Carmina anacreontea 1-34 (Ein Kommentar) || Anakreontisches Gedicht 25

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Anakreontisches Gedicht 25 Σὺ μέν, φίλη χελιδόν, ἐτησίη μολοῦσα θέρει πλέκεις καλιήν, χειμῶνι δ’ εἶς ἄφαντος ἢ Νεῖλον ἢ ’πὶ Μέμφιν· Ἔρως δ’ ἀεὶ πλέκει μευ ἐν καρδίηι καλιήν. Πόθος δ’ ὃ μὲν πτεροῦται, ὃ δ’ ὠιόν ἐστιν ἀκμήν, ὃ δ’ ἡμίλεπτος ἤδη· βοὴ δὲ γίνετ’ ἀεί κεχηνότων νεοττῶν· Ἐρωτιδεῖς δὲ μικρούς οἱ μείζονες τρέφουσιν· οἳ δὲ τραφέντες εὐθύς πάλιν κύουσιν ἄλλους. τί μῆχος οὖν γένηται; οὐ γὰρ σθένω τοσούτους Ἔρωτας ἐκσοβῆσαι. 5 10 15 Du, liebe Schwalbe, die du jedes Jahr kommst, flichst im Sommer ein Nest; im Winter aber verschwindest du zum Nil oder nach Memphis; Eros jedoch flicht immer in meinem Herz ein Nest. Eine „Begierde“ darin bekommt Flügel, eine andere ist „gerade noch“ ein Ei, eine andere ist bereits halbgeschlüpft; Lärm gibt es immer aus den offenstehenden Schnäbeln der Küken. Kleine Eros- Söhne werden von den größeren aufgezogen; und die schon Aufgezogenen gehen schwanger mit anderen. Gibt es ein Heilmittel dafür? Ich habe nicht die Kraft, so viele Ἔρωτες hinauszuscheuchen. Im ersten Abschnitt des Gedichtes (V. 1‒5) ist die Rede von einer Schwalbe, die schon im ersten Vers angesprochen wird. Es wird mitgeteilt, dass sie jedes Jahr kommt und ein Nest im Herz des Ichs im Sommer flicht. Im zweiten Teil des ersten Abschnitts wird das Verschwinden der Schwalbe im Winter erörtert, wenn sie zum Nil oder nach Memphis fliegt. Dieses Hin- und Zurückfliegen, diese Unstetigkeit der Schwalbe steht im Gegensatz zu der stetigen Anwesenheit des Eros, die mit ἀεί unterstrichen wird. Eros im Gegensatz zur Schwalbe flicht immer ein Nest im Herz des Ichs (V. 6f.). Dieses Nest wird in folgenden Versen (8‒12) durch eine liebliche, lärmende Szene beschrieben. Im Nest 223 wachsen Begierden wie kleine Vögel auf. Eine Begierde breitet ihre Flügel aus, eine ande- || 223 Das dargestellte Motiv (das Nest, das von Eros geflochten wurde) ist nach Hopkinson (1994, 80) keine neue Erfindung des anakreontischen Dichters. Was der Dichter uns hier anbie- tet, ist eine allegorische Darstellung der verschiedenen Stufen des erotischen Begehrens: „love can be fully developed (8), incipient (9), or half- realised (10); it is endlessly demanding (11‒12), and desire begets desire (13‒16).“ Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 9/15/14 3:53 PM

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Anakreontisches Gedicht 25

Σὺ μέν φίλη χελιδόνἐτησίη μολοῦσα θέρει πλέκεις καλιήν χειμῶνι δrsquo εἶς ἄφαντος ἢ Νεῖλον ἢ rsquoπὶ Μέμφιν Ἔρως δrsquo ἀεὶ πλέκει μευ ἐν καρδίηι καλιήν Πόθος δrsquo ὃ μὲν πτεροῦται ὃ δrsquo ὠιόν ἐστιν ἀκμήν ὃ δrsquo ἡμίλεπτος ἤδη βοὴ δὲ γίνετrsquo ἀεί κεχηνότων νεοττῶν

