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5 Fourier-Reihen Fourier-Theorie handelt von Funktionen f : X C, deren Definitionsbereich X translationssymmetrisch ist. In diesem Buch werden drei Typen behandelt: Periodische Funktionen f : R/2π C ; Zeitsignale f : R C ; (periodische) diskrete Datens¨ atze; gemeint sind Funktionen y .: Z/N C , k 7y k . Grundfunktionen der Theorie sind jene Funktionen, die die Translationssym- metrie von X gewissermassen verinnerlicht haben. Bezeichnet man f¨ ur einen Moment die Translation von Funktionsgraphen “um h nach rechts” mit T h : f 7T h f, T h f (x) := f (x - h) , so stellt man folgendes fest: Unter allen Funktionen haben die Exponential- funktionen e ω : R C , x 7e iωx (ω R) die besondere Eigenschaft, dass sie sich unter Translationen T h mit einem konstanten Faktor multiplizieren (und ausserdem den konstanten Betrag 1 haben): e (x-h) e -iωh e iωx (x R) , d.h. T h e ω = e -iωh e ω .

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5Fourier-Reihen

Fourier-Theorie handelt von Funktionen f : X → C, deren DefinitionsbereichX translationssymmetrisch ist. In diesem Buch werden drei Typen behandelt:

— Periodische Funktionen f : R/2π → C ;

— Zeitsignale f : R→ C ;

— (periodische) diskrete Datensatze; gemeint sind Funktionen

y. : Z/N → C , k 7→ yk .

Grundfunktionen der Theorie sind jene Funktionen, die die Translationssym-metrie von X gewissermassen verinnerlicht haben. Bezeichnet man fur einenMoment die Translation von Funktionsgraphen “um h nach rechts” mit Th:

f 7→ Thf , Thf(x) := f(x− h) ,

so stellt man folgendes fest: Unter allen Funktionen haben die Exponential-funktionen

eω : R→ C , x 7→ eiωx (ω ∈ R)

die besondere Eigenschaft, dass sie sich unter Translationen Th mit einemkonstanten Faktor multiplizieren (und ausserdem den konstanten Betrag 1haben):

eiω(x−h) ≡ e−iωh eiωx (x ∈ R) , d.h. Theω = e−iωh eω .

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126 5 Fourier-Reihen

Da das Differenzieren auf einen Vergleich von T−hf mit f fur h → 0 hin-auslauft, multiplizieren sich diese Funktionen auch unter dem Ableitungs-operator D : f 7→ f ′ mit einer Konstanten: Bekanntlich gilt

d

dxeiωx = iω eiωx , d.h. Deω = iω eω .

Ist X = R/2π, so konnen wir nicht jedes ω ∈ R gebrauchen, da die Grund-funktionen selbst naturlich auch 2π-periodisch sein mussen. Aus der Bedin-gung eiω(x+2π) ≡ eiωx folgt fur ω die Bedingung e2πiω = 1, d.h. ω ∈ Z . DieGrundfunktionen dieses Kapitels sind demnach die Funktionen

ek : t 7→ eikt (k ∈ Z) , (1)

wobei wir wahlweise R oder R/2π als Definitionsbereich ansehen konnen.

Das zentrale Problem ist in allen drei der oben angefuhrten Bereiche das-selbe: eine “beliebige” Funktion f : X → C als Linearkombination der je-weiligen Grundfunktionen darzustellen. Dass das in allen drei Fallen geht,ist eigentlich ein Wunder: Man musste ja damit rechnen, dass mit Hilfeder eω nur die “harmonischen Anteile” eines gegebenen f dargestellt wer-den konnen und dann immer noch ein “unharmonischer Rest” ubrigbleibt.In Wirklichkeit hangt alles zusammen: Die sogenannte abstrakte harmoni-sche Analysis ermoglicht, den Inhalt der Kapitel 5–7 (und mehr) unter einemeinheitlichen Gesichtspunkt darzustellen.

5.1 Definitionen

Eine endliche Linearkombination

N∑

k=−Ncke

ikt bzw.a0

2+

N∑

k=1

(ak cos(kt) + bk sin(kt)

)(2)

der Funktionen (1) heisst ein trigonometrisches Polynom vom Grad ≤ N ,und eine formale Reihe

∞∑

k=−∞cke

ikt bzw.a0

2+∞∑

k=1

(ak cos(kt) + bk sin(kt)

)(3)

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5.1 Definitionen 127

heisst eine trigonometrische Reihe. In diesem Kapitel geht es darum, be-liebige (gegebene oder gesuchte) 2π-periodische Funktionen

f : R→ C , f(t+ 2π) ≡ f(t) ,

durch trigonometrische Polynome zu approximieren bzw. durch eine trigono-metrische Reihe tatsachlich darzustellen. Hiermit ist folgendes gemeint: Furfast alle t ∈ R gilt

f(t) =∞∑

k=−∞cke

ikt := limN→∞

N∑

k=−Ncke

ikt . (4)

Das “fast” bezieht sich auf den folgenden Sachverhalt: Wir mochten auchFunktionen mit Sprungstellen (vielleicht sogar mit logarithmischen Spitzen)in dieser Weise darstellen. In derartigen Ausnahmepunkten ist die korrekteWiedergabe des Funktionswerts nicht gewahrleistet. Wir werden uns dasweiter unten im einzelnen ansehen.

