = 0 = limt→∞ Wt

t . Verwende fur n2 ≤ t < (n + 1)2

Wt = Wn2 + (Wt −Wn2) und |Wt|t ≤

|Wn2 |

n2 + An

n2 mit An := supn2≤s≤(n+1)2 |Ws −Wn2 |. Mit

Borel-Cantelli gilt limn→∞W

n2

n2 = 0 f.s. wegen

n

P (Wn2

n2≥ a) ≤

n

EW 2n2

n4a2=∑

n

1

n2a2<∞

Borel-Cantelli liefert ebenfalls An

n2 → 0 wegen AnD= sup0≤t≤2n+1 |Wt| D=

√2n+ 1A0 und

n

P (An

n2> a) ≤

n

√2n+ 1

n2EA0 <∞.

q.e.d.

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8.5.2 Der Poissonsche Zahlprozess

Ein Poissonprozess oder auch Poisson Zahlprozess λ > 0 ist ein stochastischer Prozeß Xt :Ω 7→ IR, t ∈ T = [0,∞), mit den Eigenschaften

• Die Zuwachse sind unabhangig.

• Xt −Xs hat eine Poi(λ(t− s)) Poissonverteilung fur alle s < t.

• Die Pfade t 7→ Xt(ω) sind rechtsstetig, isoton und haben nur Sprunge der Große 1.

• X0 = 0.

Der Standard Poissonprozess ist ein Poissonprozess mit λ = 1.

Lemma 113 Der Poissonprozess existiert.

Beweis: Sei µs,t die Poissonverteilung Poi(λ(t−s)) fur s < t. Sei Ks,t, s < t ∈ IR+, die PoissonHalbgruppe,

Ks,t(x,A) = µs,t(A− x).

Nach Kolmogoroff existiert zu dieser Halbgruppe ein W-Maß P = KT (0, ·) auf IRIR+als

projektiver Limes. Nehme als Xt die Projektionen auf die t-te Koordinate. Es gilt X0 = 0.Ersten beiden Eigenschaften: Fur 0 = t0 < t1 < ... < tn, Ai ∈ B, ist zu zeigen

P (Xti −Xti−1 ∈ Ai, i = 1, ..., n) =n∏

i=1

µti,ti−1(Ai).

Dies folgt durch die Konstruktion via den Kernen.Zum Nachweis der dritten und letzten Eigenschaft werden wir den Prozess Xs : Ω 7→

ZZ+, s ∈ S abzahlbar mit obigen Eigenschaften betrachten und dann fortsetzen mittels Xt =limS∋sցtXs punktweise. Xt tut’s.

Sei S die Menge der dyadischen Zahlen i2n | i ∈ IN, n ∈ IN.. Dies ist eine dichte und

abzahlbare Menge in T .• Fast alle Pfade s 7→ Xs(ω), s ∈ S, sind stuckweise konstant und haben nur Sprunge

aufwarts der Große 1.Eine Funktion f : IR+ 7→ IR mit f ∈ limn ∪n2ni=1g | g( i

2n )− g( i−12n ) 6∈ 0, 1 ist stuckweise

konstant und hat nur Sprungen aufwarts der Große 1. (Ubung). Wir schatzen ab

P (∪n2ni=1X i2n−X i−1

2n6∈ 0, 1 ≤

n2n∑

i=1

P (X i2n−X i−1

2n6∈ 0, 1)

≤n2n∑

i=1

exp(−λ2−n)∞∑

j=2

(λ2−n)j

j!

≤n2n∑

i=1

exp(−λ2−n)(λ2−n)2∞∑

j=0

(λ2−n)j

j!

≤n2n∑

i=1

(λ2−n)2 ≤ nλ22−n →n→∞ 0.

Dies zeigt die Behauptung.

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• Xt ist wohldefiniert wegen der Isotonie der Pfade.

• Xt hat die richtige Verteilung.

Die Verteilung Poi(λs) konvergiert mit s → t gegen Poi(λt). Wegen Xs →S∋sցt Xt hatXt eine Poi(λt) Verteilung. Analog erhalt man

(Xt1 , ..., Xtn)D= (Xt1 , ..., Xtn).

q.e.d.