Ἐρωτιδεῖς δὲ μικρούς οἱ μείζονες τρέφουσιν οἳ δὲ τραφέντες εὐθύς πάλιν κύουσιν ἄλλους τί μῆχος οὖν γένηται οὐ γὰρ σθένω τοσούτους Ἔρωτας ἐκσοβῆσαι

5 10 15

Du liebe Schwalbedie du jedes Jahr kommst flichst im Sommer ein Nest im Winter aber verschwindest du zum Nil oder nach Memphis Eros jedoch flicht immer in meinem Herz ein Nest Eine bdquoBegierdeldquo darin bekommt Fluumlgel eine andere ist bdquogerade nochldquo ein Ei eine andere ist bereits halbgeschluumlpft Laumlrm gibt es immer aus den offenstehenden Schnaumlbeln der

Kuumlken Kleine Eros- Soumlhne werden von den groumlszligeren aufgezogen und die schon Aufgezogenen gehen schwanger mit anderen Gibt es ein Heilmittel dafuumlr Ich habe nicht die Kraft so viele Ἔρωτες hinauszuscheuchen

Im ersten Abschnitt des Gedichtes (V 1‒5) ist die Rede von einer Schwalbe die schon im ersten Vers angesprochen wird Es wird mitgeteilt dass sie jedes Jahr kommt und ein Nest im Herz des Ichs im Sommer flicht Im zweiten Teil des ersten Abschnitts wird das Verschwinden der Schwalbe im Winter eroumlrtert wenn sie zum Nil oder nach Memphis fliegt Dieses Hin- und Zuruumlckfliegen diese Unstetigkeit der Schwalbe steht im Gegensatz zu der stetigen Anwesenheit des Eros die mit ἀεί unterstrichen wird Eros im Gegensatz zur Schwalbe flicht immer ein Nest im Herz des Ichs (V 6f) Dieses Nest wird in folgenden Versen (8‒12) durch eine liebliche laumlrmende Szene beschrieben Im Nest223 wachsen Begierden wie kleine Voumlgel auf Eine Begierde breitet ihre Fluumlgel aus eine ande-

|| 223 Das dargestellte Motiv (das Nest das von Eros geflochten wurde) ist nach Hopkinson (1994 80) keine neue Erfindung des anakreontischen Dichters Was der Dichter uns hier anbie-tet ist eine allegorische Darstellung der verschiedenen Stufen des erotischen Begehrens bdquolove can be fully developed (8) incipient (9) or half- realised (10) it is endlessly demanding (11‒12) and desire begets desire (13‒16)ldquo

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re ist noch im Ei und wiederum eine andere wartet darauf aus dem Ei zu schluumlpfen Es herrscht Laumlrm denn alle kleinen Kuumlken warten mit offenem Schnabel auf Futter (V 11f)

Dieses Beduumlrfnis der kleineren Eros-Soumlhne nach Futter wird von den Groumlszlige-ren befriedigt (V 13f) Und die schon gefuumltterten Eros-Soumlhne gebaumlren neue Muumlller (2010 219) sagt zutreffend bdquoGelungen ist auch das Bild der kleinen Ero-ten die von den groumlszligeren gefuumlttert werden liegt es doch im Wesen der Begier-de stets selbst groumlszliger zu werden und auch weiter Begierden nach sich zu zie-henldquo

Das lyrische Ich wahrscheinlich bedruumlckt von dem unendlichen Wachsen der Begierden bricht scherzend in die rhetorische Frage aus ob es ein Heilmit-tel dafuumlr gibt Am Ende des Gedichts gesteht es seine Ohnmacht ein so viele Eroten herauszuscheuchen