In (2) und (3) wurde sowohl eine komplexe wie eine reelle Schreibweise der“Fourier-Objekte” angeboten. Damit hat es folgende Bewandtnis: Fur theo-retische Betrachtungen ist die komplexe Schreibweise unbedingt vorzuziehen.In konkreten Beispielen jedoch geht es meistens um reellwertige Funktionen,haufig noch mit Symmetrien (gerade, ungerade, u.a.), und da erweist sich diereelle Schreibweise als vorteilhafter, da sie die in f vorhandenen Symmetrienreproduziert: Ist f reellwertig, so sind auch alle ak und alle bk reell; ist fgerade, so treten nur Cosinusterme auf, und ist f ungerade, so treten nurSinusterme auf (s.u.).

Um die ck (k ∈ Z) und die ak, bk (k ∈ N) ineinander umzurechnen, betrach-ten wir ein festes k > 0. Aus eiτ = cos τ + i sin τ folgt

ckeikt + c−ke

−ikt ≡ ak cos(kt) + bk sin(kt)

mitak = ck + c−k , bk = i(ck − c−k) (k > 0) , (5)

und hieraus ergibt sich umgekehrt

ck =1

2(ak − ibk) , c−k =

1

2(ak + ibk) (k > 0) . (6)

Ferner erweist es sich als zweckmassig, a0 := 2c0 und b0 := 0 zu setzen; damittreffen (5) und (6) auch noch fur k = 0 zu.

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128 5 Fourier-Reihen

Dass sich jede “vernunftige” Funktion f : R/2π → C in der Form (4) dar-stellen lasst, ist ein fundamentaler Existenzsatz, der nicht leicht zu beweisenist; davon unten mehr. Uberraschend einfach ist es jedoch, Formeln fur dieKoeffizienten ck bzw. ak, bk einer derartigen Darstellung anzugeben.

(5.1) In der Darstellung

f(t) =

∞∑

k=−∞cke

ikt bzw . f(t) =a0

2+

∞∑

k=1

(ak cos(kt) + bk sin(kt)

)

einer Funktion f : R/2π → C sind die Koeffizienten ck bzw. ak, bk durchfolgende Formeln gegeben:

ck =1

∫ π

−πf(t) e−ikt dt (k ∈ Z) , (7)

ak =1

π

∫ π

−πf(t) cos(kt) dt (k ≥ 0) ,

bk =1

π

∫ π

−πf(t) sin(kt) dt (k ≥ 1) .

Dabei darf auch uber ein anderes Intervall der Lange 2π integriert werden.

Der Zusatz am Schluss ist ziemlich klar; er beruht darauf, dass wir den“Kreis” R/2π an einer beliebigen Stelle aufschneiden konnen, um ein pas-sendes Integrationsintervall zu erhalten. Auf diesen Punkt werden wir imweiteren nicht jedesmal hinweisen.

Fur den Beweis von (5.1) benotigen wir ein Instrument, das wir aus der Geo-metrie bzw. aus der linearen Algebra entlehnen, namlich ein Skalarproduktfur 2π-periodische Funktionen. Sind f und g zwei derartige Funktionen, soist ihr Skalarprodukt, eine komplexe Zahl, definiert durch

〈f, g〉 :=1

∫ π

−πf(t)g(t) dt

und entsprechend die Norm ‖f‖ ≥ 0 von f (auch 2-Norm genannt) durch

‖f‖2 = 〈f, f〉 =1

∫ π

−π|f(t)|2 dt .

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5.1 Definitionen 129

Dieses Skalarprodukt besitzt die aus der linearen Algebra bekannten Eigen-schaften (Bilinearitat, Schwarzsche Ungleichung, usw.); wir verzichten da-rauf, sie im einzelnen aufzufuhren. Gilt 〈f, g〉 = 0, so heissen f und gzueinander orthogonal. Fur unsere Grundfunktionen bestehen die folgendenOrthogonalitatsrelationen:

(5.2) (a) Fur die Funktionen ek : t 7→ eikt gilt

〈ek, el〉 = δkl :=

{1 (k = l)0 (k 6= l)

.

(b)∫ π

−πcos(kt) cos(lt) dt =

∫ π

−πsin(kt) sin(lt) dt = π δkl

((k, l) 6= (0, 0)

),

∫ π

−πcos(kt) sin(lt) dt = 0 ∀k, ∀l .

Wir beweisen nur (a):

〈ek, el〉 =1

∫ 2π

0

eikteilt dt =1

∫ 2π

0

ei(k−l)t dt

=

1

2π· 2π = 1 (k = l)

1

1

i(k − l)ei(k−l)t

∣∣∣2π

0= 0 (k 6= l)

Damit kommen wir zum Beweis der Koeffizientenformeln (5.1). Es genugt,uber die ck zu argumentieren; die Formeln fur die ak und die bk ergeben sichdann unmittelbar aus (5).

Wir schreiben die Darstellung f(t) =∑k cke

ikt in der Form

f =∞∑

k=−∞ck ek

und multiplizieren auf beiden Seiten skalar mit en, n ∈ Z beliebig. Es ergibtsich

〈f, en〉 =∞∑

k=−∞ck 〈ek, en〉 = cn , (8)

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130 5 Fourier-Reihen

denn alle Skalarprodukte 〈ek, en〉 mit k 6= n sind 0, und 〈en, en〉 = 1. Lesenwir (8) von rechts nach links, so erhalten wir nach Definition des Skalarpro-dukts

cn = 〈f, en〉 =1

∫ π

−πf(t)e−int dt ,

wie behauptet.

