Hyle (Studien zum aristotelischen Materie-Begriff) || 7.3 Das Objekt der Physik und die allgemeine...

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7-3 Das Objekt der Physik und die .allgemeine Materie' 569 erfahrung bei ihm auch sein sehr gewichtiges platonisches Erbe be- denken 38 . Wie nehmen sich nunmehr die Neuerungen aus, die Aristoteles an dem platonischen Dreieraufbau vorgenommen hat? Da es keine (allgemeing ltige) Wissenschaft vom Sinnlichen als solchem gibt .als solchem' im strengen und ausschlie lichen Sinn verstanden — mu te er das Sinnliche verallgemeinern, ohne ihm seine Sinnenhaftigkeit ganz zu nehmen. Dies suchte er zu leisten, indem er einmal dem Physiker auch die Betrachtung der Wesensform zuweist, zum ndern die Individualmaterie zu einer »sinnlichen allgemeinen' Materie entindividualisiert. Mit dem Ansatz einer .allgemeinen Ma- terie' bei Aristoteles behalten die ,thomistischen' Interpreten gegen Merlan recht, gehen aber darin zu weit — und hier hat wiederum Merlan das Richtige gesehen —, da sie diesen nicht belegten Vorgang der Entindividualisierung explizieren und so Aristoteles einfach eine .erste Abstraktionsstufe' nach Art des Thomas zuschreiben 39 . Der Ausdruck .Abstraktion' begegnet uns erst auf der zweiten Stufe der μαθηματικά und nur hier. Deshalb wird im Anschlu an diese Stufe allgemein ber Abstraktion bei Aristoteles gesprochen und der beraus wichtige Begriff der ύλη νοητή gekl rt. Was die dritte Stufe, diejenige der .ersten' Philosophie, angeht, so wird man entsprechend der Vielfalt ihrer Objekte (o. 4, z. B. 4.4) erwarten, da auch die Erkenntnis dieser Objekte nicht einheitlich ist. Einiges k nnen wir, angeregt von Thomas, auch herausarbeiten, kommen aber infolge der D rftigkeit der Belege nicht viel ber Ver- mutungen hinaus. 7.3 Das Objekt der Physik und die ,allgemeine Materie* (Ολη καθόλου) 40 /.jj Das Objekt der Physik Wir haben soeben darauf hingewiesen, da es bei Platon von Sinnendingen als solchen nur δόξα, aber keine έτπο-τήμη gibt. Dem- nach w re die Physik, wenn und soweit sie nur die αίσθητά als solche zum Gegenstand h tte, ein Widerspruch in sich selbst und unm glich. Platon selbst hat einen solchen Schlu nie gezogen, ja vielmehr, wie schon z. B. der Phaidon und — trotz είκώς μύθος — der Timaios 38 Vgl. z. B. Hirschberger I 4 470—474. 39 u. 7.35- 40 Kremer, Metaphysikbegriff 17—26. Mansion 122—205. Chen, Charismas 131—142. Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 10/31/13 5:18 PM

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7-3 Das Objekt der Physik und die .allgemeine Materie' 569

erfahrung bei ihm auch sein sehr gewichtiges platonisches Erbe be-denken38.

Wie nehmen sich nunmehr die Neuerungen aus, die Aristotelesan dem platonischen Dreieraufbau vorgenommen hat?

Da es keine (allgemeing ltige) Wissenschaft vom Sinnlichen alssolchem gibt — .als solchem' im strengen und ausschlie lichen Sinnverstanden — mu te er das Sinnliche verallgemeinern, ohne ihm seineSinnenhaftigkeit ganz zu nehmen. Dies suchte er zu leisten, indem ereinmal dem Physiker auch die Betrachtung der Wesensform zuweist,zum ndern die Individualmaterie zu einer »sinnlichen allgemeinen'Materie entindividualisiert. Mit dem Ansatz einer .allgemeinen Ma-terie' bei Aristoteles behalten die ,thomistischen' Interpreten gegenMerlan recht, gehen aber darin zu weit — und hier hat wiederumMerlan das Richtige gesehen —, da sie diesen nicht belegten Vorgangder Entindividualisierung explizieren und so Aristoteles einfach eine.erste Abstraktionsstufe' nach Art des Thomas zuschreiben39.

Der Ausdruck .Abstraktion' begegnet uns erst auf der zweitenStufe der μαθηματικά und nur hier. Deshalb wird im Anschlu andiese Stufe allgemein ber Abstraktion bei Aristoteles gesprochen undder beraus wichtige Begriff der ύλη νοητή gekl rt.

Was die dritte Stufe, diejenige der .ersten' Philosophie, angeht,so wird man entsprechend der Vielfalt ihrer Objekte (o. 4, z. B. 4.4)erwarten, da auch die Erkenntnis dieser Objekte nicht einheitlichist. Einiges k nnen wir, angeregt von Thomas, auch herausarbeiten,kommen aber infolge der D rftigkeit der Belege nicht viel ber Ver-mutungen hinaus.

7.3 Das Objekt der Physik und die ,allgemeine Materie*(Ολη καθόλου)40

/.jj Das Objekt der Physik

Wir haben soeben darauf hingewiesen, da es bei Platon vonSinnendingen als solchen nur δόξα, aber keine έτπο-τήμη gibt. Dem-nach w re die Physik, wenn und soweit sie nur die αίσθητά als solchezum Gegenstand h tte, ein Widerspruch in sich selbst und unm glich.Platon selbst hat einen solchen Schlu nie gezogen, ja vielmehr, wieschon z. B. der Phaidon und — trotz είκώς μύθος — der Timaios

38 Vgl. z. B. Hirschberger I4 470—474.39 u. 7.35-40 Kremer, Metaphysikbegriff 17—26. Mansion 122—205. Chen, Charismas 131—142.

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570 7- H7le und Erkenntnis

zeigen, die Physik als Wissenschaft anerkannt41. Warum er sich soentschied, und wie er das ständige Fluktuieren der Sinnendinge mitden Forderungen der Physik als einer Wissenschaft verband, wissenwir aus Mangel an Belegen nicht. Jedenfalls fehlte es ihr nach wie voran einer theoretischen Begründung, die nun Aristoteles auf der Basisdes platonischen Wissenschaftsbegriffes zu geben unternimmt. Wasbestimmt er zum Objekt der Physik ?