1‒5 Die Einleitung des Gedichtes ist eine Anrede an eine Schwalbe φίλη χελιδόν (cf Anakreont 15 1 ἐρασμίη πέλεια) Die Schwalbe scheint dem Dichter ein beliebter Vogel zu sein sie kommt dreimal im Corpus Anacreonticum vor Das Motiv der Schwalbe kommt im 22 Gedicht (vgl V 4 Πανδίονος χελιδών) sowie im vorliegenden Gedicht in der Einleitung vor und dient als Folie fuumlr die nach-kommenden Verse Das jaumlhrliche Wiederkehren der Schwalbe und ihr Verwei-len in den Sommermonaten steht im Gegensatz zu der permanenten Anwesen-heit der Ἔρωτες im Herz des anakreontischen Dichters Muumlller (2010 219f) eroumlrtert warum die Schwalbe hier zum Vergleich herangezogen wird Er sagt richtig dass sie als Zugvogel eine Unstetigkeit verkoumlrpert und dass sie auch Fruumlhlingsbote ist Der Fruumlhling ist tatsaumlchlich eine Jahreszeit die starke eroti-sche Konnotationen mit sich bringt Jedoch muss man die These von Muumlller bezuumlglich der Schwalbe und wie sie auf poetologischer Ebene fungiert pruumlfen Er sagt bdquoPoetologische Bedeutung hat sie dadurch daszlig sie auch in der anakre-ontischen Dichtung mehrfach vorkam und daszlig sie geeignet ist in typisch ana-kreontischer Weise die Ambivalenz der Liebe zwischen freudigem fruumlhlingshaf-tem Aufbruch und zwanghafter Unruhe zu symbolisierenldquo

Es erhebt sich aber die Frage ob die bloszlige Erwaumlhnung des Wortes χελιδών im Anakreon-Fragment PMG 453 κωτίλη χελιδών oder PMG 394 a ἡδυμελές χαρίεσσα χελιδοῖ reicht um eine Beziehung zu Anakreon auch auf poetologi-scher Ebene festzustellen Auszligerdem glaube ich nicht dass der anakreontische Dichter des vorliegenden Gedichts auf die ambivalenten Aspekte der Liebe hin-weisen will Es scheint plausibler zu sein dass er nur auf die Antithese hinwei-sen wollte die zwischen der Fluumlchtigkeit des Zugvogels und der stetigen Anwe-senheit des Eros im Herz des lyrischen Ichs konstruiert worden ist Charakte-ristisch ist hier die Konjunktion mit μέν ndash δέ (V 1‒6 Σὺ μέν φίλη χελιδόν ἐτη-

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σίη μολοῦσα θέρει πλέκεις καλιήν χειμῶνι δrsquoεἶς ἄφαντος hellip Ἔρως δrsquo ἀεὶ πλέκει μευ ἐν καρδίηι καλιήν)

6‒16 In dieser schoumlnen Szene flicht Eros ein Nest in dem verschiedene bdquoBe-gierdenldquo aufwachsen Die aumllteren Πόθοι ernaumlhren die kleineren Das ganze Bild wirkt sehr lebhaft und vermittelt den Eindruck einer laumlrmenden Szene Die klei-nen nach Befriedigung suchenden Begierden charakterisiert ihr offener Schna-bel

Diese Szene erinnert in mancher Hinsicht an eine Szene des Theokrit in der junge Erotes mit kleinen Nachtigallen verglichen werden die von Ast zu Ast ihre Fluumlgel erprobend fliegen (Theokr Id 15 120‒122 οἱ δέ τε κῶροι ὑπερπωτῶνται Ἔρωτες οἷοι ἀηδονιδῆες ἀεξομενᾶν ἐπὶ δένδρῳ πωτῶνται πτερύγων πειρώμενοι ὄζον ἀπrsquo ὄζω)