Wir sind nun einen Schritt weiter: Ist eine beliebige 2π-periodische Funktionf : R → C gegeben, so definieren die Formeln (7) einen Koeffizientenvektor(ck∣∣ k ∈ Z

). Mit den ck lasst sich jedenfalls die formale Reihe

∑k cke

ikt

bilden. Diese Reihe heisst Fourier-Reihe von f und ist der einzig moglicheKandidat fur eine Darstellung (4). Um auszudrucken, dass die ck mit Hilfevon (7) aus f erhalten wurden, schreibt man gelegentlich

f(t) Ã∞∑

k=−∞ck e

ikt . (9)

Wir hoffen naturlich, dass der à unter moglichst schwachen Voraussetzun-gen durch = ersetzt werden kann. Bevor wir dazu kommen, noch dreiErganzungen:

1. Man kann den Koeffizientenvektor(ck∣∣ k ∈ Z

)als Funktion

f : Z→ C , k 7→ f(k) := 〈f, ek〉

auffassen; diese Funktion wird Fourier-Transformierte der Ausgangsfunktionf genannt. Die Schreibweise f ist manchmal praktischer, da sie die Herkunftvon f ausweist, was bei den ck nicht der Fall ist.

2. Durch Inspektion der Koeffizientenformeln (5.1) bestatigt man ohne wei-teres die folgenden Rechenregeln, die z.T. schon weiter oben erwahnt wordensind:

(5.3) (a) Die Fourier-Transformation f 7→ f ist linear:

(f + g) = f + g , (λ f ) = λ f (λ ∈ C) .

(b) Ist f reellwertig, so gilt

c−k = ck (k ∈ Z) bzw . ak ∈ R, bk ∈ R (k ≥ 0) .

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5.1 Definitionen 131

(c) Ist f eine gerade Funktion, so sind alle bk gleich 0, und es gilt

ak =2

π

∫ π

0

f(t) cos(kt) dt (k ≥ 0) .

(d) Ist f eine ungerade Funktion, so sind alle ak gleich 0, und es gilt

bk =2

π

∫ π

0

f(t) sin(kt) dt (k ≥ 0) .

3. Ist die Funktion f : R → C periodisch mit einer gewissen Periode T > 0(anstelle von 2π), so sieht ihre Fourier-Reihe folgendermassen aus:

f(t) Ã∞∑

k=−∞cke

2kπit/T

bzw.

f(t) Ã a0

2+∞∑

k=1

(ak cos

2kπt

T+ bk sin

2kπt

T

).

Die Koeffizientenformeln (5.2) gehen uber in

(5.3) (e) ck =1

T

∫ T

0

f(t)e−2kπit/T dt ,

(f) ak =2

T

∫ T

0

f(t) cos2kπt

Tdt , bk =

2

T

∫ T

0

f(t) sin2kπt

Tdt .

Es geht nun um den Sachverhalt (4). In den Lehrbuchern uber Fourier-Reihen finden sich dazu unzahlige Satze. Wir bringen hier nur einen einzigen,den wir dann auch tatsachlich beweisen werden. Um ihn zu formulieren,fuhren wir noch die folgende allgemein ubliche Bezeichnung ein: Ist eineFunktion f : R/2π → C vereinbart, so bezeichnet sN die N -te Partialsummeder Fourier-Reihe von f :

sN (t) :=N∑

k=−Ncke

ikt =a0

2+

N∑

k=1

(ak cos(kt) + bk sin(kt)

);

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132 5 Fourier-Reihen

es handelt sich dabei um ein trigonometrisches Polynom vom Grad ≤ N . Derangekundigte Satz lautet:

(5.4) Die Funktion f :R/2π → C sei C-lipstetig, das heisst, es gelte

|f(t)− f(t′)| ≤ C |t− t′| ∀ t, t′ . (10)

Dann trifft fur alle t die folgende Fehlerabschatzung zu:

|f(t)− sN (t)| ≤ 8C√N

. (11)

Insbesondere gilt limN→∞ sN (t) = f(t) fur alle t.

Dieser Satz garantiert schon einmal die Konvergenz gegen den erwartetenWert unter recht schwachen Voraussetzungen. In vielen Fallen ist die Kon-vergenz wesentlich besser, als (11) vermuten lasst. Allgemein lasst sich fol-gendes sagen: Je glatter die Funktion f , desto schneller gehen die ck mit|k| → ∞ gegen 0, und desto schneller konvergieren die sN gegen f .

5.2 Beispiele

Trigonometrische Polynome sind naturlich ihre eigenen Fourier-Reihen. Fastdasselbe ist es mit (algebraischen) Polynomen in sin t und cos t.

Bsp: cos4 t+ sin4 t, cosN t

Derartige Polynome konnen mit algebraischen Mitteln, d.h. ohne Integration,auf trigonometrische Polynome im eigentlichen Sinn umgerechnet werden,womit sie bereits nach Fourier entwickelt sind.

Bsp: cosN t = (eit + e−it)N/2N = (eiNt + . . .+ e−iNt)/2N .