Das Wort hilft nicht viel weiter, weil hierfür geklärt seinmüßte, was $ bei Aristoteles meint. Da wir jedoch ohne ausführ-lichere Erörterungen nicht über einige grobe Bedeutungsunterschiede( als Form, Materie, Gesamtheit der sublunaren Welt) hinaus-kämen und diese Untersuchung hier nicht angestellt werden kann42,halten wir uns an die Stellen, wo Aristoteles ausdrücklich vom Gegen-stand der Physik spricht43:

So nennt er einmal die , Körper' samt ihren Größen Verhältnissen,Zuständen und Bewegungen, dazu die Prinzipien der , Körpersubstan-zen'44. Unter den Körpern versteht er die vier Elemente und die che-mischen Verbindungen im weitesten Sinne (Stein; Holz), unter denSubstanzen die Pflanzen und Tiere, unter deren Prinzipien Materie,Form, causa efficiens ,und derartiges', u. a. auch die Seele46. Da hierder Bereich sehr weit genommen ist und alles naturhaft Seiende inallen Beziehungen zu umfassen scheint, ergeben sich starke Berührun-gen mit der Mathematik, die sich ja u. a. auch mit Körpern und .Grö-ßen' befaßt, sowie mit der Metaphysik, da die Metaphysik die Prin-zipien der Substanzen allgemein, vielleicht auch speziell die materie-losen Wesensformen der Körperdinge untersucht (o. 4, z. B. 4.24, u.

.821}. Dann hätten alle drei Wissenschaften mindestens ein gemein-sames Materialobjekt, die konkrete Einzelsubstanz. Ihre Formal-objekte werden am deutlichsten in E i und K abgegrenzt46. Bei derDreiteilung in E i (o. 7.2) wurde das ,bewegte Subsistierende' der Phy-sik als Objekt zugewiesen; etwas ausführlicher heißt es im gleichenKapitel: „Die Physik untersucht ein solches Seiendes, das bewegt

41 Merlan 63 f mit weiterer Literatur.42 Vgl. Mansion 80—121 und. o. 1.112.43 Mansion I22f führt die hergehörigen Belege auf.44 cael. A i, 268a i—6.45 So erklärt es Simplic. cael. 6, 34—7, 3, der sich hierfür gewiß z. T. auf met. E i,

1025 b 34—1026 a 6 gestützt hat, wo chemische Verbindungen, Pflanzen, Tiere undVitalseele genannt werden. Die vier Elemente darf man ohne weiteres ergänzen,man denke nur an die enge Verbindung von Element und Bewegung in cael. Undvon den Ursachen weist Aristoteles die Form ja nicht selten auch dem Physiker zu,vgl. E i, io25b 2yf. part. an. A (u. 7.32).

46 E i, io25b 18—102637. io26a 12. ißf. K 4, io6ib27—30. Weniger brauchbar3, ioo5a 29—b 2. Instruktiv M 3, I077b 22—27 (auf dieses wichtige Kapitel

gehen wir u. 7.41 u. ö. ein).

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7-3 Das Objekt der Physik und die .allgemeine Materie' 571

werden (sich bewegen) kann"47. Da nun die Bewegung an Materie ge-bunden ist48, ergibt sich daraus, da die Physik irgendwie die Materieeinbeziehen mu . Dies machen die anschlie enden Er rterungen berdie Definitionsweise des Physikers vollends deutlich49. Am pr gnan-testen wird aber in K 4 das Objekt der Physik gekennzeichnet: Wiedie Geometrie das einzelne Seiende nicht qua Sein, sondern qua Aus-gedehntheit betrachtet (b23—25), so τα συμβεβηκότα ή φυσική και τά$αρχάς θεωρεί τάς των όντων ή κινούμενα και ούχ fj όντα (Letzteres istn mlich Aufgabe der ersten Philosophie)60.

Wie oben angedeutet, kann es nach platonischer Auffassungeigentlich keine Wissenschaft von den Sinnendingen, also keine Phy-sik, geben, und zwar haupts chlich deshalb, weil die sinnlichen Sub-stanzen stetiger Ver nderung unterliegen, Erkenntnis im strengenSinne aber nur auf Unver nderliches geht und von Unver nderlichemm glich ist. F r Aristoteles ist aber neben dem Gegensatz .Ver nde-rung—Unver nderliches'51 wohl eine andere Seite des gleichen Pro-blems ebenso wichtig geworden, die des Individuellen und Allgemeinen.Die eben herausgestellte Verbundenheit der physikalischen Objektemit der Materie schlie t n mlich zugleich auch Individualit t ein, dadie Materie Individuationsprinzip ist. Dann k nnte also die Physiknur beschreiben — und bei Personen benennen: ,Kalh'as, Sokrates..' —,aber keine allgemeinen, d. h. wissenschaftlichen Aussagen machen52.Wie wir u. 7.811 n her sehen werden, beseitigt Thomas die Schwierig-keit durch die Annahme einer materia (sensibilis) communis, eines ge-

47 I025b 26f. ber den zweiten, hier weggelassenen, Teil des Satzes vgl. u. A. 54.48 Besonders 10263. zi.49 I025b3o—io26a6.60 io6ib 28—30. Die Ausdr cke mit ?j b 30 beziehen sich auf όντων, obwohl sie nicht

im Genitiv stehen. ber diese interessante syntaktische Frage (die auch z. B. f r1064a 29 wichtig ist) vgl. o. 4.24.

51 Klassische Stelle Z 15, bes. iO3Qb 27—30 (zitiert o. S. 562 A. 13): Begriff alsλόγος της ουσίας, Definition und Beweis gibt es aber nur von .notwendigen' Dingenohne Werden und Vergehen (b 23—26. b 31 ff). Das k nnte genauso auch bei Platonstehen (vgl. A 6, g87a 33—b 10). Vgl. Paul Wilpert, Arch. Gesch. d. Philos. 42 (1960)1371. 141. Vgl. u. S. 576 A. 86.