Beachte, wir benotigen hier nicht T = [0, 1) und die Aneinandersetzung des Prozesses.

Wir konnen die”schone“Version auch sofort einfacher angeben.

Sei Sn eine Summe von uiv Zgn zu einer Exponentialverteilung mit Parameter λ. DefiniereNt als das großte n ∈ IN0 mit Sn ≤ t.

Lemma 114 Der Prozess (Nt)t∈IR+ ist eine Version des PP zum Parameter 1λ mit obigen

Pfadeigenschaften.

(Fur die Gleichheit der endlich dimensionalen Verteilungen zeigt man die Markoffeigenschaftvon N und die bedingte Verteilung von Nt unter Ns ist die von Nt−s. Dies liegt an der alt-wie-neu-Eigenschaft einer exponentialverteilten Zg: P (X > t | X > s) = P (X < t − s) furs < t. [?])

Eigenschaften

Proposition 115 Sei Xt : Ω→ IN0, t ∈ IR+, ein Poissonprozess zum Parameter λ. Es gilt

• Fur a > 0 ist Xat, t ∈ IR+, ein Poissonprozess zum Parameter aλ.

• Fur s > 0 ist Xt+s −Xs, t ∈ IR+, ein Poissonprozess zu λ.

• Die Abbildung T ∋ t 7→ Xt(ω) ist fast sicher stetig in jedem t ∈ T.

• Fast alle Pfade haben unendlich viele Sprunge.

Beweis: Die ersten beiden Eigenschaften sind einfach. Fur die dritte verwende die Abschatzung

P ( supt−ǫ≤s≤t+ǫ

|Xt −Xs| > 0) ≤ P (|Xt+ǫ −Xt−ǫ| > 0) ≤ 1− Poi(2λǫ)(0) = 1− e−2λǫ →ǫ 0.

Fur die vierte Eigenschaft verwende

limt

P (Xt ≤ n) = Poi(λt)(0, ..., n) =n∑

j=0

exp(−λ)(λt)j

j!→t→∞ 0.

q.e.d.

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8.5.3 Punktprozesse

Ein Punktprozess auf den reellen Zahlen versehen mit der Borel σ-Algebra B zum Radon Maßµ auf den reellen Zahlen als Parameter ist ein stochastischer Prozeß Xt : Ω 7→ IN0, t ∈ T = B,mit den Eigenschaften• Fur paarweise disjunkte Mengen Bi ∈ B, i = 1, . . . n sind dieXBi

, ı = 1, . . . n unabhangig.• XB hat eine Poi(µ(B))-Verteilung fur B ∈ B.• X∅ = 0.• Die Pfade t 7→ Xt(ω) sind isoton bzgl. der Enthaltensordnung auf T.Hierbei benutzen wir die Konvention, die Poissonverteilung zum Paramter ∞ ist das

Punktmaß auf unendlich.Das Maß µ heißt Intensitatsmas. Das Intensitatsmaß eines Punktprozesses ist festgelegt

durch die Erwartungswerte XI von Intervallen. Der standard Punktprozess hat das Lebesmaßals Intensitatsmaß. Damit ist X[0,t], t ∈ IR+ ein Poisson Prozess zu λ = 1.

Existenz: Sei µ ein endliches Mas. Seien Zn, n ∈ IN uiv Zgn mit Verteilung µµ(IR) und N

sei Poi(µ(IR)) verteilt. Sei ν =∑N

i=1 δZiein zufalliges Maß. Dann tut es XA := ν(A).

Die Ausdehnung auf σ-endliche Maße ist standard.Wir konnen jetzt noch einen Schritt weitergehen. Seien Yn, n ∈ IN weitere uiv Zgn un-

abhangig von allem anderen. Setze ν =∑

i∈IN δ(Zi,Yi). Dann ist ν ein zufalliges Maß auf IR2

mit besonderen, schonen Eigenschaften. Wir gehen nicht in die Einzelheiten.Bild

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Literaturverzeichnis

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