Es sei weiter f eine in der Umgebung von ∂D ⊂ C analytische Funktion. Esgibt dann ein β > 0, so dass f in dem Ringgebiet

G :={z ∈ C

∣∣ e−β < |z| < eβ}

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5.2 Beispiele 133

analytisch ist. Ein derartiges f besitzt nach (4.7) eine Laurent-Entwicklung

f(z) =∞∑

k=−∞ckz

k (z ∈ G)

mit gewissen Koeffizienten ck. In den Punkten z := eit ∈ ∂D sieht dasfolgendermassen aus:

f(eit) =

∞∑

k=−∞ck e

ikt .

Wir behaupten: Dies ist nichts anderes als die Fourier-Entwicklung der 2π-periodischen Funktion

f(t) := f(eit) (t ∈ R) .

Zum Beweis betrachten wir die Formel 4.3.(5) fur die Laurent-Koeffizienten:

ck =1

2πi

∂D

f(ζ)

ζkdζ

ζ=

1

2πi

∫ 2π

0

f(eit)

eiktieit dt

eit=

1

∫ 2π

0

f(t) e−ikt dt .

Umgekehrt: Geht eine gegebene 2π-periodische Funktion t 7→ f(t) durch dieformale Substitution eit := z (d.h., durch die “Verpflanzung” von f auf denEinheitskreis) in eine analytische Funktion f : G→ C uber, so lassen sich dieFourier-Koeffizienten von f als Laurent-Koeffizienten von f begreifen. Furderen Berechnung stehen dann die Methoden der Komplexen Analysis zurVerfugung, siehe dazu Beispiel 4.5.©4 .

Bis dahin haben wir immer von periodischen, also auf ganz R erklarten Funk-tionen gesprochen. Mit Hilfe von Fourier-Reihen lassen sich aber auch Funk-tionen darstellen, die nur auf einem endlichen x-Intervall I := [ a, b ] der LangeL := b− a erklart sind.

Bsp: [−π, π ], [ 0, L ], [−a, a ]

Man denkt sich einfach diese Funktionen L-periodisch auf ganz R fortge-setzt (wobei es an den Endpunkten von I zu Konflikten kommen kann) undberechnet die Fourier-Koeffizienten durch Integration uber das Intervall I,wo die Ausgangsfunktion f explizit vorliegt:

ak =2

L

∫ b

a

f(x) cos2kπx

Ldx , bk =

2

L

∫ b

a

f(x) sin2kπx

Ldx .

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134 5 Fourier-Reihen

Dann gilt

f(x) =a0

2+∞∑

k=1

(ak cos

2kπx

L+ bk sin

2kπx

L

)(a < x < b) .

©1 Wir betrachten fur ein fest vorgegebenes α ∈ C \ Z die Funktion

f(t) := cos(αt) (−π ≤ t ≤ π)

(siehe die Fig. 5.2.1). Da f gerade ist, besitzt f eine formale Fourier-Reiheder Form

f(t)Ã a0

2+

∞∑

k=1

ak cos(kt)

mit

ak =2

π

∫ π

0

cos(αt) cos(kt) dt =1

π

∫ π

0

(cos((α+ k)t

)+ cos

((α− k)t

))dt .

1

Re f(t)

Im f(t)

π–π 0

α = 2.29 + 0.43i

t

Fig. 5.2.1

Nach Voraussetzung uber α sind die dabei auftretenden Nenner 6= 0, und esergibt sich

ak =1

π

(sin((α+ k)t

)

α+ k

∣∣∣∣π

0

+sin((α− k)t

)

α− k

∣∣∣∣π

0

)

=(−1)k

πsin(απ)

( 1

α+ k+

1

α− k)

=(−1)k

πsin(απ)

α2 − k2.

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5.2 Beispiele 135

Nach (5.4) konvergiert die Fourier-Reihe von f gegen f ; wir haben daher

cos(αt) =sin(απ)

π

(1

α+ 2α

∞∑

k=1

(−1)k cos(kt)

α2 − k2

)(−π ≤ t ≤ π) . (1)

Damit ware das gegebene f auf seinem Definitionsintervall nach Fourier ent-wickelt.

Wir bleiben noch einen Moment bei diesem Beispiel und setzen in (1) speziellt := 0. Nach Division mit sin(απ) 6= 0 ergibt sich

1

sin(απ)=

1

π

(1

α+∞∑

k=1

(−1)k2α

α2 − k2

). (2)

Wir betrachten nun den bislang festgehaltenen Parameter α als eine komplexeVariable und schreiben dafur z. Die Formel (2) geht dann uber in

1

sin(πz)=

1

π

(1

z+∞∑

k=1

(−1)k( 1

z − k +1

z + k

))(z ∈ C \ Z) ,

was wir als eine “Partialbruchzerlegung” der Funktion φ(z) := 1/ sin(πz)auffassen konnen. Die Zerlegung bringt zum Ausdruck, daß diese Funktionan den Stellen k ∈ Z je einen einfachen Pol besitzt.