52 Zur wissenschaftlichen Erkenntnis Stellen bei Cherniss 236, dazu An. post. A 31.87 b 28—39; b 28f ist die Unterscheidung zwischen το τοιόνδε und τόδε τι wichtig,die noch genauer Untersuchung bedarf, vgl. neben Bonitz 765 b 6—14 die be-deutsame Stelle An. post. B 19, looa 15—b 5 (Ross zu looa 16—b i. Cherniss 237A. 142 Ende. Oehler 219. 229. 2341). Bereits auf der Stufe der Sinneswahrnehmunghaben wir eine Vorahnung des Allgemeinen, indem wir ein Individuelles wahrnehmen.Wir k nnen also das Individuelle als solches weder erkennen noch wahrnehmen,denn die einfachste Sinneswahrnehmung ist schon eine Art .Abstrahieren', wennauch freilich noch kein wissenschaftliches Verstehen, das erst dem dianoetischen undnoetischen Denken gegeben ist. Vgl. ferner f r die Frage der wissenschaftlichen Er-kenntnis Schwegler zu B 4 und zu den dort genannten Stellen (bes. zu M 10), dievon Merlan 65 Anm. genannte Lit. und bes. Oehler 170—250.

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572 7· Hyle und Erkenntnis

dachten, jeder individuellen Z ge baren .Allgemeink rpers', z. B. ,des'Menschen. Liegt so etwas schon bei Aristoteles vor, oder ist er einenanderen Weg gegangen ?

7.52 Soll sich der Physiker nur mit der Materie abgebenoder auch mit der Form ?

Wenn Aristoteles von der »sinnlich wahrnehmbaren Substanz' alsdem Objekt der Physik spricht63, aber im gleichen Atem sagt, derPhysiker solle sich nicht nur mit der Materie, sondern auch und vor-nehmlich mit der Form besch ftigen54, denkt er nicht an das Indivi-duum, sondern an die Artform, wobei er es offenl t, ob er unter Οληetwas Allgemeineres versteht als die Individualmaterie. Falls er dieIndividualmaterie meinte, k nnte man nur dann ber die betreffendeSubstanz eine wissenschaftliche Aussage machen, wenn man ganz vonihrer Materie abs he. Damit h tte man aber bereits die Erkenntnis-weise der Physik, wie sie Aristoteles bestimmt, verlassen, und sichdie einer anderen Wissenschaft (etwa der Metaphysik) zu eigen ge-macht. Also handelt es sich wohl nicht um Individualmaterie.

7.33 Inwieweit geht die Materie in die Definition ein ?

Etwas weiter f hren jene Stellen, an denen die f r den Natur-forscher typische Begriffsart und Definitionsweise besprochen wird,

53 Z ii, 1037a 14—16 τρόπον τινά της φυσικής καΐ δευτέρας φιλοσοφίας έργον ήπερί τάς αίσθητάς ουσίας Θεωρία. hnlich Λ ι, io6ga 30—l» i, wo unter der ουσίααίσθητή als Objekt der Physik auch die Himmelsk rper verstanden werden. —Etwas .individueller' klingt cael. Γ η, 306 a i6f τέλος . . . της φυσικής το φαινό-μενον αεί κυρίως κατά την αϊσθησιν. Simplic. cael. 643. nf verschiebt das sofortetwas ins Allgemeine: της δε φυσικής (τέλος) ή εν τοις φαινομένοις κατά την αϊσθησιντην κυρίως καΐ κατορθωμένην αλήθεια.

64 Ζ ιι, Ι037& ιοί ου yap (!) μόνον περί της Ολης 5εΐ γνωρίζει ν τον φυσικό ν αλλά καΐ(περί της ουσίας add. Jaeger) της κατά τον λόγον, καΐ μάλλον. Vgl. part. an. Α ι,640 b 17—29: Der Naturforscher darf sich nicht nur um die Materie (το εκ τίνων)k mmern, sondern um das είδος: ή γαρ κατά την μορφήν φύσις κυριωτέρα τηςΟλικής φύσεως (28f). Das gesamte Kapitel A i steht ja unter diesem Motto. —E i, 1025b 27f geh rt hierher, wenn man liest: Die Physik geht περί ούσίαν τηνκατά τον λόγον ως επί το πολύ, ου χωριστή ν μόνον (JAb Γ ΑΙ Asc Bonitz Jaeger)„befa t sich meist mehr mit der Substanz als Form denn als Materie, nur da dieForm nicht von der Materie abtrennbar ist". Der anderen Lesart ως επί το πολύως ου χ. μ. „befa t sich mit der Substanz als Form meistenteils nur insofern sievon der Materie nicht trennbar ist" (ET Ross, auch noch Oxf. Tr.) einen passendenSinn abzugewinnen ist schwierig, denn die Physik behandelt die Form nie f rsich, sondern stets als materiegebunden. Vgl. noch phys. iQ4a i2ff und an.29 (Sehwegler 4, ιοί).

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7-3 Das Objekt der Physik und die ,allgemeine Materie* 573

der ,materiegebundene Begriff (λόγο$ ενυλος)55. Aristoteles erl utertdas an seinem Lieblingsbeispiel, der ,Stumpfnase':

,Stumpfnase' (σιμόν, Abstraktum σιμότης) schlie t Materie ein,weil bei σιμόν immer zugleich an eine Nase gedacht werden mu , diekonvex ist. Anders verh lt es sich bei .konvex' (κοίλος), das ohne Naseund sonstige k rperliche Gegenst nde gedacht werden kann, κοίλοςist nun ein mathematischer, σιμός ein »physikalischer* Begriff66. Andereλόγοι ενυλοι w ren z. B. Auge, Gesicht, Fleisch, Knochen, ein Lebe-wesen insgesamt, Blatt, Wurzel, Rinde, eine Pflanze insgesamt, derenMaterie in ihrer Definition jeweils explizit gemacht werden kann67.Nat rlich handelt es sich in all diesen F llen58 nicht um eine Indivi-dualmaterie, sondern um eine .allgemeine Materie' wie die materiacommunis des Thomas59.

Andere Belege best tigen unsere Auffassung, sei es, da Aristo-teles wie in Z ii dar ber diskutiert, ob die Materie Bestandteil derDefinition ist60, oder da er z. B. vom ,ΗοΙζ schlechthin' als demMaterial der ,Kiste schlechthin' oder von der »Bilds ule schlechthin'spricht61. All diese Stellen illustriert trefflich eine u erung des Tho-mas62: partes speciei ponuntur in definitione, non autem paries materiae,ut dicitur in VII Metaphys.63 Nee est hoc contra id quod supra6* dictumest, quod in definitione rerum naturalium ponitur materia: nam in defi-nitione speciei non ponitur materia individualis, sed materia communis;sicut in definitione hominis ponuntur carnes et ossa, non autem hae car-nes et haec ossa66.

