Bereich Forschung Hochenergiephysik - desy.de · Forschung für den International Linear Collider...

90
Forschung Hochenergiephysik Bereich Forschung Hochenergiephysik Inhalt Übersicht 35 H1 Experiment 39 ZEUS Experiment 55 HERMES Experiment 67 HERA-B Experiment 79 Theoretische Physik 85 Forschung für den International Linear Collider 99 Forschung Linearbeschleuniger-Technologien 117 33

Transcript of Bereich Forschung Hochenergiephysik - desy.de · Forschung für den International Linear Collider...

Forschung Hochenergiephysik

BereichForschung Hochenergiephysik

Inhalt

Übersicht 35

H1 Experiment 39

ZEUS Experiment 55

HERMES Experiment 67

HERA-B Experiment 79

Theoretische Physik 85

Forschung für den International Linear Collider 99

Forschung Linearbeschleuniger-Technologien 117

33

Übersicht Forschung Hochenergiephysik

Abbildung 2: Abnahme der starken Kopplungskonstanten αs mit zunehmender Energiegemessen von H1 und ZEUS in verschiedenen Analysen.

34

Übersicht Forschung Hochenergiephysik

ÜbersichtForschung Hochenergiephysik

Im Berichtsjahr fanden eine Anzahl von Ereignissenstatt, die für die mittel- und längerfristige Entwicklungder Teilchenphysik weltweit, in Deutschland und amDESY von maßgeblicher Bedeutung sind.

Mit der Vergabe des Nobelpreises der Physik anD. Gross, D. Politzer und F. Wilczek für die Entde-ckung der asymptotischen Freiheit wurde auch die Be-deutung des Studiums der starken Wechselwirkung ge-würdigt. DESY hat mit der Entdeckung der Gluonen beiPETRA, den Präzisionsmessungen der starken Kopp-lungskonstanten bei PETRA und HERA, sowie den de-tailliertenErgebnissenzur Protonstruktur undzur QCD-Strahlung bei HERA ganz wesentlich zu diesem beiweitem noch nicht abgeschlossenen Forschungsgebietexperimentell und theoretisch wesentliche Beiträge ge-liefert. So konnte zum Beispiel die Energieabhängigkeitder starken Kopplungskonstanten αs in einem großenEnergiebereich von H1 und ZEUS bestimmt und mitder theoretischen Vorhersage verglichen werden (sieheAbb. 2).

Dank besonderer Anstrengungen der HERA Maschi-nengruppe und der Mitarbeiter der HERA Experimentegelang es im Berichtsjahr die HERA II Designwertezu erreichen und den Untergrund so zu reduzieren,dass alle drei HERA Experimente mit hoher EffizienzDaten nehmen konnten. Dadurch wurde mit 92 pb−1

die bisher höchste integrierte Luminosität pro Jahr er-reicht. Neu bei HERA II ist die Polarisation der Po-sitronen für die Kolliderexperimente H1 und ZEUS,die 2004 im Mittel 40% betrug. Bereits zu den Som-merkonferenzen konnten die ersten Ergebnisse, wiez. B. die Paritätsverletzung der schwachen Wechselwir-kung bei höchsten Impulsüberträgen, vorgestellt wer-den. Im Herbst 2004 wurde HERA erfolgreich auf denBetrieb mit Elektronen umgestellt. Dies geschah er-freulich schnell und problemlos, mit einer Luminosi-tät ähnlich wie beim Betrieb mit Positronen. Damitwird es möglich sein im Sommer 2005 über die de-

taillierte Planung des Betriebs bis zum Abschalten vonHERA Mitte 2007 zu entscheiden. Inzwischen habendie HERA Experimenten die Analyse der in den Jah-ren 1992–2000 genommenen Daten weitgehend abge-schlossen und veröffentlicht. Auch weiterhin zählendie Ergebnisse der HERA Experimente zu den meistzitierten Publikationen der experimentellen Hochener-giephysik.

Im März begann der Workshop ,,HERA and the LHC“mit einem Auftakt Meeting bei CERN (Genf), der imFrühjahr 2005 zu Ende gehen soll. Ziel dieses Work-shops ist es, die Verbindung der Physik bei HERAund dem LHC zu untersuchen und zu vertiefen. In ei-ner Reihe von Arbeitstreffen wurde immer wieder diegroße Bedeutung der Physik und der Messungen derHERA Experimente betont, insbesondere im Hinblickauf das Physik Program bei LHC. Gerade das Verständ-nis und die Messung der Partonverteilungen im Protonist von ganz besonderer Bedeutung.

Die Verbindung der Physik bei HERA und LHC zeigtdie Stärke und den Erfolg des gesamten HERA Pro-grams. Es ist offensichtlich, dass HERA das einzigeInstrument weltweit ist, wo viele der grundsätzlichenFragen überhaupt untersucht und beantwortet werdenkönnen.

In enger Zusammenarbeit mit den DESY IT-Gruppengelang den HERA Experimenten ein großer Fortschrittbei dem Einsatz von ,,Grid“-Werkzeugen bei der Da-tenanalyse: so hat z. B. das ZEUS Experiment einenGroßteil der simulierten Daten weltweit verteilt erzeugt.

Im Betriebsjahr gab es wichtige Meilensteine für dasIceCube Experiment, das das Eis der Antarktis als 1 km3

großen Detektor zur Suche nach hochenergetischenNeutrinos aus dem Kosmos verwenden wird: die inter-nationale Finanzierung ist nun sichergestellt, und dieVorbereitungen für das Versenken der Photodetektorenim Eis konnte abgeschlossen werden, so dass Anfang

35

Übersicht Forschung Hochenergiephysik

Abbildung 3: Das ITRP hat in 2004 die von der TESLA Kollaboration entwickeltesupraleitende Technologie für den ILC empfohlen.

2005 der erste Tross von Photoröhren erfolgreich ver-senkt, und die ersten Neutrinoereignisse nachgewiesenwurden. Wesentliche Komponenten wurden dazu vonDESY, Standort Zeuthen, geliefert.