Erteilen wir in (1) der Variablen t den Wert π, so ergibt sich analog

cot(απ) =1

π

(1

α+∞∑

k=1

α2 − k2

)

bzw.

cot(πz) =1

π

(1

z+∞∑

k=1

( 1

z − k +1

z + k

))(z ∈ C \ Z)

und damit eine “Partialbruchzerlegung” des Cotangens. ©

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136 5 Fourier-Reihen

π–π t

y

y = t2

0

π2

Fig. 5.2.2

©2 Die 2π-periodische Fortsetzung der Funktion

f(t) := t2 (−π ≤ t ≤ π)

(siehe die Fig. 5.2.2) ist offensichtlich lipstetig. Somit besitzt f nach (5.4)eine Fourier-Darstellung der Form

f(t) =a0

2+∞∑

k=1

ak cos(kt) (−π ≤ t ≤ π) .

Dabei ist

a0 =2

π

∫ π

0

t2 dt =2π2

3,

und fur k ≥ 1 gilt

ak =2

π

∫ π

0

t2

↓cos(kt)↑

dt =2

π

(1

kt2 sin(kt)

∣∣∣∣π

0

− 2

k

∫ π

0

t↓

sin(kt)↑

dt

)

= 0− 4

(−1

kt cos(kt)

∣∣∣∣π

0

+1

k

∫ π

0

cos(kt) dt

)

=4(−1)k

k2+ 0 .

Damit erhalten wir die Identitat

t2 =π2

3+

∞∑

k=1

4(−1)k

k2cos(kt) (−π ≤ t ≤ π) . (3)

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5.2 Beispiele 137

Wir benutzen dieses Resultat, um einen Wert der Riemannschen Zetafunktion

ζ(s) :=∞∑

k=1

1

ks(Re s > 1)

zu berechnen: Setzt man in (3) speziell t := π, so ergibt sich

π2 =π2

3+ 4

∞∑

k=1

1

k2.

Damit ergibt sich fur die Summe der reziproken Quadratzahlen der Wert

ζ(2) =∞∑

k=1

1

k2=π2

6,

den Euler als erster gefunden hat. ©In technischen Anwendungen treten haufig Funktionen mit Sprungstellen auf,zum Beispiel Rechteckspulse oder auch kompliziertere Signale, die plotzlichein- bzw. ausgeschaltet werden. Wie steht es da mit der Fourier-Entwicklung?Um die zu erwartenden Phanomene zu ergrunden, betrachten wir die einfach-ste periodische Funktion mit Sprungstellen, die sich denken lasst (Fig. 5.2.3):

J(t) :=

π − t2

(0 < t < 2π)

J(t+ 2π) (t ∈ R)

(J fur jump). Die Sprungstellen befinden sich an den Punkten 2kπ; indiesen Punkten lassen wir die Funktion zunachst undefiniert. Auf die Fourier-Koeffizienten hat das keinen Einfluss, da sie durch Integration zustandekom-men. Die Funktion J ist ungerade; wir berechnen daher nur ihre Sinuskoef-fizienten bk:

bk =2

π

∫ π

0

1

2(π − t)↓

sin(kt)↑

dt =1

π

(−(π − t)cos(kt)

k

∣∣∣∣∣

π

0

−∫ π

0

cos(kt)

kdt

)

=1

k− 1

πk2sin(kt)

∣∣∣∣∣

π

0

=1

k.

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138 5 Fourier-Reihen

t

y = J(t)

π/2

–π/2

y

0

Fig. 5.2.3

Demnach besitzt J die folgende formale Fourier-Entwicklung:

J(t)Ã∞∑

k=1

sin(kt)

k. (4)

Wir stellen schon einmal fest, dass die Fourier-Koeffizienten mit k →∞ nursehr langsam abnehmen. Da die harmonische Reihe

∑∞k=1 1/k divergiert, ist

die erhaltene Reihe (4) nicht absolut konvergent und fur numerisches Ar-beiten unbrauchbar. Trotzdem kann man sich fragen, ob sie die Funktion Jwenigstens “auf dem Papier” reprasentiert. Das ist nun in der Tat der Fall.Wie wir gleich zeigen werden, gilt namlich (wir wechseln den Variablenna-men)

∞∑

k=1

sin(kφ)

k=

π − φ2

(0 < φ < 2π) , (5)

und fur φ = 0 hat die Reihe naturlich den Wert 0. An der Sprungstelle 0liegt demnach der folgende Sachverhalt vor:

limN→∞

sN (0) = 0 =J(0+) + J(0−)

2. (6)

Hatten wir also von Anfang an J(0) := 0 definiert (was hiermit nachgeholtsei), so wurde in (4) anstelle von à fur alle t das Gleichheitszeichen gelten.

Zum Beweis von (5) betrachten wir die analytische Funktion

f(z) :=

∞∑

k=1

1

kzk

(|z| < 1

).

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5.2 Beispiele 139

Es ist f(0) = 0 und

f ′(z) =∞∑

k=1

zk−1 = 1 + z + z2 + . . . =1

1− z .

Hieraus schliessen wir auf

f(z) = −Log (1− z) = ln1

|1− z| − iArg (1− z)(|z| < 1

).

Wir schreiben nun z = r eiφ und haben dann

∞∑

k=1

sin(kφ)

krk = Im f(z) = −Arg (1− reiφ) (r < 1) .

Fuhren wir hier auf beiden Seiten den Grenzubergang r → 1− durch, soergibt sich

∞∑

k=1

sin(kφ)

k= −Arg (1− eiφ) ,

und ein Blick auf die Fig. 5.2.4 zeigt, dass hier die rechte Seite den be-haupteten Wert (π − φ)/2 hat.