55 an. Ai ,4O3a25. bg—12 (Theiler zu b g, S. 91); E i, 1025b 30—1026a 6. K 7,1064a 19—28. phys. β 2, iQ4a ι—7. β g, 2oob "ji.

56 E i und K 7 (s. vorst. Anm.), ferner β 2, iQ4a ι—η: Aristoteles vergleicht die Defi-nitionsweise der Mathematiker (ευθύ, καμπύλον, γραμμή) und des Physikers (σαρξ,όστοΰν, άνθρωπος, |ϊ>1ς σιμή). Thomas phys. 2, 3 (163) sagt dazu: mathematicaut . . rectum et curvum . . et linea definiuntur sine motu et materia; non autemcaro et os et homo: sed horum definitio est sicut definitio sind, in cuius definitioneponitur subiectum sensibile, scilicet nasus; non autem sicut definitio curvi, incuius definitione non ponitur aliquod subiectum sensibile. — Vgl. zu diesem Pro-blem jetzt S. Mansion, To σιμόν et la difinition physique, in: Naturphilosophie beiAristoteles und Theophrast (4. Symposium Aristotelicum 1966), Heidelberg 1969,124—132.

57 E i, io25b 34—I026a3. K 7, io64a 27f σαρκός καΐ οφθαλμού καΐ των λοιπώνμορίων μετά της Ολης αεί τον λόγον άττοδοτέον.

58 Erg nzend treten ζ. Β. phys. β 3 und met. θ 7 hinzu, s. u.59 Pr gnant Thomas phys. 2, 5 (179) zu β 3, I94b a ff, s. u.«° Vgl. o. A. 56, u. A. 65.61 θ 7, i049a 23f Ολη κιβωτίου αύτη, απλώς μεν του απλώς τουδί δε τοδί το ξύλον.

β 3, 195 b 26 f Ursache ist άνδριαντοποιός μεν ανδριάντας, όδΐ δε τουδί.·2 phys. 2, 5 (ΐ79), vgl. ο. Α. 59-63 Ζ ίο. ** R ckverweis auf β 2, i94a Γ—7» s· °· Α.. 56.*5 Vgl. β 9, 200 b 7f (bei Er rterung der hypothetischen Notwendigkeit) Ιστι γαρ

καΐ ίν τω λόγω ενια μόρια ως ύλη του λόγου. Thomas phys. 2, 15 (274) oportebit

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574 7· HYle UQd Erkenntnis

Etwas ausf hrlicher betrachten wir eine Stelle aus Kapitel Z n66,dessen Thema ja lautet: Inwieweit kann oder mu ich die Materie be-r cksichtigen (bzw. weglassen), wenn ich ein Ding definiere? M. a. W.:Inwieweit ist die Materie f r das betreffende Ding .wesentlich' ? DieAntwort f llt f r die beiden Gruppen von Dingen, die Aristoteles nennt,die mathematischen Gegenst nde und die Lebewesen, verschieden aus,wie zu erwarten ist: W hrend bei der Definition der ersteren bis zueinem gewissen Grad — d. h. bis zur reinen Ausdehnung67 — von derMaterie abgesehen werden mu 68, kann der Mensch wie alle .Lebe-wesen' nicht ohne Bewegung, d. h. ohne materielle Teile definiertwerden69. Was das genau hei t, ist schwer zu sagen, weil es nicht weiterausgef hrt wird und in dem Kapitel sich — der Schwierigkeit desGegenstands gem , die Aristoteles klar sieht70 — zwei verschiedeneStr mungen durchkreuzen : Einerseits l t er — wie blich bei ihm —die Definition sich nur auf καθόλου und είδος erstrecken71 und be-trachtet die Hyle als unwesentlichen, nicht zur Definition geh rendenTeil des Synolon72, zum ndern h lt er es f r bertrieben und nichtnachvollziehbar, in jedem Fall von der Materie abzusehen und nurdie Form zu betrachten73. Da er Letzteres in polemischer Absicht be-tont und im Unverbindlichen bel t74, w re man geneigt, die philo-sophische Bedeutung des Gedankens f r gering zu halten. Und dochist er sehr wichtig:

Wir denken n mlich den Menschen nicht etwa deshalb stets ,in'Fleisch und Knochen, weil er eben immer in dieser, nie in einer anderenMaterie (z. B. Holz) auftritt (so da wir nicht durch den Wechsel desMaterials gewahr werden k nnten, wie unwesentlich diese Materieund Materie berhaupt f r ihn ist76 — das w re nicht mehr als eine

in definitione serrae ponere ferrum. Nihil enim prohibet in definitione poniquasdam partes materiae, non quidem partes individuates ut has carnes et haecossa, sed partes communes ut carnes et ossa ; et hoc necessarium est in definitioneomnium rerum naturalium.

ββ Vgl. Ernst Kapp, Sokrates der J ngere, Philol. 79 (1924) 225 — 233. Arpe 44 — 46.67 Vgl. 10360 32 — I037a 5 und u. 7.42, 7.46. Die Pythagoreer und Platon gehen nach

Aristoteles darin noch weiter, indem sie auch von der Extensio noch absehen(io36b 8 — 20).

88 io36a3i — b 2. b 271.69 io36b 24 — 32 (bes. b 291). io37a 5 — 7. Das dazwischen liegende St ck io36b 32 bis

io37a 5 ist der bekannte Einschub ber ολη νοητή, der folgende Satz io37a 7 — 10ist unklar, befa t sich aber offenbar mehr mit dem Individuum als solchem.

70 I036b2if.71 I036a28f.72 io36a 29. b 5 f.73 io36b 22 f το πάντα άνάγειν ούτω καΐ άφαιρΕϊν την Ολην ττερίεργον, R ckbezug

auf b 3·74 Kapp 228 — 233. bes. 232 A. 7.75 io36a 34 — b 7.