Dieses Berichtsjahr war auch ein sehr wichtiges Jahrfür den International Linear Collider (ILC). Im Januarhaben die Wissenschaftsminister der OECD Mitglied-staaten das wissenschaftliche Potenzial und die Road-map des ILC zustimmend zur Kenntnis genommen.Die internationale Gemeinschaft der Teilchenphysikerhatte Ende 2003 das ITRP (International TechnologyRecommendation Panel, siehe Abb. 3) unter der Lei-tung von B. Barish (CALTECH) beauftragt, bis Ende2004 eine Empfehlung zur Beschleunigertechnologiefür den ILC zu geben. Im April 2004 besuchte das ITRPHamburg, um die supraleitende Technologie, die seit1992 von der TESLA Kollaboration entwickelt wurde,zu begutachten. Bereits im August 2004 hat das ITRP

bei der Internationalen Konferenz für Hochenergiephy-sik (ICHEP 2004) in Peking die Empfehlung für dieTESLA Technologie ausgesprochen. Die Empfehlungwurde dann einstimmig von ICFA (International Com-mittee for Future Accelerators), in dem auch die Di-rektoren der großen Beschleunigerlabors vertreten sind,angenommen. Diese Entscheidung ist ein großer Erfolgfür die Gemeinschaft der Teilchenphysiker, aber auchfür DESY und die TESLA Kollaboration. Mit dieserEntscheidung ergibt sich eine große Synergie mit demEuropäischen Röntgenlaser XFEL am DESY, dessenBeschleuniger ebenfalls die supraleitende Technologieverwendet.

Im November 2004 wurde bei DESY die ProjektgruppeILC (International Linear Collider) gegründet, die alleILC Aktivitäten bei DESY koordiniert, von den Be-schleunigerarbeiten über Detektorentwicklung bis hinzu Physikstudien.

36

Übersicht Forschung Hochenergiephysik

Unter der Federführung DESY’s wurde im März 2004von einem Konsortium von mehr als zwanzig europäi-schen Labors der EUROTeV Vorschlag bei der Europäi-schen Union eingereicht. Ziel ist es, die für einen LinearCollider notwendigen Technologien, mit Ausnahme derBeschleunigungstechnologie, die bereits im Rahmendes EU Projekts CARE gefördert wird, in europäischerZusammenarbeit weiter zu entwickeln. Unter mehr alshundert Vorschlägen wurde EUROTeV, gemeinsam mitdem ebenfalls unter Federführung DESY’s vorgeleg-ten Vorschlag EUROFEL von den Gutachtern auf dieersten beiden Plätze gesetzt.

Anfang 2004 fand die Evaluation des Programms desHGF Forschungsbereichs ,,Struktur der Materie“ fürdie Zeit 2005 bis 2009 statt. Der DESY Bereich ,,For-schung Hochenergiephysik“ ist in den beiden For-schungsprogrammen ,,Elementarteilchenphysik“ und,,Astroteilchenphysik“ maßgeblich beteiligt. Das vonDESY vorgelegte Programm wurde weitgehend exzel-lent und mit den höchsten Noten beurteilt. Das Basis-programm wurde wie vorgeschlagen genehmigt. Trotzder ausgezeichneten Beurteilung konnten wegen der be-grenzenten Ressourcen zusätzliche Mittel im Rahmenso genannter Überzeichnungen nur für zwei Themen,,,HERA“ und ,,Vorbereitungen für Linearbeschleuni-ger“ eingeworben werden.

Öffentlichkeitsarbeit und spezielle Angebote fürSchüler ([email protected] und

[email protected]) sowie Studen-ten (Sommerstudentenprogramm) besitzen einen hohenStellenwert bei DESY und im Bereich Forschung Hoch-energiephysik. Dies soll am Beispiel der Schülerlaborsphysik.begreifen in Hamburg und Zeuthen ver-deutlicht werden. Beide haben sich zu einem wichtigenund äußerst gefragten Instrument entwickelt, um Schü-ler an die Naturwissenschaften, insbesondere die Phy-sik heranzuführen und zu begeistern. Die Statistik imBerichtsjahr spricht für sich: in Hamburg wurden 200Gruppen mit insgesamt 4180 Schülern in den BereichenVakuum und Radioaktivität betreut, in Zeuthen seit derEröffnung im Mai 61 Gruppen mit 1300 Schülern imBereich Vakuum.

Im Berichtsjahr wurden im Bereich Forschung Hoch-energiephysik die Berufungsverhandlungen mit zweiLeitenden Wissenschaftlern erfolgreich abgeschlossen:Am 1.1.2005 tritt Herr J. Mnich die Nachfolge vonG. Wolf (Experimentelle Teilchenphysik) und im Mai2005 Herr V. Schomerus die Nachfolge von M. Lü-scher (Theoretische Teilchenphysik) an. 2004 gingendie Leitenden Wissenschaftler D. Haidt und F. Jäger-lehner in den Ruhestand und A. Stahl wurde auf eine C4-Professur an die RWTH-Aachen berufen. Die Amtszeitvon R. Klanner als Mitglied des DESY Direktoriumsund Leiter des Bereichs Forschung Hochenergiephy-sik ging Ende November 2004 zu Ende. Seine Nach-folge trat am 1.12.2004 R.-D. Heuer von der UniversitätHamburg an.

37

H1 Experiment

Abbildung 4: Die von H1 aufgezeichnete Luminosität als Funktion der Anzahl der Messtage,getrennt für die HERA I Periode (1994–2000), sowie für den Anfang der HERA II Periode(2003–2004 ). Die bis jetzt erreichte mittlere longitudinale Polarisation des Positronstrahlesin der HERA II Periode beträgt 32% und −40% für rechts- bzw. linkshändige Polarisation.

38

H1 Experiment

H1 Experiment

Beteiligte Institute: RWTH Aachen, Univ. Antwerpen, Univ. of Birmingham, Inter-Univ. ULB-VUB Brussels,Rutherford Appleton Lab. Chilton, Inst. for Nucl. Phys. Cracow, Univ. Dortmund, JINR Dubna, CEA Saclay,DESY Hamburg, Univ. Hamburg, Univ. und MPI Kernphys. Heidelberg, Univ. Kiel, Slovac Acad. Sci. Kosice,Univ. of Lancaster, Univ. of Liverpool, QMWC London, Univ. of Lund, Univ. of Manchester, Univ. Marseille,CINVESTAV Merida und Mexico, ITEP und Lebedev Inst. Moscow, MPI Phys. München, Univ. de Paris-SudOrsay, Ec. Polytech. Palaiseau, Univ. Paris VI und VII, Univ. of Montenegro Podgorica, Czech Acad. Sci. undCharles Univ. Prag, INFN und Univ. 3 Rom, Inst. for Nucl. Research and Nucl. Energy Sofia, Paul Scherrer Inst.Villigen, Univ.-GH Wuppertal, Phys. Inst. Yerevan, DESY Zeuthen, ETH und Univ. Zürich.

Sprecher: M. Klein, DESY

Ende 2003 wurde mit der Realisierung des HERA IIProgrammes begonnen, nachdem in den vorange-gangenen Jahren zunächst schwierige Strahlunter-grundprobleme zu bewältigen waren. Bis zum Au-gust 2004 lief HERA mit Positronen und Protonen,wobei das H1-Experiment etwas mehr Luminosi-tät registrieren konnte als im bisher erfolgreichstenJahr 2000. Im Herbst 2004 wurde der Beschleunigerauf den Betrieb mit Elektronen umgestellt.