φπ–φ

2

1 – eiφ

eiφ

reiφ

1

Fig. 5.2.4

Dieses Beispiel scheint sehr speziell. Trotzdem konnen wir nun einen allge-meinen Satz daraus machen:

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140 5 Fourier-Reihen

(5.5) Die 2π-periodische Funktion f sei stetig differenzierbar bis auf endlichviele Sprungstellen τ1, . . ., τr ∈ R/2π, wobei in den Sprungstellen die ein-seitigen Grenzwerte von f und f ′ existieren. Dann gilt

limN→∞

sN (t) =

f(t) (t 6= τj , 1 ≤ j ≤ r)f(τj+) + f(τj−)

2(t = τj)

.

Zur Vereinfachung nehmen wir von vorneherein

f(τj) =f(τj+) + f(τj−)

2(1 ≤ j ≤ r)

an und mussen dann zeigen, dass limN→∞ sN (t) = f(t) fur alle t zutrifft. Esseien

pj := f(τj+)− f(τj−) (1 ≤ j ≤ r)die Sprunghohen an den Stellen τj . Mit diesen pj bilden wir nun die Funktion

g(t) := f(t)− 1

π

r∑

j=1

pjJ(t− τj) . (7)

Die Funktion g ist stetig differenzierbar, ausser vielleicht in den Punkten τj .In einem derartigen Punkt gilt

g(τj+)− g(τj) = f(τj+)− f(τj)−1

πpj(J(0+)− J(0)

)

= f(τj+)− f(τj)−pj2

= 0

(nur ein J-Summand liefert einen Beitrag) und analog g(τj−) − g(τj) = 0.Hiernach ist g in den Punkten τj stetig und folglich auf R/2π stuckweiseglatt. Damit ist g lipstetig und wird nach (5.4) durch seine Fourier-Reihedargestellt. Wir haben oben gesehen, dass auch J durch seine Fourier-Reihereprasentiert wird; dasselbe gilt von den Translatierten t 7→ J(t − τj), undwegen

f(t) = g(t) +1

π

r∑

j=1

pjJ(t− τj)

trifft dies schliesslich auch fur f zu.

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5.2 Beispiele 141

©3 Wir betrachten einen T -periodischen Rechteckspuls der Breite a < Tund der “Gesamtenergie” 1:

f(t) :=

1

a

(|t| ≤ a

2

)

0(a

2< t ≤ T

2

)

f(t+ T ) (t ∈ R)

.

Wie angesetzt, ist f eine gerade Funktion. Sie besitzt daher nur Cosinusko-effizienten ak, die sich nach (5.3)(f) wie folgt berechnen:

ak =2

T

∫ T/2

−T/2f(t) cos

2kπt

Tdt =

2

aT

∫ a/2

−a/2cos

2kπt

Tdt .

Es ergibt sich a0 = 2/T und

ak =2

aT

T

2kπsin

2kπt

T

∣∣∣a/2

−a/2=

2

akπsin

akπ

T=

2

Tsinc

akπ

T(k > 0) .

Damit erhalten wir die folgende Fourier-Zerlegung unseres Rechteckspulses:

f(t) =1

T+

2

T

∞∑

k=1

sincakπ

Tcos

2kπt

T.

Die Fourier-Koeffizienten oszillieren also in eigentumlicher Weise und gehenmit k →∞ wie 1/k gegen 0. ©Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die Fourier-Reihe der Sprungfunk-tion J nur schlecht konvergiert, und zwar fur alle t, nicht nur fur die t in derNahe der Sprungstelle. In der Nahe der Sprungstelle tritt aber noch einbesonders unangenehmer Effekt auf, der als Gibbssches Phanomen bezeich-net wird. Betrachte hierzu die Fig. 5.2.5, wo wir sN fur N := 15 zusammenmit f dargestellt haben. Es zeigt sich, dass sN den Maximalwert π

2 von Junmittelbar rechts von 0 um ein gehoriges Stuck uberschiesst. Das ist kein“numerischer Artefakt”, und der Effekt verschwindet auch nicht, wenn manzu grosseren Werten von N ubergeht. Wir behaupten namlich: An der StelletN := π

N nimmt sN einen Wert σN an mit

limN→∞

σN =

∫ π

0

sinc t dt.= 1.852 .

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142 5 Fourier-Reihen

sNπ/2

1.852

πt

0

J

Fig. 5.2.5

Fur sN verweisen wir auf (4). Der Wert σN lasst sich als RiemannscheSumme fur das angeschriebene Integral interpretieren:

σN := sN (tN ) =

N∑

k=1

sin(kπ/N)

k=

N∑

k=1

π

N

sin(kπ/N)

kπ/N

.=

∫ π

0

sinc t dt .

Es ist klar, dass das Gibbssche Phanomen bei jeder Funktion mit Sprung-stellen auftritt, also auch bei dem in Beispiel©3 betrachteten Rechteckspuls.