6f Ἔρως δrsquo ἀεὶ πλέκει μευ ἐν καρδίηι καλιήν Die in diesen Versen darge-stellte Szene naumlmlich das Flechten eines Nests in einem Herz durch Eros ist uns schon von Platon bekannt Die Liebe des Sokrates fuumlr Alkibiades wird von ihm mit einem Storch verglichen der die Liebe in Alkibiades entzuumlndet hat (Alc 135 e hellip πελαργοῦ ἄρα ὁ ἐμὸς Ἔρως hellip siehe auch Denyer 2001 248) Eros wird hier mit einem kleinen Voumlgelchen verglichen denn Platon laumlsst Sokrates das Partizip ἐννεοττεύσας verwenden was bdquoein Nest hineinflechtenldquo bedeutet Denyer unterstreicht in seinem Kommentar die Beziehung der beiden Texte Im Fall des Sokrates ernaumlhrt die Liebe nur einen Nachkommen waumlhrend im ana-kreontischen Text mehrere Ἔρωτες eine Reihe von kleineren Ἔρωτες ernaumlhren Das gleiche Motiv taucht wieder in der Politeia auf In diesem Fall sind es die Begierden (πόθοι) und nicht die Ἔρωτες die sich in der Seele des τυραννικὸς ἀνήρ eingenistet haben (Rep 573 de hellip ἐπιθυμίας hellip ἐννενεοττευμένας)

West weist auch auf Meleager HE 4050‒55 hin wo gefluumlgelte Ἔρωτες dar-gestellt werden ferner auf Pseudo-Lukian Am 2 (διάδοχοι ἔρωτες ἀλλήλων καὶ πρὶν ἢ λῆξαι τῶν προτέρων ἄρχονται δεύτεροι κάρηνα Λερναῖα τῆς παλιμ-φυοῦς Ὕδρας πολυπλοκώτερα) wo die unendliche Reihenfolge der Ἔρωτες mit den Koumlpfen der Hydra verglichen wird

18f οὐ γὰρ σθένω τοσούτους ἔρωτας ἐκσοβῆσαι West akzeptiert Pauws Kor-rektur ἐκσοβῆσαι waumlhrend Campbell die Lesart des Codex Parisinus (ἐκβοῆσαι) beibehaumllt

Mit ἐκβοῆσαι wuumlrde der Dichter sich seinen Wunsch erfuumlllen die Erotes die er im Inneren hat zu besingen Das Lied das anlaumlsslich seiner Erfahrung so viele Erotes in sich zu haben komponiert wurde koumlnnte den Dichter von die-sem unangenehmen Zustand erloumlsen Ist es nicht eine grundsaumltzliche Funktion

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der Kunst den Gefuumlhlen ihren freien Lauf zu lassen so dass sie frei geaumluszligert werden koumlnnen und man so von ihnen erloumlst werden kann Leider laumlsst sich dies nicht mit Sicherheit behaupten Βοάω wird im Corpus Anacreonticum im Sinn von bdquosingenldquo verwendet (vgl Anakreont 2 8 τὸ παροίνιον βοήσω Anakreont 60 7 λιγυρὸν μέλος hellip βοήσω vgl auch Anakreont 12 3 und 8) aber dem Verb ἐκβοάω begegnen wir leider nicht Auch die folgenden Paralle-len erlauben keine Sicherheit bezuumlglich der Version ἐκβοάω im vorliegenden Gedicht

Das Verb ἐκβοάω in der Bedeutung bdquoein Lied singenldquo wird in Aelians Werk De natura animalium verwendet (8 2 Ζ 30 ὁ δὲ ἐπινίκιόν τινα οἱονεὶ παιᾶνα έκβοᾶ) ἐκβοάω wird von spaumlteren Autoren auch verwendet um ein Gefuumlhl der Trauer zu aumluszligern z B bei Romanos Melodos (Cant 15 3 5 τῷ γέλωτι συμμείξας πένθος ἐκβοᾷ) Bei Porphyriοs (De abstinentia 1 34 3) und Gregor von Nyssa (Greg Nyss In inscriptiones Psalmorum 5 58 l 19 ἐκβοᾷ μυστήριον) wird das Verb mit μυστήριον und ταραχή verbunden Vgl auch Muumlller (2010 219 Anm 701) der verschiedene Parallelen zu ἐκσοβῆσαι erwaumlhnt und zu Recht dem Vor-schlag von West zustimmt