Im Unterschied zur ersten Phase von HERA wer-den jetzt Kollisionen von polarisierten Leptonenmit Protonen aufgezeichnet. Durch den Sokolov-Ternov-Effekt werden im Speicherring die Po-sitronen oder Elektronen transversal polarisiert.Durch Rotation der Spinorientierung an den ep-Wechselwirkungspunkten wird der Spin longitudi-nal ausgerichtet und ermöglicht damit Tests derschwachen Wechselwirkung. Erstmalig konnte so-mit die Polarisationsabhängigkeit des Streuquer-schnitts der geladenen Stromwechselwirkung ge-messen werden. Die entsprechenden Daten wur-den auf der ICHEP, der internationalen Konferenzfür Hochenergiephysik, im August 2004 in Beijingvorgestellt.

Unter Verwendung aller in den letzten 10 Jahrenaufgezeichneten Daten des H1-Experiments wurden,

ebenfalls zur ICHEP-Konferenz, die Analysen vonEreignissen mit isoliert auftretenden Leptonen undgroßem fehlenden Transversalimpuls präsentiert, de-ren Häufigkeit die Erwartung des Standardmodellsübertrifft. Mit einer bis August integrierten Lumi-nosität von 171 pb−1 wurden 10 Ereignisse nachge-wiesen, bei denen das isolierte Lepton ein Elektronoder Positron ist, wohingegen nur 2.7 Ereignisse er-wartet werden. Im Myonkanal stehen 6 gemesse-ne Ereignissen mit isoliertem Myon einer Erwar-tung des Standardmodells von 2.6 gegenüber. Bei derSuche nach Ereignissen mit isolierten Taus wurdekein Kandidat gefunden. Beide Analysen, die der,,Charged Current Events“ sowie die der ,,IsolatedLeptons“, konnten nahezu Online durchgeführt wer-den, unter Benutzung neuentwickelter H1 Softwareim ,,Object Oriented“ Standard, sowie der parallelzur Datennahme erfolgenden Kalibrationen des De-tektors.

Der H1-Detektor konnte im Jahre 2004 zuverlässig be-trieben werden. Wesentliche Elemente des Experimentswurden weiterentwickelt, so die auf den Signalen derDrift- und Proportionalkammern basierenden Spurtrig-ger, der ,,Jet“-Kalorimetertrigger, das zentrale Systemder Datenaufnahme, die Rechnerleistung und Analyse-software, die Protonspektrometer im Vorwärtsbereichund andere.

39

H1 Experiment

Die Kollaboration reichte 45 wissenschaftliche Arbei-ten bei der ICHEP Konferenz ein, von denen 13 indiesem Jahr publiziert wurden. Wie im Folgenden aus-geführt, setzt die H1-Kollaboration damit die Suchenach neuer Physik bei höchsten Energien, sowie dieAnalyse der Protonstruktur und der starken Wechsel-wirkung fort. Herausragende Resultate waren die ersteMessung der Dichte der Beauty-Quarks im Proton, dievollständige Analyse der Erzeugung von Lepton- undJetsignaturen bei hohen Transversalimpulsen im Ver-gleich mit dem Standardmodell und der Nachweis einesmöglicherweise aus 5 Quarks bestehenden gebundenenD∗p Zustands. Wie in Beijing hervorgehoben wurde,sind die HERA-Analysen von entscheidender Bedeu-tung für die Weiterentwicklung der QCD, so auf demGebiet der Partonkorrelationen, verallgemeinerter undunintegrierter Partondichten oder der Diffraktion.

Physiker der H1-Kollaboration nahmen mit wissen-schaftlichen und organisatiorischen Arbeiten an derDurchführung des HERA-LHC Physik Workshops teil.In mehreren Treffen von Mitgliedern von HERA-und LHC-Experimenten mit theoretischen Physikernwurde in fünf großen Arbeitsgruppen die Bedeutungder HERA-Resultate für die Physik am LHC heraus-gearbeitet. Die Ergebnisse des Workshops werden imJahr 2005 vorliegen.

Die H1-Kollaboration nahm mit Physikern aus demInstitut für Kernforschung und Kernenergie der Bul-garischen Akademie der Wissenschaften, Sofia, sowieder Universität Podgorica (Montenegro) zwei weitereGruppen als Mitglieder auf. Sie besteht damit jetzt aus41 Instituten aus insgesamt 15 Ländern.

Der H1-Detektor

Datennahme

Der Datennahme-Betrieb wurde zum Jahreswechselohne jegliche Unterbrechung fortgesetzt. Die Vakuum-bedingungen im Bereich der H1-Wechselwirkungszoneverbesserten sich im Laufe des Jahres stetig, so dassdie parallel erfolgende kontinuierliche Erhöhung derHERA-Strahlströme nicht mehr zu unakzeptabel ho-hem Untergrund im H1-Detektor führte. Ab Mitte Fe-

bruar 2004 stellten die Untergrundverhältnisse im H1-Detektor keine Beschränkung mehr für die Strahl-intensität dar und Anfang Juni erreichte die Daten-nahmeeffizienz für Betrieb mit eingeschalteter Hoch-spannung sogar wieder Werte von mehr als 85%,die zuvor nur im Jahr 2000 erreicht worden waren.Ab Mitte Juni verschlechterten Probleme mit demHERA-Vakuumsystem auf der rechten Seite von H1die Datennahmebedingungen allerdings wieder erheb-lich. Zunächst trat erneut ein Vakuumleck an einer derkritischsten Stellen von H1 auf, 11 m vor dem Wech-selwirkungspunkt. An dieser Stelle treffen drei ver-schiedene Strahlrohre an einem Absorber für die Syn-chrotronstrahlung auf engstem Raum zusammen. DieFlanschdichtung des Protonstrahlrohres hatte den ho-hen thermischen und mechanischen Belastungen nichtstandgehalten und musste ausgetauscht werden. Durchdie damit verbundene Belüftung des Strahlrohres ver-schlechterten sich die Vakuumbedingungen wieder. Einzusätzliches Problem trat kurze Zeit später durch dieinfolge von Überhitzung entstandene lokale Verfor-mung des Elektronstrahlrohres um einige mm in ei-nem Abstand von 6 m vor H1 auf. Um Gasausbrücheim Vakuum und damit verbundene Strahlverluste zuvermeiden, wurde der verfügbare Parameterraum fürden HERA Betrieb stark eingeschränkt.