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7-3 Das Objekt der Physik und die .allgemeine Materie* 575

Humesche Assoziationsverkn pfung —, sondern weil wir auch denvon den Einzelf llen abstrahierten .Menschen allgemein', den wir als(denkendes, zweif iges usw.) .Lebewesen' definieren und insofernwir ihn derart definieren, notwendig zusammen mit einem (unindividu-ellen) K rper denken m ssen, ohne den der ,Mensch schlechthin' sichnicht .bewegen', nicht .leben' k nnte und so sein Wesen verlierenw rde76. Andererseits erh lt auch dieser K rper erst durch die Wesens-form der Seele, die ihn belebt, seinen Sinn77, so da man beides immerin eins sehen mu , το εξ άμφοΐν ώ$ καθόλου78, das man durch ,ab-straktes Synolon' oder .universales Synolon' bersetzen k nnte79.Wenn man auch in der Beschreibung des .universalen Synolon' (imAnschlu an Aristoteles) immer wieder zu Begriffen wie ,sich bewegen',.leben' usw. Zuflucht nehmen mu , die streng genommen nur vomIndividuum gelten, so wird man doch das Ph nomen als solches wederf r Aristoteles noch f r diesen Abschnitt80 leugnen k nnen, auch wenner es nur andeutend beschrieben hat (s. u.)81.

Wie sieht denn eine Definition, welche die Materie enth lt, inpraxi aus82? Res mieren wir: Da im allgemeinen die Definition nurdie Form, d. h. die Gattung und den artbildenden Unterschied, auf-f hrt83, k nnte die Materie nicht in der Definition enthalten sein84;denn sie ist weder Gattung noch artbildender Unterschied (vgl. o.1.152). Und doch ist sie f r manche Dinge so wesentlich, da man sieim λόγος τή$ ουσίας, der das Wesen der Sache wiederspiegelt, nichteinfach weglassen kann. Aristoteles stellt dies an dem ber hmten Bei-spiel vom Hausbau so dar, da er auf die Frage τί έοτιν drei Artenvon Antwort f r m glich h lt85: i. Ein Haus ist eine ungeordnete79 Hierbei darf man freilich nicht nur an die subjektive Seite denken, etwa an das

Angewiesensein des Denkens auf Vorstellungen (u. 7.821) oder gar an einen Kan-tischen Denkzwang.

77 Zum Beispiel von der .toten Hand' o. 6.222 c.78 1037a 6f.79 Chen, Charismas 131 ff nennt es .universales Konkretum' (ebenso ders., Universal

Concrete, passim), was wir nicht nachahmen wollen, da der Begriff des Konkretensehr vieldeutig ist. Gut Preiswerk 108: .allgemeines Synolon', auch Ross (Met. II197): .materiate universal'.

80 I036b 24—32. 1037a 5—7.81 Von den Kommentatoren interpretiert PS.-Alexander (514, 7—33) die Stelle ein-

seitig auf das aktuelle raumzeitliche Sein des Individuums (bes. 31). Thomas met. 7,ii (1516—1519) bleibt unscharf (auch 1517). Schwegler fa t den Gesamtsinn richtig,wenn er 1037a 5—7 so wiedergibt: .der Mensch nach seinem allgemeinen Wesen, derMensch wie er zu definieren ist, ist das Zusammen von Form und Materie', d. h. dieHyle, das k rperliche Dasein, geh rt zum Begriff und mithin in die Definition desMenschen (S. 107). Richtig und eindeutig Ross' Analyse und Komm.

82 Vgl. Chen, Charismas i$6i. Ders., Universal Concrete soff.88 Z. B. Z 12, io37b 29f. 84 Z. B. Z 10, io35a 6—9. 22!86 an. A i, 403b i—16 (Theiler 91). H 2, iO43a 14—28 und H 3, iO43a3i—33 (in-

struktive Beispiele), vgl. B 2, gg6b 6—8 (Schwegler 3,120). β 9, 2ooa 24—29.

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576 7· Hyle und Erkenntnis

Menge von Steinen, Ziegeln, H lzern (d. h. ein Haus der M glichkeitnach; Definition von der Materie aus). 2. Ein Haus ist ein Schutz f rSachen und Lebewesen (ein Haus der Wirklichkeit nach; Definitionauf Grund der Form = Telos). 3. Ein Haus ist ein aus Steinen usw.bestehender Schutz usw. (Form -f- Materie; Definition des Synolon).Wenn wir die erste, nur der Vollst ndigkeit halber aufgef hrte Artbeiseitelassen, bleibt die Rangordnung der beiden anderen zu be-denken. Eine Definition im streng wissenschaftlichen Sinn des Wortesist allein die der Form86, wie schon mehrfach betont. Andererseitskann der φυσικός bei seinem wissenschaftlichen Arbeiten nicht aufdie Materie verzichten und mu daher mit einer weniger .strikten'Definition umgehen, welche die Materie mit enth lt. Es ist auch nachallem, was wir gesehen haben, keine Frage, da Aristoteles solche De-finitionen der Synola f r die Praxis der Naturforschung zul t.

Wie h tte er sie theoretisch rechtfertigen k nnen ?: Vielleicht isteine Einzelheit geeignet, hierf r einen Hinweis zu geben: Es ist keinZufall, da an. AI , 403baf, wo die materiegebundene Definitionerw hnt ist, Aristoteles genau die gleichen Formulierungen unter-laufen wie bei der .hypothetischen Notwendigkeit' (u. 8.244}: 6 μενγαρ λόγος δδε του πράγματος, ανάγκη 5 είναι τοϋτον εν ΰλτ\ τοιαδί,εί εσται. Dies hei t, da er die Materie nach Analogie der .hypotheti-schen Notwendigkeit' in die Definition einbeziehen will. Wie diegenannte .Notwendigkeit' der Versuch ist, den absoluten Kausal-mechanismus einer teleologisch-eidetischen Welterkl rung unterzu-ordnen, indem das Angewiesensein des Telos auf die Materie betontwird (und hinwiederum dadurch die Materie ihren ,Sinn' empf ngt),so k nnte die Definitionsart ,έν τούτοις το είδος ένεκα τωνδί' der gleicheVersuch auf der Ebene des Logischen sein. Damit w re die Hyle —wenn auch nur in verallgemeinerter, .formalisierter' Form und auchnur f r einen bestimmten Seinsbereich — positiv (und nicht nur als.Unerkennbares' negativ) in die Logik einbezogen. Aristoteles hat das

part. an. A 5, 645 a 33 f. — In H 2, 1043 a 14—18 ist nicht gesagt, da ,das τί εστίeines Hauses seine ύλη' sei, auch nicht, da ,οί λέγοντες το τί εστί und oiλέγοντες το είδος einen Gegensatz bilden' (Schwegler 4, 140), denn a 15 τί εστίνοΐκίσ geh rt sinngem nat rlich auch zu a 16 l 5έ usw. Die knappe Formulierunga 15 kann man bersetzen: „diejenigen, die auf die Frage, was ein Haus sei, ant-worten .Steine, Ziegel, H lzer', sprechen von einem Haus der M glichkeit nach".a 17 ττροσθέντες der Hss. scheint mir durch Jaegers Verweis auf loygb 6f nicht ge-deckt und ττροτιθέντες (Ross) oder auch ττροθέντες allein m glich.