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re ist noch im Ei und wiederum eine andere wartet darauf aus dem Ei zu schluumlpfen Es herrscht Laumlrm denn alle kleinen Kuumlken warten mit offenem Schnabel auf Futter (V 11f)

Dieses Beduumlrfnis der kleineren Eros-Soumlhne nach Futter wird von den Groumlszlige-ren befriedigt (V 13f) Und die schon gefuumltterten Eros-Soumlhne gebaumlren neue Muumlller (2010 219) sagt zutreffend bdquoGelungen ist auch das Bild der kleinen Ero-ten die von den groumlszligeren gefuumlttert werden liegt es doch im Wesen der Begier-de stets selbst groumlszliger zu werden und auch weiter Begierden nach sich zu zie-henldquo

Das lyrische Ich wahrscheinlich bedruumlckt von dem unendlichen Wachsen der Begierden bricht scherzend in die rhetorische Frage aus ob es ein Heilmit-tel dafuumlr gibt Am Ende des Gedichts gesteht es seine Ohnmacht ein so viele Eroten herauszuscheuchen

1‒5 Die Einleitung des Gedichtes ist eine Anrede an eine Schwalbe φίλη χελιδόν (cf Anakreont 15 1 ἐρασμίη πέλεια) Die Schwalbe scheint dem Dichter ein beliebter Vogel zu sein sie kommt dreimal im Corpus Anacreonticum vor Das Motiv der Schwalbe kommt im 22 Gedicht (vgl V 4 Πανδίονος χελιδών) sowie im vorliegenden Gedicht in der Einleitung vor und dient als Folie fuumlr die nach-kommenden Verse Das jaumlhrliche Wiederkehren der Schwalbe und ihr Verwei-len in den Sommermonaten steht im Gegensatz zu der permanenten Anwesen-heit der Ἔρωτες im Herz des anakreontischen Dichters Muumlller (2010 219f) eroumlrtert warum die Schwalbe hier zum Vergleich herangezogen wird Er sagt richtig dass sie als Zugvogel eine Unstetigkeit verkoumlrpert und dass sie auch Fruumlhlingsbote ist Der Fruumlhling ist tatsaumlchlich eine Jahreszeit die starke eroti-sche Konnotationen mit sich bringt Jedoch muss man die These von Muumlller bezuumlglich der Schwalbe und wie sie auf poetologischer Ebene fungiert pruumlfen Er sagt bdquoPoetologische Bedeutung hat sie dadurch daszlig sie auch in der anakre-ontischen Dichtung mehrfach vorkam und daszlig sie geeignet ist in typisch ana-kreontischer Weise die Ambivalenz der Liebe zwischen freudigem fruumlhlingshaf-tem Aufbruch und zwanghafter Unruhe zu symbolisierenldquo

Es erhebt sich aber die Frage ob die bloszlige Erwaumlhnung des Wortes χελιδών im Anakreon-Fragment PMG 453 κωτίλη χελιδών oder PMG 394 a ἡδυμελές χαρίεσσα χελιδοῖ reicht um eine Beziehung zu Anakreon auch auf poetologi-scher Ebene festzustellen Auszligerdem glaube ich nicht dass der anakreontische Dichter des vorliegenden Gedichts auf die ambivalenten Aspekte der Liebe hin-weisen will Es scheint plausibler zu sein dass er nur auf die Antithese hinwei-sen wollte die zwischen der Fluumlchtigkeit des Zugvogels und der stetigen Anwe-senheit des Eros im Herz des lyrischen Ichs konstruiert worden ist Charakte-ristisch ist hier die Konjunktion mit μέν ndash δέ (V 1‒6 Σὺ μέν φίλη χελιδόν ἐτη-

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σίη μολοῦσα θέρει πλέκεις καλιήν χειμῶνι δrsquoεἶς ἄφαντος hellip Ἔρως δrsquo ἀεὶ πλέκει μευ ἐν καρδίηι καλιήν)