Trotz dieser Schwierigkeiten war die Datennahme imPositron-Proton Betrieb sehr erfolgreich. H1 konnteinsgesamt die Rekordluminosität von 84 pb−1 aufzeich-nen, von der 57 pb−1 mit voll eingeschalteter Hochspan-nung genommen wurden. Während des Betriebs wurdezweimal die Richtung der longitudinalen Positron-Polarisation gewechselt, so dass je etwa gleichviel Da-ten mit beiden Polarisationszuständen, mit einer mitt-leren Polarisation von +32% bzw. −40%, vorhandensind. Eine vorläufige Analyse dieser Daten ermöglichtedie erste Messung der Polarisationsabhängigkeit desWirkungsquerschnitts der geladenen schwachen Wech-selwirkung.

In der von Mitte August bis Mitte Oktober dauern-den Betriebsunterbrechung von HERA konnten de-fekte Komponenten des Vakuumsystems ausgetauschtund verbesserte technische Lösungen realisiert wer-den. So verhindert ein Einsatz im oben erwähntenneu eingebauten Absorber, dass das dahinter liegendeStrahlrohr von direkter Synchrotronstrahlung getroffenwird. Schweißverbindungen anstelle von geschraubten

40

H1 Experiment

Flanschverbindungen sorgen nun ebenfalls für eine er-höhte Betriebssicherheit. Eine verbesserte Instrumen-tierung mit Temperatursensoren soll zukünftig eineÜberhitzung des ausgetauschten Elektronstrahlrohresverhindern.

Die anschließende Umstellung von HERA aufElektron-Proton-Betrieb machte eine Verschiebungmehrerer HERA-Magnete und des H1-Detektors er-forderlich. Obwohl die Strahlströme mit Rücksicht aufdie nach den Umbauten des Vakuumsystems anfäng-lich schlechten Vakuumbedingungen zunächst redu-ziert waren, gelang es rasch, den Luminositätsbetriebwiederaufzunehmen, wobei Rekordwerte für die spe-zifische Luminosität erreicht wurden.

Reparaturen und Erweiterungen

Durch ein im Mai aufgetretenes Leck an einer schad-haften Verbindung im Wasserkühlkreis für den Vor-wärts-Siliziumdetektor (FST) wurde ein großer Teil derFST-Sensoren und der Ausleseelektronik so stark be-schädigt, dass dieser Detektor nicht mehr betrieben wer-den konnte. Die genaue Inspektion nach dem Ausbauder Siliziumdetektoren ergab, dass für eine erfolgreicheReparatur eine Neubeschaffung aller Sensoren und einNeubau der Frontendelektronik notwendig waren. Dadie noch zu erwartende integrierte Strahlenbelastungin der verbleibenden Laufzeit von HERA nahe an dietolerierbare Grenze des bisher verwendeten Auslese-chips reicht, wurde beschlossen, den Chip in strahlen-resistente Technologie zu übertragen und neu zu bauen.Darüberhinaus zeigte sich, dass eine Überarbeitung desgesamten Kühlkreislaufs auch im Falle des gleichzeitigausgebauten Rückwärts-Siliziumdetektors (BST) not-wendig war. Da diese sehr aufwändigen Reparaturar-beiten nicht vor Beendigung der HERA Betriebsunter-brechung fertiggestellt werden konnten, werden FSTund BST erst im Sommer 2005 wieder eingebaut. DieFunktion des BST als Strahlungsmonitor wird mit ei-nem neuen segmentierten Szintillator erfüllt, der an-stelle des BST hinter dem zentralen Siliziumdetektor(CST) installiert wurde. Die Zugangsmöglichkeit zumH1-Detektor im Sommer 2004 wurde auch genutzt,um Reparaturen am CST vorzunehmen, der zuvor we-gen eines Kurzschlusses an der Frontendelektronik nurzu 75% aktiv war. Ebenso konnten eine Anzahl feh-lerhafter Frontendkarten der inneren Proportionalkam-

mer (CIP) ersetzt werden, so dass der für die effizienteDatennahme wichtige CIP-Trigger wieder mit erhöh-ter Redundanz betrieben werden kann. Ein wichtigerSchritt war auch die erfolgreiche Inbetriebnahme derersten von insgesamt drei Triggerstufen des neuen ,,FastTrack Triggers“ (FTT), der es zukünftig erlauben wird,exklusive Endzustände mit geladenen Teilchen Onlinezu selektieren. Das im Zuge der Installation des neuenVorwärtsspektrometers (VFPS, bei 220 m in Proton-strahlrichtung) entwickelte hochpräzise System für diekontrollierte Führung der Faserdetektoren an den Pro-tonstrahl, wurde auch in die Stationen des existierendenFPS-System eingebaut und erlaubt einen zuverlässige-ren Betrieb dieser Detektoren, die für die diffraktivePhysik von großer Bedeutung sind. Mit großem Erfolgkonnte nach der HERA-Betriebspause der existierendeoptische Faser-Ring für die zentrale Datenakquisition,durch ein auf VME PCs und Fast Ethernet basieren-des System ersetzt werden. Damit wurden Zuverläs-sigkeit und Wartungsmöglichkeit dieser wesentlichenKomponente deutlich verbessert.

Physikalische Ergebnisse

Die Auswertung der zahlreichen Messdaten vonHERA I wurde fortgesetzt, was zu einer gegenüber 2003deutlich erhöhten Anzahl von Publikationen führte.Im Folgenden werden wichtige, im Berichtsjahr ab-geschlossene Analysen etwas näher erläutert.

QCD und Protonstruktur

Die Erforschung der Protonstruktur und die kritischeÜberprüfung der Quantenchromodynamik (QCD), derTheorieder starkenWechselwirkung, ist einederHaupt-aufgaben der HERA-Physik.

In zwei Veröffentlichungen wurden exklusive Endzu-stände ausgewählt, in welchen ein energetisches Photonbzw. ein energetisches neutrales π-Meson (π0) nach-gewiesen wurde, um die Gültigkeit der QCD in speziel-len Bereichen des Phasenraums zu prüfen. Außerdemwurde in einer Veröffentlichung die Strukturfunktiondes Protons bei sehr niedrigen Viererimpulsüberträgen(Q2) mit Hilfe sogenannter QED Compton-Ereignissebestimmt.