86 Z 15, io39b 27—30 (zitiert o. S. 562 A. 13); denn ό ορισμός ό επιστημονικός undή άττόδειξις gehen nur auf das Notwendige (άναγκαϊον), nicht jedoch auf dasM gliche und Kontingente, von dem es nur δόξα gibt: δόξα Ιστί τοο ενδεχομένουάλλως §χειν (10390 34—10403 ι. Vgl. An. post. A 8 (Ross z. St.), Schwegler zur7. Aporie B 4, ggga 24—b 24 (S. 133) und die dort genannten Stellen (bes. Z 13,1039a 14ff und Schwegler z. St. 4, 117). Hier denkt Aristoteles genau wiePlaton. Vgl. o. S. 571 A. 51.

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7-3 Das Objekt der Physik und die .allgemeine Materie* 577

jedoch nicht weiter verfolgt, weil er sich offenbar nicht entschlie enkonnte, dem λόγος μετά ύλης ausdr cklich den gleichen Rang wie derFormdefinition zu geben, obwohl doch in ihm die Materie berhauptnicht mehr individuell ist, sondern genauso allgemein wie das Art-Eidos oder gar die Gattung, so da die Schwierigkeit, wie sich dasAllgemeine zum Besonderen verh lt, hier gar nicht aufkommen kann.In dieser Frage hat ihn offenbar seine platonische Denkweise aufhalbem Wege innehalten lassen. So bleibt die Definition, die Materieenth lt, irgendwie ein minderwertiger ορισμός κατά συμβεβηκός87.

γ.34 Besitzt Aristoteles einen Terminus f rAllgemeine Materie' ?

Da Aristoteles die .allgemeine Materie' der Sache nach kennt,wurde o. 7.33 wahrscheinlich gemacht. Die Stelle Z 10, iO35b 27—31l t weiter vermuten, da er auch einen Terminus ,allgemeine Materie'zu pr gen im Begriffe stand: ό δε άνθρωπος και ό ίππος και τα ούτωςεπί των καθ* έκαστα, καθόλου δε, ουκ εστίν ουσία αλλά σύνολον εκτουδί του λόγου και τησδί της ύλης ως καθόλου· καθ' εκαστον δ' εκ τηςεσχάτης ύλης ό Σωκράτης ήδη εστίν, και επί των άλλων ομοίως. „DerMensch und das Pferd und berhaupt derartige Begriffe, die sich aufEinzeldinge beziehen88, aber Allgemeinbegriffe sind, sind keine Ousia,sondern stellen vielmehr ein Synolon dar, das aus dieser spezifischenWesensbestimmung und dieser spezifischen, aber allgemein gefa tenMaterie besteht. Was die Einzeldinge angeht, so besteht Sokratesbereits89 aus der letzten Individualmaterie90, und so verh lt es sichhnlich in allen brigen F llen." Zur Erkl rung: ,Der Mensch' allge-

mein ist keine ουσία91, sondern ein abstraktes Ganzes aus Art-Formund — sagen wir — Art-K rper. Das hei t, wir erkennen ihm einenK rper mit s mtlichen Teilen zu, subtrahieren aber von diesemjedwede individuelle Auspr gung. Die eben gegebene Auslegung istdie von Asklepios92 und Thomas93, der sich Ross und Chen ange-87 Vgl. zum Ausdruck An. post. A 8, 75 b 24—26.88 d. h. von ihnen pr diziert werden und nur in ihnen existieren.89 ,,< nicht mehr aus der allgemeinen Materie, sondern > bereits. . .". Die Kommen-

tare u ern sich nicht zu ήδη.90 Thomas met. 7, ίο (1490) ,ex ultima materia' idest materia individuali.91 In der Kategorienschrift w rde es hei en: ,er ist keine erste, sondern eine zweite

ουσία'. PS.-Alex. 509, 4! und Thomas met. 7, ίο (1490) erkl ren ουσία mit:,reine Form'. Da Aristoteles hier aber statt είδος αυτό καθ' αυτό einfach ουσίαsagt, wo er doch sonst ουσία = ,Wesensform' im Gegensatz zum Individuumimmer erst begr ndend einf hren mu , halte ich f r sehr unwahrscheinlich. —F r unsere Darstellung h ngt aber kaum etwas daran.

92 415, 26—32 ,τό σύνθετον' γίνεται, το απλώς (soviel wie το καθόλου, vgl. Zeile 26ό άνθρωπος ό απλώς) ,έκ τουδί του λόγου* οίον του ανθρωπείου του ζφου λογικούΘνητοϋ ,καΐ τησδί της ΰλης', επειδή ου την καθ' έκαστα ΰλην ελάμβανε.

37 Happ.Hyle

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578 7· Hyle und Erkenntnis

schl ssen haben94. Dagegen versteht Alexander95 unter der .allgemei-nen Materie' die Gattung, unter dem λόγο$ die artbildenden Diffe-renzen. Da der Paragraph etwas isoliert steht96, k nnen wir nicht vomZusammenhang des Kapitels aus argumentieren. Aber bzg τησδίwiderlegt Alexanders Deutung, denn dies kann sich nicht auf eineGattung beziehen, sondern allein auf die konkrete Materie hier, diedann durch das einschr nkende ως καθόλου b3O ins Allgemeine er-hoben wird. Alexander hat denn auch mit seiner Erkl rung keineNachfolge gefunden97.

7.35 Ist dem Begriff der Allgemeinen Materie' eineAbstraktionsstufe zugeordnet P Folgerungen.

Als wir soeben den Ausdruck .subtrahieren' gebrauchten, um denbergang von der individuellen Materie zur , allgemeinen' zu erkl ren,

sind wir bereits ber das bei Aristoteles Belegte hinausgegangen, denner u ert sich nirgends ber den Erkenntnisvorgang, der zur ,allge-meinen' Materie f hrt; es sei denn, man wolle das ώ$ ausdeuten, wel-ches meist den Gesichtspunkt angibt, unter dem man eine Sache be-trachtet, nicht selten aber auch ganz verbla t ist und praktisch nichtsbedeutet. Merlan hat also v llig zu Recht bestritten98, da es bei Ari-stoteles eine erste Abstraktionsstufe f r das Objekt der Physik gibt,und Mansion kann sich nicht auf Belege berufen, wenn er, offenbarunter dem Einflu von Thomas' Lehre, eine solche annimmt99.