6‒16 In dieser schoumlnen Szene flicht Eros ein Nest in dem verschiedene bdquoBe-gierdenldquo aufwachsen Die aumllteren Πόθοι ernaumlhren die kleineren Das ganze Bild wirkt sehr lebhaft und vermittelt den Eindruck einer laumlrmenden Szene Die klei-nen nach Befriedigung suchenden Begierden charakterisiert ihr offener Schna-bel

Diese Szene erinnert in mancher Hinsicht an eine Szene des Theokrit in der junge Erotes mit kleinen Nachtigallen verglichen werden die von Ast zu Ast ihre Fluumlgel erprobend fliegen (Theokr Id 15 120‒122 οἱ δέ τε κῶροι ὑπερπωτῶνται Ἔρωτες οἷοι ἀηδονιδῆες ἀεξομενᾶν ἐπὶ δένδρῳ πωτῶνται πτερύγων πειρώμενοι ὄζον ἀπrsquo ὄζω)

6f Ἔρως δrsquo ἀεὶ πλέκει μευ ἐν καρδίηι καλιήν Die in diesen Versen darge-stellte Szene naumlmlich das Flechten eines Nests in einem Herz durch Eros ist uns schon von Platon bekannt Die Liebe des Sokrates fuumlr Alkibiades wird von ihm mit einem Storch verglichen der die Liebe in Alkibiades entzuumlndet hat (Alc 135 e hellip πελαργοῦ ἄρα ὁ ἐμὸς Ἔρως hellip siehe auch Denyer 2001 248) Eros wird hier mit einem kleinen Voumlgelchen verglichen denn Platon laumlsst Sokrates das Partizip ἐννεοττεύσας verwenden was bdquoein Nest hineinflechtenldquo bedeutet Denyer unterstreicht in seinem Kommentar die Beziehung der beiden Texte Im Fall des Sokrates ernaumlhrt die Liebe nur einen Nachkommen waumlhrend im ana-kreontischen Text mehrere Ἔρωτες eine Reihe von kleineren Ἔρωτες ernaumlhren Das gleiche Motiv taucht wieder in der Politeia auf In diesem Fall sind es die Begierden (πόθοι) und nicht die Ἔρωτες die sich in der Seele des τυραννικὸς ἀνήρ eingenistet haben (Rep 573 de hellip ἐπιθυμίας hellip ἐννενεοττευμένας)

West weist auch auf Meleager HE 4050‒55 hin wo gefluumlgelte Ἔρωτες dar-gestellt werden ferner auf Pseudo-Lukian Am 2 (διάδοχοι ἔρωτες ἀλλήλων καὶ πρὶν ἢ λῆξαι τῶν προτέρων ἄρχονται δεύτεροι κάρηνα Λερναῖα τῆς παλιμ-φυοῦς Ὕδρας πολυπλοκώτερα) wo die unendliche Reihenfolge der Ἔρωτες mit den Koumlpfen der Hydra verglichen wird

18f οὐ γὰρ σθένω τοσούτους ἔρωτας ἐκσοβῆσαι West akzeptiert Pauws Kor-rektur ἐκσοβῆσαι waumlhrend Campbell die Lesart des Codex Parisinus (ἐκβοῆσαι) beibehaumllt

Mit ἐκβοῆσαι wuumlrde der Dichter sich seinen Wunsch erfuumlllen die Erotes die er im Inneren hat zu besingen Das Lied das anlaumlsslich seiner Erfahrung so viele Erotes in sich zu haben komponiert wurde koumlnnte den Dichter von die-sem unangenehmen Zustand erloumlsen Ist es nicht eine grundsaumltzliche Funktion

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der Kunst den Gefuumlhlen ihren freien Lauf zu lassen so dass sie frei geaumluszligert werden koumlnnen und man so von ihnen erloumlst werden kann Leider laumlsst sich dies nicht mit Sicherheit behaupten Βοάω wird im Corpus Anacreonticum im Sinn von bdquosingenldquo verwendet (vgl Anakreont 2 8 τὸ παροίνιον βοήσω Anakreont 60 7 λιγυρὸν μέλος hellip βοήσω vgl auch Anakreont 12 3 und 8) aber dem Verb ἐκβοάω begegnen wir leider nicht Auch die folgenden Paralle-len erlauben keine Sicherheit bezuumlglich der Version ἐκβοάω im vorliegenden Gedicht