41

H1 Experiment

Bei der tiefunelastischen Elektron-Proton-Streuungwird ein Eichboson (dominant ein virtuelles Photon)zwischen dem Elektron und dem Proton ausgetauscht,wobei der Viererimpulsübertrag Q2 ein Maß für dieAuflösung ist, mit welcher die Protonstruktur unter-sucht wird. Das ausgetauschte Eichboson streut an ei-nem Quark oder Gluon (so genannte Partonen) im Pro-ton. Die Protonstruktur wird dann durch Strukturfunk-tionen beschrieben, die von der Variablen x abhängen,dem Anteil des Protonimpulses, der von dem wechsel-wirkenden Parton getragen wird. Im größten Teil desPhasenraumsbei HERAist der Streuquerschnitt propor-tional zu der Strukturfunktion F2(x, Q2). Die HERA-Experimente H1 und ZEUS haben in mehreren frü-heren Veröffentlichungen gezeigt, dass die gemesseneFunktion F2 über einen großen Bereich der Variablenx und Q2 sehr gut von der QCD beschrieben werdenkann. Bei kleinen Werten von Q2 < 1 GeV2 kann jedochdie QCD in Störungsrechnung nicht angewendet wer-den; hier werden stattdessen phänomenologische Mo-delle zur Beschreibung angesetzt, insbesondere solche,die auf der Regge-Theorie basieren. Besonderes Inter-esse gilt daher dem Übergangsbereich von perturbativerQCD zur niederenergetischen Phänomenologie.

Messungen bei kleinen Impulsüberträgen erfordernspezielle Experimentiertechniken, weil das gestreuteElektron häufig den Detektor unter sehr kleinen Streu-winkeln verlässt, ohne nachgewiesen zu werden. Inder erwähnten Veröffentlichung wurde ausgenutzt, dassin einem kleinen Teil dieser Streuprozesse das Elek-tron schon vor der Kollision mit dem Parton ein sogenanntes QED-Compton-Photon abstrahlt. Auf dieseWeise erhält das Elektron einen Transversalimpuls undkann daher selbst bei kleinen Werten von Q2 in dasrückwärtige Kalorimeter gestreut werden. Durch Nach-weis sowohl des Photons als auch des Elektrons wirddie Ereigniskinematik der QEDC-Prozesse rekonstru-iert.

Der x-Bereich wurde zu großen Werten hin erweitert,als Folge der QEDC-Kinematik sowie auch durch eineverbesserte Rekonstruktion des hadronischen Endzu-standes,derausdemgestreutenPartonhervorgeht.Hier-durch wurde eine x-Region erreicht, in der sonst nurDaten aus älteren, so genannten ,,Fixed Target“ Expe-rimenten vorliegen, was einen direkten Vergleich mitdiesen ermöglicht. Abbildung 5 zeigt die Strukturfunk-tion F2, aufgetragen gegen x, für drei Werte von Q2.

Die neuen Messungen von H1 stimmen gut mit denfrüheren Experimenten (E665, NMC, SLAC) überein.

Um die Emission von hochenergetischen Photonen gehtes auch in einer anderen Veröffentlichung, wobei diePhotonen hier vom hadronischen System abgestrahltwerden. In diesen Ereignissen, die einen sehr kleinenTeil der totalen Wechselwirkungsrate ausmachen, wer-dendiePhotonen ,,prompt“genannt.SowohldasPhotonals auch das hadronische System werden im Flüssig-Argon Kalorimeter nachgewiesen. Dabei ist wichtig,dass die Photonen, dank der hohen Granularität desKalorimeters, aufgrund ihres besonders engen Schauer-profils vom Untergrund statistisch gut getrennt werdenkönnen. So konnten Wirkungsquerschnitte als Funk-tion von sowohl der transversalen Energie als auch derPseudorapidität des Photons gemessen werden, wobeidie Pseudorapidität ein Maß für den Streuwinkel be-züglich der Strahlrichtung ist. In Abbildung 6 werdendie gemessenen Wirkungsquerschnitte mit mehrerenStörungsrechnungen der QCD verglichen, sowohl inführender (LO) als auch in nächst-führender Ordnung(NLO) der starken Kopplungskonstanten αs. Man sieht,dass die Vorhersagen dieser Rechnungen mindestens30% unter den Daten liegen. Die Diskrepanz zwischenDaten und Theorie wurde auch untersucht, wenn zu-sätzlich zum prompten Photon ein hadronischer ,,Jet“verlangt wird. Ein ,,Jet“ entspricht einem energetischenParton, das im Kollisionsprozess in ein enges Bündelvon Hadronen fragmentiert. Wirkungsquerschnitte, ge-wonnen für Ereignisse mit promptem Photon und ei-nem hadronischen Jet, sind ebenfalls in Abbildung 6gezeigt und mit den Rechnungen der QCD verglichen.Die Übereinstimmung zwischen Daten und Vorhersa-gen der Rechnungen ist hier besser, obwohl die Datenimmer noch etwas über den Vorhersagen liegen. Da indiesem Fall die so genannten hadronischen Korrekturenkleiner sind als im Falle der inklusiven prompten Pho-tonen, kann man vermuten, dass die Diskrepanzen iminklusiven Fall auf den noch nicht berechneten höherenOrdnungen jenseits von NLO beruhen.

In einer weiteren Veröffentlichung wurden Endzu-ständemit einemenergetischenneutralenπ-Meson(π0)untersucht. Da das π0 in zwei Photonen zerfällt, kann esim Flüssig-Argon Kalorimeter nachgewiesen und auf-grund des breiteren Schauerprofils statistisch gut vonden prompten Photonen (siehe oben) getrennt werden.Die Untersuchungen konzentrieren sich auf den Pha-

42

H1 Experiment

Abbildung 5: Messungen der Proton Strukturfunktion F2 mit Hilfe von QED Compton-Ereignissen (,,H1 QEDC“) verglichen mit früheren Messungen bei HERA sowie mit Mes-sungen aus ,,Fixed Target“ Experimenten. Die durchgezogene Kurve zeigt eine Parameteri-sierung der Strukturfunktion, die auf einer Verbindung der Regge-Theorie mit perturbativerQCD basiert.

senraumbereich nahe an der Richtung des ausgehendenProtons, die als ,,Vorwärts“-Richtung bezeichnet wird.Aufgrund des hohen Transversalimpulses des π0 kön-nen hier Störungsrechnungen in der QCD vorgenom-men werden. Interessant ist dabei, dass es im Bereichder Vorwärtsrichtung bei kleinen Werten von x nochkeine eindeutige theoretische Beschreibung gibt, unddieser daher als Testbereich für verschiedene Ansätzeder Rechnungen dienen kann. In einer früheren Studie(siehe Jahresbericht 1999) konnte schon gezeigt wer-den, dass die so genannte DGLAP-Approximation derParton-Kaskade, die sonst in einem sehr großen Be-reich von Q2 und x die Daten gut beschreibt, hier deut-

lich unter den Daten liegt. Allerdings gab es damalsnur Rechnungen in führender Ordnung. In der vorlie-genden Studie konnte die Daten-Statistik verdreifachtund Wirkungsquerschnitte als Funktion von mehrerenVariablen, z. B. des Transversalimpulses und der Pseu-dorapidität des π0, gemessen werden. Auch wurde jetztzum erstenmal die Energieverteilung des übrigen hadro-nischen Systems neben dem π0 bestimmt. Die Verglei-che mit neueren QCD-Rechnungen, nun auch in nächst-führender Ordnung, zeigen im Allgemeinen gute Über-einstimmung mit den Daten, ausgenommen für sol-che Modelle, die das ausgetauschte virtuelle Photonals strukturlos behandeln.