5.3 Theoretische Erganzungen

Auf Grund der Orthogonalitatsrelationen (5.2)(a) und des Hauptsatzes (5.4)stellen die Funktionen ek (k ∈ Z) eine Art orthonormierter Basis des Funk-tionenraums

X :={f∣∣ f : R/2π → C

}

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5.3 Theoretische Erganzungen 143

dar. Dann musste aber auch ein “Satz von Pythagoras” gelten. Das ist in derTat der Fall und bildet den Inhalt des folgenden Satzes, genannt ParsevalscheFormel:

(5.6) Es sei f eine 2π-periodische Funktion mit ‖f‖2 < ∞, und es seien(ck∣∣ k ∈ Z

)die Fourier-Koeffizienten von f . Dann gilt

∞∑

k=−∞|ck|2 = ‖f‖2 :=

1

∫ 2π

0

|f(t)|2 dt .

Wir beweisen das fur lipstetige f ∈ X , wo uns die Fehlerabschatzung5.1.(11) zur Verfugung steht. Diese Abschatzung liefert

‖sN − f‖2 =1

∫ 2π

0

|sN (t)− f(t)|2 dt ≤ 1

64C2

N(N ≥ 1) .

Hieraus folgt mit Hilfe der Dreiecksungleichung

∣∣‖sN‖ − ‖f‖∣∣ ≤ ‖sN − f‖ ≤

C ′√N

(N ≥ 1)

und somit limN→∞ ‖sN‖ = ‖f‖ bzw. limN→∞ ‖sN‖2 = ‖f‖2.

Auf Grund der Orthogonalitatsrelationen(5.2)(a) ist aber

‖sN‖2 =⟨ N∑

k=−Nckek,

N∑

l=−Nclel

⟩=

N∑

k=−N|ck|2 .

Damit verbleibt das Ratsel (5.4). Warum funktioniert das alles? Um hierweiter zu kommen, benotigen wir eine Darstellung von sN , an der sich derZusammenhang mit der Ausgangsfunktion f ohne den Umweg uber die ckdirekt ablesen lasst.

Aus 5.1.(7) ergibt sich bei passender Wahl des Integrationsintervalls:

sN (x) =

N∑

k=−Ncke

ikx =

N∑

k=−N

(1

∫ x+π

x−πf(s)e−iks ds

)eikx

=1

∫ x+π

x−πf(s)

N∑

k=−Neik(x−s) ds .

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144 5 Fourier-Reihen

Substitutieren wir im letzten Integral s := x− t (−π ≤ t ≤ π), so geht diesuber in

sN (x) =1

∫ π

−πf(x− t)

N∑

k=−Neikt dt .

Hier ist der zweite Faktor unter dem Integralzeichen eine universelle, gemeintist: von f unabhangige Funktion. Diese Funktion

DN (t) :=N∑

k=−Neikt (N ≥ 0)

heisst Dirichletscher Kern und ist ein trigonometrisches Polynom vom GradN . Wir notieren also die folgende Integraldarstellung von sN :

(5.7) Es sei f eine 2π-periodische Funktion und sN die N -te Partialsummeder Fourier-Reihe von f . Dann gilt

sN (x) =1

∫ π

−πf(x− t)DN (t) dt (x ∈ R)

mit

DN (t) =

sin((N + 1

2 )t)

sin( 12 t)

(t /∈ 2πZ)

2N + 1 (t ∈ 2πZ)

, (1)

1

∫ π

−πDN (t) dt = 1 . (2)

Zum Beweis von (1) produzieren wir eine teleskopierende Summe:

(eit/2 − e−it/2

)DN (t) =

N∑

k=−N

(ei(k+1/2)t − ei(k−1/2)t

)

= ei(N+1/2)t − ei(−N−1/2)t .

Soviel fur t /∈ 2πZ ; der angegebene Spezialwert ist klar. — Die Behauptung(2) folgt unmittelbar aus der Definition von DN .

Betrachten wir den Graphen von DN (Fig. 5.3.1), so konnen wir (5.7) folgen-dermassen interpretieren: Der Wert sN (x) ist ein gewogenes Mittel der Funk-tion f uber das Intervall [x−π, x+π ], und letzten Endes haben samtliche von

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5.3 Theoretische Erganzungen 145

DN

π

π

N + 1/2

–π

2N + 1

Fig. 5.3.1

f angenommenen Werte einen gewissen Einfluss auf die Zahl sN (x). Dabeiist allerdings die “Masse” der Gewichtsfunktion DN um t = 0 herum konzen-triert, so daß in erster Linie die f -Werte in der unmittelbaren Umgebung vonx im Integral zum Zuge kommen. Zum andern bewirkt die rasche Oszillationvon DN , dass die Beitrage aus entfernteren Bereichen rasch alternierend mitpositiven und negativen Gewichten versehen werden und sich so nur wenigauswirken. Da nun das Totalgewicht (unter Berucksichtigung der Vorzeichen)gerade 1 ist, scheint damit plausibel, daß fur eine “schone” Funktion f undhinreichend großes N gilt: sN (x)

.= f(x).

Zum Schluss dieses Kapitels beweisen wir den Satz (5.4).