Das Verb ἐκβοάω in der Bedeutung bdquoein Lied singenldquo wird in Aelians Werk De natura animalium verwendet (8 2 Ζ 30 ὁ δὲ ἐπινίκιόν τινα οἱονεὶ παιᾶνα έκβοᾶ) ἐκβοάω wird von spaumlteren Autoren auch verwendet um ein Gefuumlhl der Trauer zu aumluszligern z B bei Romanos Melodos (Cant 15 3 5 τῷ γέλωτι συμμείξας πένθος ἐκβοᾷ) Bei Porphyriοs (De abstinentia 1 34 3) und Gregor von Nyssa (Greg Nyss In inscriptiones Psalmorum 5 58 l 19 ἐκβοᾷ μυστήριον) wird das Verb mit μυστήριον und ταραχή verbunden Vgl auch Muumlller (2010 219 Anm 701) der verschiedene Parallelen zu ἐκσοβῆσαι erwaumlhnt und zu Recht dem Vor-schlag von West zustimmt

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σίη μολοῦσα θέρει πλέκεις καλιήν χειμῶνι δrsquoεἶς ἄφαντος hellip Ἔρως δrsquo ἀεὶ πλέκει μευ ἐν καρδίηι καλιήν)

6‒16 In dieser schoumlnen Szene flicht Eros ein Nest in dem verschiedene bdquoBe-gierdenldquo aufwachsen Die aumllteren Πόθοι ernaumlhren die kleineren Das ganze Bild wirkt sehr lebhaft und vermittelt den Eindruck einer laumlrmenden Szene Die klei-nen nach Befriedigung suchenden Begierden charakterisiert ihr offener Schna-bel

Diese Szene erinnert in mancher Hinsicht an eine Szene des Theokrit in der junge Erotes mit kleinen Nachtigallen verglichen werden die von Ast zu Ast ihre Fluumlgel erprobend fliegen (Theokr Id 15 120‒122 οἱ δέ τε κῶροι ὑπερπωτῶνται Ἔρωτες οἷοι ἀηδονιδῆες ἀεξομενᾶν ἐπὶ δένδρῳ πωτῶνται πτερύγων πειρώμενοι ὄζον ἀπrsquo ὄζω)

6f Ἔρως δrsquo ἀεὶ πλέκει μευ ἐν καρδίηι καλιήν Die in diesen Versen darge-stellte Szene naumlmlich das Flechten eines Nests in einem Herz durch Eros ist uns schon von Platon bekannt Die Liebe des Sokrates fuumlr Alkibiades wird von ihm mit einem Storch verglichen der die Liebe in Alkibiades entzuumlndet hat (Alc 135 e hellip πελαργοῦ ἄρα ὁ ἐμὸς Ἔρως hellip siehe auch Denyer 2001 248) Eros wird hier mit einem kleinen Voumlgelchen verglichen denn Platon laumlsst Sokrates das Partizip ἐννεοττεύσας verwenden was bdquoein Nest hineinflechtenldquo bedeutet Denyer unterstreicht in seinem Kommentar die Beziehung der beiden Texte Im Fall des Sokrates ernaumlhrt die Liebe nur einen Nachkommen waumlhrend im ana-kreontischen Text mehrere Ἔρωτες eine Reihe von kleineren Ἔρωτες ernaumlhren Das gleiche Motiv taucht wieder in der Politeia auf In diesem Fall sind es die Begierden (πόθοι) und nicht die Ἔρωτες die sich in der Seele des τυραννικὸς ἀνήρ eingenistet haben (Rep 573 de hellip ἐπιθυμίας hellip ἐννενεοττευμένας)