43

H1 Experiment

Abbildung 6: Wirkungsquerschnitte der Erzeugung von direkten Photonen in ep-Kollisionenals Funktion der Transversalenergie und der Pseudorapidität des Photons (a,b). In (c,d)sind die entsprechenden Wirkungsquerschnitte aufgetragen, wenn zusätzlich zum direkterzeugten Photon noch ein hadronischer Jet verlangt wird. QCD-Rechnungen in führender(LO) und nächst-führender (NLO) Ordnung sind mit den Daten verglichen.

44

H1 Experiment

Produktion von 2-Jet Ereignissenmit assoziiertem, führendem Neutron

Etwa 10% der Ereignisse in der tief-unelastischen ep-Streuung sind diffraktiver Natur. Bei solchen Ereig-nissen verliert das Proton nur wenig an Energie undbleibt entweder ,,intakt“ oder ,,dissoziiert“ in ein Sys-tem mit einer Masse von einigen GeV. Bleiben zu-dem die Quantenzahlen unverändert, spricht man von,,Pomeron“-Austausch. Diese Klasse von Ereignissenwurde bereits in vielen Studien bei HERA untersucht.

In einem Teil der Ereignisse gibt das Proton aber seineelektrische Ladung ab und verwandelt sich in ein Neu-tron, das in einem speziellen Kalorimeter nachgewie-sen wird, welches sich in Protonrichtung, etwa 100 mvom Hauptdetektor entfernt, befindet. Das vom Pro-ton ausgetauschte System trägt nun positive elektrischeLadung und man spricht von ,,Reggeon“-Austausch.Der wahrscheinlichste Kandidat hierfür ist ein gelade-nes Pion, und Modelle, die auf Pion-Austausch (OPE,One Pion Exchange) basieren, konnten in früheren Stu-dien erfolgreich zur Beschreibung dieser Reaktioneneingesetzt werden.

In einer Veröffentlichung wurden im Berichtsjahr sol-che Neutron-Ereignisse eingehender studiert, wobeiverlangt wurde, dass das hadronische System im Haupt-detektor zwei energetische Jets aufweist, so genannteDijet-Ereignisse. Die Energie der Jets dient als Skalafür den harten Streuprozess in den QCD-Rechnungen.Ereignisse, sowohl aus Photoproduktion als auch austief-unelastischer Streuung, wurden selektiert und Wir-kungsquerschnitte als Funktion von Q2, von Transver-salenergie und Pseudorapidität der Jets, als auch vonanderen kinematischen Variablen gemessen.

Vergleiche von verschiedenen QCD-Rechnungen mitden Daten bestätigen die früheren Resultate, nämlichdass auf Pion-Austausch basierende Modelle die Da-ten gut beschreiben. Dagegen liefern Modelle, die die-sen Pion-Austausch nicht beinhalten, im Allgemeineneine schlechtere Beschreibung. Zum erstenmal konntenauch QCD-Rechnungen in nächst-führender Ordnung(NLO) zum Vergleich herangezogen werden. Abbil-dung 7 zeigt, dass diese Rechnungen die Daten rechtgut beschreiben.

Des Weiteren wurden die Dijet-Daten mit führendemNeutron mit inklusiven Dijet-Daten verglichen. Da-

bei sollte das Verhältnis zwischen den jeweiligen Wir-kungsquerschnitten unabhängig von den kinematischenVariablen bleiben, wenn der grundlegende Mechanis-mus für die Jetproduktion in beiden Fällen der gleicheist. Die Daten unterstützen im Allgemeinen diese Hypo-these, mit einigen Ausnahmen. So steigt z. B. das Ver-hältnis mit zunehmendem Impulsanteil, mit dem dasausgetauschte virtuelle Photon an der Kollision teil-nimmt, an. Dies kann so interpretiert werden, dass beiNeutron-assoziierter Dijet-Produktion der Beitrag vonPhotonen, die vor der harten Streuung nicht in ein ha-dronisches System fluktuieren, sondern direkt an derWechselwirkung teilnehmen, eine größere Rolle spieltals im inklusiven Fall.

Physik schwerer Quarks

Erzeugung und Zerfall schwerer Quarks (Charm c undBeauty b) in unelastischer ep-Streuung bei HERA-Energien sind von herausragendem Interesse zur Erfor-schung der Protonstruktur sowie der Quantenchromo-dynamik. Der dominante Mechanismus der Erzeugungschwerer Quarks führt über die Fusion des virtuellenPhotons mit einem Gluon aus dem Proton zur Bil-dung eines Paares schwerer Quarks, d. h. γ∗g → ccoder bb. Die schweren Quarks bilden häufig mit leich-teren Quarks Charm- oder Beauty-Hadronen, d. h. Me-sonen oder Baryonen, die eine endliche Lebensdauerhaben, welche einer Zerfallslänge von 100–500 µmentspricht und folglich im zentralen Siliziumdetektor(CST) von H1 nachweisbar ist. In Abhängigkeit vonder Größe des durch das Photon übertragenen Vie-rerimpulses, Q2, kann man die schweren Quarks alsdem Proton zugehörig oder, bei kleinen Q2, als au-ßerhalb des Protons erzeugt betrachten. Die erhöhteLuminosität sowie die Siliziumdetektortechnik erlau-ben es, die Untersuchung schwerer Quarks mit demH1-Experiment wesentlich weiterzuentwickeln. DieserThematik dienten, mit unterschiedlichem Fokus, dreiPublikationen, die zu den herausragenden Arbeiten derCharm- und Beauty-Physik bei HERA zählen.

Die klassische Methode zum Nachweis von Charm-Teilchen bei HERA besteht in der Rekonstruktion desD∗-Mesons, das über den Zwischenzustand eines neu-tralen D0-Mesons in die Endzustandsteilchen Kππ zer-fällt. Da die Massen von D∗ und D0 nahezu gleich sind,

45

H1 Experiment

Abbildung 7: Wirkungsquerschnitte für die Photoproduktion von Dijet-Ereignissen mitassoziiertem, führendem Neutron als Funktion von mehreren kinematischen Variablen. DieDaten sind mit QCD-Rechnungen in führender (LO) und nächst-führender (NLO) Ordnungverglichen, wobei Unsicherheiten der Rechnungen als Bänder dargestellt sind.

ist eines der Pionen sehr langsam. In der experimentel-len Verteilung der Massendifferenz M(Kππ)−M(Kπ)

ist das D∗-Meson folglich als klar erkennbare Resonanzgut nachweisbar.