Um die nachfolgenden Rechnungen etwas zu vereinfachen, andern wirdie Definition von sN leicht ab: Die aussersten Glieder sollen nur mit demGewicht 1

2 in die Summe aufgenommen werden. Wir argumentieren also uber

sN (x) :=1

2c−Ne

−iNx +N−1∑

k=−N+1

ckeikx +

1

2cNe

iNx

statt uber sN . Die zugehorige Kernfunktion DN ist offensichtlich mit DN

verknupft durch

DN (t) = DN (t)− eiNt + e−iNt

2=

sin((N + 1

2 )t)

sin( 12 t)

− cos(Nt) ,

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146 5 Fourier-Reihen

so dass wir als Analogon zu (1) die folgende Formel erhalten:

DN (t) =

sin(Nt) cott

2(t /∈ 2πZ)

2N (t ∈ 2πZ). (3)

Wir schreiten nun zu weiteren Vereinfachungen: Die Darstellung (5.7) zeigt,dass es genugt, 5.1.(11) fur t = 0 zu beweisen; dabei durfen wir nach Sub-traktion einer Konstanten f(0) = 0 annehmen. Endlich wollen wir anstelleder Lipschitzbedingung 5.1.(10) von vorneherein

|f ′(t)| ≤ C (t ∈ R)

voraussetzen. Die Behauptung lautet dann

∣∣sN (0)∣∣ ≤ 8C√

N(N ≥ 1) . (4)

Die Funktion DN (Fig. 5.3.2) hat fur grosse N saftige Ausschlage nach obenund unten, besitzt aber wesentlich zahmere Stammfunktionen. Dies wer-den wir in unserem Beweis auf geschickte Art ausnutzen. Dabei werden wirwiederholt von dem folgenden einfachen Lemma Gebrauch machen:

(5.8) Besitzt die Funktion g auf dem Intervall [ a, b ] eine Stammfunktionvom Betrag ≤M , so gilt

∣∣∣∣∣

∫ b

a

f(t)g(t) dt

∣∣∣∣∣ ≤ M

(|f(a)|+ |f(b)|+

∫ b

a

|f ′(t)| dt).

Dies folgt unmittelbar aus der Formel fur die partielle Integration.

Nach (5.7) ist

sN (0) =1

∫ π

−πf(t)DN (t) dt

Wir zerlegen hier die rechte Seite in zwei Teile (vgl. die heuristischen Be-trachtungen weiter oben):

sN (0) =1

(∫ δ

−δf(t)DN (t) dt+

∫ 2π−δ

δ

f(t)DN (t) dt

)=:

1

2π(I1 + I2) ,

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5.3 Theoretische Erganzungen 147

DN

π

π/N

–π

2N

Fig. 5.3.2

wobei wir uns die Wahl von δ > 0 noch vorbehalten (δ := 1/√N wird sich

als optimal herausstellen).

Betrachtet man die alternierenden Buckel der Figur 5.3.2, so kommt man zudem folgenden Schluss: Fur −δ ≤ x ≤ δ gilt auf Grund von (3):

∣∣∣∣∫ x

0

DN (t) dt

∣∣∣∣ ≤∫ π/N

0

sin(Nt) cott

2dt =

1

N

∫ π

0

sin t′ cott′

2Ndt′

≤ 2

∫ π

0

sin t′

t′≤ 2π ;

dabei haben wir

cotφ <1

φ

(0 < φ <

π

2

)(5)

benutzt. Somit besitzt DN auf dem Intervall [−δ, δ ] eine Stammfunktionvom Betrag ≤ 2π. Mit Hilfe unseres Lemmas (5.8) konnen wir daher I1 wiefolgt abschatzen:

|I1| ≤ 2π

(|f(−δ)|+ |f(δ)|+

∫ δ

−δ|f ′(t)| dt

)≤ 2π

(|f(−δ)|+ |f(δ)|+ 2Cδ

),

und wegen f(0) = 0 ergibt sich hieraus

|I1| ≤ 2π · 4Cδ . (6)

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148 5 Fourier-Reihen

Fur I2 uberlegen wir folgendermassen: Die Funktion t 7→ sin(Nt) besitzt eineStammfunktion vom Betrag ≤ 1/N . Mit Hilfe unseres Lemmas schliessen wirdaher auf

∣∣∣∣∫ x

π

DN (t) dt

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∫ x

π

cott

2sin(Nt) dt

∣∣∣∣ ≤1

N

(∣∣∣cotx

2

∣∣∣+

∫ x

π

∣∣∣ ddt

cott

2

∣∣∣ dt).

Da t 7→ cot(t/2) zwischen 0 und 2π monoton fallt, hat das letzte Integral denWert

∣∣cot(x/2)− cot(π/2)∣∣ =

∣∣cot(x/2)∣∣ , und es folgt mit (5):

∣∣∣∣∫ x

π

DN (t) dt

∣∣∣∣ ≤2

Ncot

δ

2≤ 4

Nδ(δ ≤ x ≤ 2π − δ) .

Hiernach besitzt DN auf dem Intervall [ δ, 2π − δ ] eine Stammfunktion vom

Betrag ≤ 4

Nδ. Wir konnen daher unser Lemma ein drittes Mal anwenden

fur die Abschatzung

|I2| ≤4

(|f(−δ)|+ |f(δ)|+

∫ 2π−δ

δ

|f ′(t)| dt)≤ 4

Nδ· 2π C . (7)

Tragen wir nun (6) und (7) zusammen, so ergibt sich schliesslich

|sN (0)| ≤ 1

(|I1|+ |I2|

)≤ 4Cδ +

4C

Nδ,

und mit δ := 1/√N folgt hieraus die Behauptung (4).