West weist auch auf Meleager HE 4050‒55 hin wo gefluumlgelte Ἔρωτες dar-gestellt werden ferner auf Pseudo-Lukian Am 2 (διάδοχοι ἔρωτες ἀλλήλων καὶ πρὶν ἢ λῆξαι τῶν προτέρων ἄρχονται δεύτεροι κάρηνα Λερναῖα τῆς παλιμ-φυοῦς Ὕδρας πολυπλοκώτερα) wo die unendliche Reihenfolge der Ἔρωτες mit den Koumlpfen der Hydra verglichen wird

18f οὐ γὰρ σθένω τοσούτους ἔρωτας ἐκσοβῆσαι West akzeptiert Pauws Kor-rektur ἐκσοβῆσαι waumlhrend Campbell die Lesart des Codex Parisinus (ἐκβοῆσαι) beibehaumllt

Mit ἐκβοῆσαι wuumlrde der Dichter sich seinen Wunsch erfuumlllen die Erotes die er im Inneren hat zu besingen Das Lied das anlaumlsslich seiner Erfahrung so viele Erotes in sich zu haben komponiert wurde koumlnnte den Dichter von die-sem unangenehmen Zustand erloumlsen Ist es nicht eine grundsaumltzliche Funktion

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Das Verb ἐκβοάω in der Bedeutung bdquoein Lied singenldquo wird in Aelians Werk De natura animalium verwendet (8 2 Ζ 30 ὁ δὲ ἐπινίκιόν τινα οἱονεὶ παιᾶνα έκβοᾶ) ἐκβοάω wird von spaumlteren Autoren auch verwendet um ein Gefuumlhl der Trauer zu aumluszligern z B bei Romanos Melodos (Cant 15 3 5 τῷ γέλωτι συμμείξας πένθος ἐκβοᾷ) Bei Porphyriοs (De abstinentia 1 34 3) und Gregor von Nyssa (Greg Nyss In inscriptiones Psalmorum 5 58 l 19 ἐκβοᾷ μυστήριον) wird das Verb mit μυστήριον und ταραχή verbunden Vgl auch Muumlller (2010 219 Anm 701) der verschiedene Parallelen zu ἐκσοβῆσαι erwaumlhnt und zu Recht dem Vor-schlag von West zustimmt

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der Kunst den Gefuumlhlen ihren freien Lauf zu lassen so dass sie frei geaumluszligert werden koumlnnen und man so von ihnen erloumlst werden kann Leider laumlsst sich dies nicht mit Sicherheit behaupten Βοάω wird im Corpus Anacreonticum im Sinn von bdquosingenldquo verwendet (vgl Anakreont 2 8 τὸ παροίνιον βοήσω Anakreont 60 7 λιγυρὸν μέλος hellip βοήσω vgl auch Anakreont 12 3 und 8) aber dem Verb ἐκβοάω begegnen wir leider nicht Auch die folgenden Paralle-len erlauben keine Sicherheit bezuumlglich der Version ἐκβοάω im vorliegenden Gedicht

Das Verb ἐκβοάω in der Bedeutung bdquoein Lied singenldquo wird in Aelians Werk De natura animalium verwendet (8 2 Ζ 30 ὁ δὲ ἐπινίκιόν τινα οἱονεὶ παιᾶνα έκβοᾶ) ἐκβοάω wird von spaumlteren Autoren auch verwendet um ein Gefuumlhl der Trauer zu aumluszligern z B bei Romanos Melodos (Cant 15 3 5 τῷ γέλωτι συμμείξας πένθος ἐκβοᾷ) Bei Porphyriοs (De abstinentia 1 34 3) und Gregor von Nyssa (Greg Nyss In inscriptiones Psalmorum 5 58 l 19 ἐκβοᾷ μυστήριον) wird das Verb mit μυστήριον und ταραχή verbunden Vgl auch Muumlller (2010 219 Anm 701) der verschiedene Parallelen zu ἐκσοβῆσαι erwaumlhnt und zu Recht dem Vor-schlag von West zustimmt

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