In einer der Publikationen wurde in Ereignissen mitauf diese Weise identifizierten D∗-Mesonen nach zu-

sätzlichen Protonen bzw. Anti-Protonen gesucht unddie invariante Masse des D∗p-Paares gebildet. Wie inAbbildung 8 gezeigt, wurde in den Daten ein gebunde-ner Zustand des D∗ mit einem (Anti-)Proton bei einerMasse von etwa 3100 MeV nachgewiesen. Das Inter-esse an diesem erstmalig beobachteten Zustand ergibtsich aus seiner Masse, der engen Breite sowie der exo-

46

H1 Experiment

Abbildung 8: Verteilung der invarianten MasseM(D∗ p) für entgegengesetzte Ladungen des D∗-Mesons und des (Anti)protons, für in tief-unelastischerStreuung registrierte Ereignisse. Der Untergrund wirddurch die Summe von Charm- (rot) und nicht-Charm-Anteilen (gelb) beschrieben. Bei 3.1 GeV ist eine reso-nante Struktur zu erkennen, die als Charm-Pentaquarkinterpretiert werden kann.

tischen Kombination von Teilchen: Im Quark-Modellkann man die D∗p-Resonanz als 5-Quark-Zustand, sogenanntes Pentaquark, bestehend aus zwei leichten Up-Quarks (u), zwei leichten Down-Quarks (d) sowie ei-nem schweren Anti-Charm-Quark (c), beschreiben. ImQuark-Modell bestehen Mesonen aus gebundenen Zu-ständen von Quarks und Antiquarks, wie z. B. das Pionπ+ (ud), und Baryonen aus 3 Quarks, wie z. B. dasProton p (uud).

Seit Jahren suchte man nach exotischen, gebundenenZuständen von mehr als 3 Quarks. Zunächst ohne Er-folg, bis im Jahr 2003 von mehreren Experimenten ge-bundene 5-Quark-Zustände bei einer Masse von etwa1530 MeV nachgewiesen wurden, die in ein Neutronund ein K0 zerfallen und daher einen uddus Zustandbilden, wobei s das Anti-Strange-Quark ist. Das Inter-esse an solchen Mehrquarkzuständen wurde erheblichduch das ,,Chiral Quark Soliton Model“ gefördert, indem 5 Quarks metastabile, gebundene Zustände bil-den können, was zu ganzen Multipletts von Strange-oder Charm-Pentaquarks führt, deren Mitglieder eineenge Breite und vorhersagbare Masse besitzen. Dieexperimentelle Evidenz beider Arten von Pentaquarksist bisher allerdings noch kontrovers. Der bei H1 be-

obachtete Zustand wurde in verschiedenen Datenperi-oden, unabhängigen Analysen und sowohl in Photo-produktion als auch in der tief-unelastischen Streuungkonsistent beobachtet und nach eingehender Prüfungpubliziert.

In einer weiteren Publikation wurde die Erzeugungvon D-Mesonen, D+, D0, Ds und D∗, eingehend un-tersucht, vgl. Abbildung 9. Die Häufigkeit für die Pro-duktion der D-Mesonen in ep-Streuung berechnet sichaus der Faltung der Wahrscheinlichkeit für die Erzeu-gung eines Charm-Quarks mit der Fragmentationsfunk-tion, die die Entstehung eines D-Mesons aus einemvirtuellen c-Quark beschreibt. Während die Charm-Quark-Produktion störungstheoretisch berechenbar ist,kann man die Fragmentationsfunktion nur phänome-nologisch darstellen. Die Messung einer Vielzahl vonD-Mesonen mit verschiedenem Quarkinhalt, sowie derVergleich mit Daten aus e+e− Experimenten und mitPhotoproduktionsdaten von ZEUS erlaubt es daher, zuuntersuchen, inwieweit deren Erzeugung vom Quarkin-halt und von der Art der Reaktion abhängt. Es zeigt sich,dass die Wahrscheinlichkeit der Heranziehung anderer,leichter Quarks zur Bildung von D-Mesonen im Rah-men der erzielten Genauigkeit unabhängig vom Reakti-onstyp ist. Das bedeutet, dass die Fragmentationsfunk-tion universell ist, unabhängig vom harten Streuprozessund auch von der Skala, bei der Charm-Teilchen erzeugtwerden.

Ebenso wie die D-Meson-Analyse machte die dritte Pu-blikation zu schweren Quarks Gebrauch von der cha-rakteristischen Lebensdauer der Charm- und Beauty-Teilchen. In einer erstmalig durchgeführten, inklu-siven Analyse der Zerfallslängen konnte der CST-Detektor dazu benutzt werden, Ereignisse mit Charm-und Beauty-Teilchen anzureichern und ihre relativenAnteile zu bestimmen, ohne explizite Rekonstruktioneinzelner D- oder B-Mesonen. Diese Methode erlaubte,die Anteile der schweren Quarks an der Protonstrukturzu messen, siehe Abbildung 10. Die Resultate bestä-tigten die Erwartungen in hervorragender Weise: fürdie Charm-Strukturfunktion Fc

2 stimmten sie gut mitden bisher aus D∗-Rekonstruktionen, sowohl von H1als auch von ZEUS extrapolierten Werten, überein.Die Strukturfunktion der Beauty-Quarks, Fb

2, wurdeerstmalig gemessen. Im erfassten kinematischen Be-reich großer Impulsüberträge Q2 und nicht zu kleinerPartonimpulsanteile x haben Beauty-Quarks nur etwa

47

H1 Experiment

Abbildung 9: Rekonstruktion der vier untersuchten D-Mesonzustände D+, D0, D+s und

D∗+. Die Signifikanz der Signale ist erhöht, da in der Messung der CST-Siliziumdetektorzur Anreicherung der Charm-Signale benutzt wurde.

3% Anteil an der Gesamtdichte. Dieses Ergebnis wirdrecht genau durch die Analyse der Skalenverletzun-gen der diese Dichte beschreibenden StrukturfunktionF2(x, Q2) in der QCD vorhergesagt (Abbildung 10). Die

genaue Messung der Beauty-Quarkdichte im Proton isteine herausragende Aufgabe, sowohl im Hinblick aufdie Ausarbeitung der QCD als auch in Vorbereitungkommender Experimente am LHC bei CERN.

48

H1 Experiment

Abbildung 10: Relativer Beitrag der Charm- und Beauty-Erzeugung zum Gesamtwirkungs-querschnitt als Funktion von x bei verschiedenen, hohen Werten von Q2. Die Charm-ZEUS-Daten wurden aus D∗-Analysen erhalten. Der Beauty-Anteil wurde erstmalig bestimmt. DieKurven sind absolute Vorhersagen einer NLO QCD-Analyse der Skalenverletzungen derStrukturfunktion F2.