Andererseits ergibt sich aus den betrachteten Stellen ebenso ein-deutig, da Aristoteles nicht die individuelle Sinnensubstanz als solche93 met. 7, ίο (1490) hoc compositum, quod est animal vel homo, potest dupliciter

sumi: vel sicut universale (homo et animal) vel sicut singulare (Socrates et Callias).homo et equus sunt totum quoddam compositum ex determinata materia et de-terminata forma; non quidem ut singulariter, sed universaliter. homo enim dicit ali-quid compositum ex anima et corpore, non autem ex hac anima(!) et hoc corpore(verk rztes Zitat). Der hier fehlende Terminus materia (sensibilis) communis er-scheint z.B. met. 7,9 (1473); hnlich gleich anschlie end 7,10 (1492) materiacommuniter sumpta est pars speciei, haec autem materia determinata est parsindividui. Vgl. s. th. i, 85, i ad 2 und bes. In Boeth. trin. 5, 2 ad 2 intellectuscommuniter abstrahlt a materia signata et condicionibus eius, non autem amateria communi in scientia naturali.

84 Ross, Komm. z. St. und Oxf. Tr. Chen, Chorismos 132, Universal Concrete 48—50.Richtig auch Preiswerk 108.

98 509, 2—12, bes. 6—8. iif.96 Ps.-Alex. 509, 12 f.97 Schweglers bersetzung ist an dieser Stelle ungew hnlich vage, aber aus seinem

Kommentar ergibt sich, wenn auch nicht ganz direkt, da er nicht an Genus undDifferentia denkt (S. ιοοί). Bonitz bemerkt nichts z. St.

98 Merlan 65—67. 73 f.99 Mansion 134 f. 138 f.

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7-3 Das Objekt der Physik und die .allgemeine Materie' 579

(z.B. .diesen Stuhl da'), sondern eine verallgemeinerte (.den Stuhlberhaupt') als Gegenstand der Physik ansieht und diesem verallge-

meinerten Objekt sogar eine .allgemeine' Materie beigibt, um es da-durch in seiner .Sinnenhaftigkeit' zu erhalten, deretwegen es ja geradevon der Physik untersucht wird. Mit dieser Verallgemeinerung ist aberganz zwangsl ufig ein .Absehen' vom Individuellen verbunden, selbstwenn sich Aristoteles dessen nicht bewu t war oder zumindest es nichtausgesprochen hat. Demnach ist im Begriff der .allgemeinen Materie'schon bei Aristoteles eine Art von erster Abstraktionsstufe impliziert,die Thomas sp ter ausdr cklich entwickelt hat100.

Man kann nun von Thomas aus hier eine L cke im aristotelischen»System* feststellen und, wie es Mansion tut, das .fehlende' Philoso-phem ,erg nzen', d. h. Aristoteles als unvollkommenen Vorl ufer desThomas sehen. Hieran ist nicht nur historisch unrichtig, da man ihnein St ck Wegs weiter auf Thomas zugehen l t, als er selber gegangenist, sondern auch, da man die Entwicklung von Platon bis Thomasfalsch einsch tzt (o. 7.2 Ende).

Dieser von Aristoteles knapp angedeutete, aber doch f r seinePhilosophie irgendwie notwendige, Gedanke eines .allgemeinen Syno-lon' bringt erhebliche Konsequenzen mit sich, die wir nur kurz um-rei en k nnen:

Beginnen wir mit der Materie: Was wird aus der Materie, wennsie »allgemein' wird? Und was war sie, ehe sie .allgemein' wurde?Offenbar war sie vorher .individuell': εσχάτη Ολη101. ber das Indi-viduelle sei hier102 unserem Thema gem nur gesagt: Ist das Indivi-duelle als solches uns .gegeben' oder ist uns nicht vielleicht am Indi-viduellen ,nur' das Allgemeine .gegeben' (und erkennbar) ? Um dieseGrundaporie alles Seins kreist auch das Denken des Aristoteles st n-dig: Er setzt immer wieder am Individuum an, sieht aber jedesmaldurch es hindurch auf das Allgemeine, d. h. er sieht durch den einzel-nen Menschen (das Synolon aus Art-Eidos und .letzter' Materie)hindurch den .Menschen berhaupt', und zwar kennt er neben demArt-Eidos .Mensch' nun merkw rdigerweise auch noch das Synolon,Mensch' aus Art-Eidos und .allgemeiner Materie'. Wie verh lt sichdas Art-Eidos .Mensch' allein zum Synolon .Mensch' ? Man kann nicht— wie manche thomistischen Interpreten — beides bereinanderstufenund das Synolon .Mensch' der Physik, das materielose Eidos .Mensch'der Metaphysik beigeben, weil wir nicht wissen, ob Aristoteles letzte-res tats chlich der Metaphysik zugewiesen hat (u. 7.821). Andererseitskann der wiederholte Hinweis des Aristoteles, der Physiker solle auch100 ber die Zwischenglieder dieser Entwicklung w te man gern N heres.101 Den Ausdruck ύλη (αίσβητή) καθ* ίκαστον im Gegensatz zu ύλη (αίσθητή) ώ$

καθόλου kennt Aristoteles nicht.102 vgl. Sach-Index s. v. Individuation ία, Individuum.

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580 7· Hyle und Erkenntnis

die Form studieren (o. 7.32), nicht gut auf die materielose Form an-spielen, sondern es ist damit bestimmt die Form ,in' einem .allge-meinen Synolon' gemeint.

Es ist wichtig festzuhalten, da die »allgemeine' Materie, wie mansie auch auffa t, auf jeden Fall unanschaulich ist, wenn auch Aristo-teles von τησδΐ της ύλης ως καθόλου spricht103, also an die ύλη αίσθητήdenkt, und Thomas sie (materia) sensibilis (communis) nennt. DieseAusdr cke bedeuten nicht mehr als: Sie steht der »wahrnehmbaren'Materie noch sehr nahe, ist aber durch eine Verallgemeinerung hin-durchgegangen. Man k nnte demnach bereits auf dieser Stufe vonΟλη νοητή sprechen, denn sie unterscheidet sich nur graduell, aber nichtprinzipiell von der Materie der Mathematik. Da der Ausdruck ge-dachte Hyle' an dieser letzteren haftengeblieben ist, ist sachlich nichtgerechtfertigt, denn mindestens von unserer ,allgemeinen Materie' anist alle Materie .denkbar' bzw. ,gedacht': Die Hyle der Logik (die Ari-stoteles noch direkt νοητή nennt), die ύλη τοττική der Himmelsk rper,die ,erste' Materie usw. Alle Materie au er der individuellen ist alsonicht greifbar .konkret' im Sinne des Raum-Zeitlichen, vielmehr hatsie eine ideale Struktur wie die Form. Und da schlie lich auch dieαισθητή ύλη des Individuums, wie o. 7.12 gezeigt, nicht »konkret wahr-nehmbar' ist, sondern nur dem Denken zug nglich, sind s mtliche Aus-pr gungen der Hyle etwas .Gedachtes' (νοητά).

Eine andere Seite des , allgemeinen Synolon' ist philosophisch nochwichtiger, berschreitet aber weit die Grenzen unseres Themas undwird daher nur gestreift104: Wer sich z. B. den .allgemeinen Menschen'aus Artform und allgemeiner Materie vergegenw rtigt, denkt sofortan den αύτάνθρωττος der aristotelischen Ideenkritik: In dieser ver-dinglicht Aristoteles die — bei Platon selber gar nicht so wichtigen —platonischen Art-Ideen ganz nach der Weise raum-zeitlicher Konkret-heit und treibt mit den sich dann notwendig ergebenden Ungereimt-heiten (z. B. dem .dritten Menschen') ein dialektisches Spiel, das dieErkl rer bis heute in gr te Verlegenheit bringt. Der .allgemeineMensch' des Aristoteles gleicht nun aufs berraschendste dem kriti-

103 Z io, 1035 b 29f.104 Ygi Chen, Charismas 137—141, Universal Concrete 55—57. An der letzten Stelle

weist er auch darauf hin, da das allgemeine Synolon (z. B. .Mensch') den kano-nischen Aufbau von Genus—Species—Individuum st re. Das hat aber die Folgezeit,wie u. a. Thomas zeigt, nicht daran gehindert, das allgemeine Synolon ohne Auf-hebens dem System einzupassen und ihm so alles Ungew hnliche zu nehmen. Manteilte es (mit materia sensibilis communis) der Physik zu, w hrend die Metaphysikdie materielosen Formen untersucht und das Individuum als solches berhauptnicht von der Wissenschaft erfa t wird. Und als mit dem Aufkommen modernerAbstraktionstheorien die Wissenschafts-Objekte immer mehr zu eniia rationistantum werden, wird der urspr nglich weittragende Gedanke vollends allt glichund bedeutungslos.

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7-4 Das Objekt der Mathematik 581

sierten platonischen , indem er wie jener die konkreteWirklichkeit der Einzeldinge zu .verdoppeln' scheint. Vielleicht sagtAristoteles deshalb gleich in Z 10, der .allgemeine Mensch' sei keine

, vielleicht geht er deswegen in bezug auf ihn nicht über Andeu-tungen hinaus. Aber — ob angedeutet oder ausgeführt — die Physikfordert das allgemeine Synolon als ihr Objekt, und man kann diesesSynolon nicht ganz als ens rationis abtun, weil dies dem Wesen aristo-telischer Wissenschaft widerspräche.

Über diese Vermutungen kommen wir aus Mangel an Belegennicht hinaus.

Wir erwähnen nun noch eine letzte Eigenschaft des allgemeinenSynolon, deren ausführliche Erörterung wir gleichfalls auf später ver-schieben: Durch seine Zwischenstellung wäre das Synolon geeignet,die Kluft zu mildern, die nach Auffassung mancher Forscher (z. B.N. Hartmanns) innerhalb des Individuums zwischen der Individual-materie und dem Art-Eidos besteht105. Nach allem was wir wissen,hat Aristoteles diesen ,Chorismos' nicht als solchen empfunden, d. h.bestimmt nicht aus diesem Grund das allgemeine Synolon herausge-stellt oder gar geschaffen.

Darum lautet das Fazit: Das allgemeine Synolon wird von derDenkkonsequenz gefordert, bringt jedoch wegen seiner Ähnlichkeitmit den platonischen Art-Ideen Schwierigkeiten hervor.

7.4 Das Objekt der Mathematik (Geometrie)106

= reine Ausdehnung

Im Gegensatz zur Physik und Metaphysik äußert sich Aristotelesan mehreren Stellen etwas ausführlicher über die Abstraktionsstufeder Mathematik. Das hat den Vorteil, daß wir hier ein präziseres Bild

los Vgl. die Andeutung Gnomon 35 (1963) 559.109 Stellen und Erörterung bei Schwegler zu N 3 Anfang (S. 303f), Bonitz zu M 3

(S. 533), Ross zu Zio/n (bes. S. iggf. 2O3f), g (S. 272 f) und M 3 (8.418),Philippe 462—465. 472. Vgl. Chen, Charismas 68—78 (Das Problem des Charismasdes Mathematischen). Merlan 59—62. 74. i6of. 174—178. O. Becker, Gnomon 29(1957) 444. Frere Augustin-Gabriel S. G., Mutiere intelligible et mafhematique,Laval Theologique et Philosophique (Quebec) 17 (1961) 173—196 (= Teil i). 18(1962) 177—210 (= Teil 2). Nur Teil i behandelt Aristoteles, Teil 2 gibt dann einesystematische .Presentation doctrinale' hauptsächlich auf Grund von Thomas. DerAristoteles-Teil der Arbeit bietet eine klare Analyse der einschlägigen Texte, bleibtaber in der interpretatorischen Auswertung der Belege, auf die es doch ankommt,merkwürdig vage, so daß wir im Folgenden auf diese Untersuchung nicht expliziteinzugehen brauchen. — Die neueren Arbeiten zur Philosophie der Mathematik (ins-besondere über die Seinsweise des Mathematischen) müssen außer Betracht bleiben,weil ihre Berücksichtigung die Grenzen unserer Untersuchung gesprengt hätte.

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