Anti-Deuteron Produktion und Suchenach schweren geladenen Teilchen

Eine weitere Veröffentlichung beschäftigte sich mitder direkten Suche nach langlebigen, schweren gela-denen Teilchen, die bei der Kollision von Photonenund Protonen erzeugt werden. Die Analyse ist unab-hängig davon, ob es sich um bekannte oder um neu-artige Teilchen außerhalb des Standardmodells han-delt. Charakteristisch für solche Objekte ist ihr hoherspezifischer Energieverlust, der mit guter Genauigkeitin der zentralen Spurkammer gemessen wird. Im Fallvon negativ geladenen Teilchen wurde kein Kandi-dat schwerer als ein Anti-Deuteron – dem Kern vonAnti-Deuterium – und für positive Ladungen kein Teil-chen schwerer als ein Triton – dem Kern von Tri-tium – gefunden. Hieraus konnte eine obere Grenzevon 0.19 nb für den Produktionsquerschnitt ermitteltwerden.

Dagegen wurden unter den negativ geladenen Teil-chen 45 Anti-Deuteron Kandidaten beobachtet, die

aus einem Anti-Neutron und einem Anti-Proton be-stehen. Die Erzeugung von Anti-Deuteronen kann mitHilfe des so genannten Koaleszenz-Modells verstan-den werden. Im Rahmen dieses Modells ist die Wahr-scheinlichkeit, ein Anti-Deuteron zu produzieren, pro-portional zum Produkt der Einzelwahrscheinlichkeitenfür die Erzeugung eines Anti-Protons und eines Anti-Neutrons bei der Kollision. Die Proportionalitätskon-stante B2 ist dabei ein Maß für die Wahrscheinlich-keit, dass Anti-Proton und Anti-Neutron räumlich dichtbeieinander und mit kleiner relativer Geschwindigkeitzueinander erzeugt werden und damit für den inver-sen Radius des bei der Kollision entstehenden ,,Feu-erballs“. Der Vergleich der H1-Daten mit Resultaten,die in Proton-Proton- (pp), Proton-Nukleus- (pA) bzw.Nukleus-Nukleus- (AA) Kollisionen gewonnen wur-den, kann so interpretiert werden, dass die Größe desWechselwirkungsvolumens zum Zeitpunkt der Forma-tion von Nukleonen bei der Kollision von elementare-ren Objekten, wie Photon oder Proton, erheblich kleinerist als im Falle von Kollisionen schwerer Ionen. Ab-bildung 11 verdeutlicht, dass dieser Unterschied mitzunehmender Schwerpunktenergie wächst.

49

H1 Experiment

Abbildung 11: Der Parameter B2 in Abhängigkeit vonder Schwerpunktenergie für Kollisionen von schwerenIonen (offene Quadrate) und elementareren Teilchen(schwarze Punkte). B2 ist ein Maß für den inversenRadius des bei der Kollision entstehenden Feuerballs.Die Größe des Wechselwirkungsvolumens zum Zeit-punkt der Erzeugung von Nukleonen in der Kollisionvon elementareren Objekten, wie Photon oder Proton,ist erheblich kleiner als im Falle von Kollisionen schwe-rer Ionen. Diese Tendenz wächst mit zunehmenderSchwerpunktenergie.

Physik jenseits des Standardmodells

Obwohl es bisher kein etabliertes experimentelles Re-sultat gibt, das dem Standardmodell der Elementar-teilchenphysik widerspricht, gibt es verschiedene Hin-weise darauf, dass dieses Modell erweitert werdenmuss. Insofern ist die Suche nach Physik jenseits desStandardmodells bei jedem Vorstoß in einen höhe-ren Energiebereich, wie auch HERA ihn darstellt, vongrößter Bedeutung.

Im Berichtsjahr wurden fünf Veröffentlichungen publi-ziert, indenennachPhysik jenseitsdesStandardmodellsgesucht wurde. Eine dieser Veröffentlichungen bein-haltet eine generische, modellunabhängige Suche, dreibeziehen sich auf die Suche nach supersymmetrischenTeilchen und in einer weiteren werden magnetischeMonopole gesucht.

In bisherigen Suchen nach neuer Physik bei H1 wurdendie Messdaten derart analysiert, dass nach Merkmaleneines spezifischen neues Effektes (z. B. Existenz einesneuen Teilchens) gesucht wurde. Dagegen wurde inder im Folgenden besprochenen Veröffentlichung eineallgemeine Suche nach irgendeiner Abweichung vonden Erwartungen des Standardmodells durchgeführt.Diese Suche ist modellunabhängig und somit sensitivauf neue Physik, von der man möglicherweise heutenochkeinekonkretenVorstellungenhat.DaneuePhysikmit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zuerst imBereichho-her Teilchenenergien sichtbar wird, konzentrierte sichdiese ,,generische“ Suche auf Streuereignisse, in de-nen Teilchen (Elektronen, Myonen, Photonen, Jets undNeutrinos) mit Transversalimpulsen größer als 25 GeVnachgewiesen wurden. Dabei wurden alle Ereignisseklassifiziert, die wenigstens zwei dieser hochenergeti-schen Teilchen aufwiesen, und dann die Massen undtotalen transversalen Energien dieser Teilchensystemebestimmt. Für jeden möglichen Kanal (z. B. e-j-γ, d. h.Elektron + Jet + Photon) wurde die Anzahl der ge-messenen Ereignisse mit der Erwartung aus dem Stan-dardmodell verglichen. Abbildung 12 zeigt, dass für na-hezu alle erfassten Kanäle eine gute Übereinstimmungmit der Erwartung gegeben ist. Nur die Ereignisklasseµ-j-ν, mit Muon, Jet und Neutrino, zeigt eine größereAbweichung. Die Wahrscheinlichkeit, dass solch eineAbweichung als statistische Fluktuation der Erwartungdes Standardmodells eintritt, beträgt jedoch einige Pro-zent, d. h. sie ist nicht so signifikant, dass man die Ent-deckung eines neuen Effektes behaupten könnte. DerÜberschuss von Ereignissen dieser Topologie wurdeauch schon in früheren spezifischen Analysen beob-achtet (siehe Jahresberichte 2002 und 2003) und ist ei-nes der hochinteressanten Rätsel in den HERA-Daten.Die erwartete signifikante Erhöhung der Luminositätin der HERA II Periode sollte erlauben, die Frage derHerkunft dieser Ereignisse schlüssig zu beantworten.

Symmetrie ist in der Physik ein sehr erfolgreiches Prin-zip zum Verständnis von Zusammenhängen. Im Stan-

50

H1 Experiment

Abbildung 12: Allgemeine Suche nach Physik jen-seits des Standardmodells (SM). Ereigniszahlen für Da-ten (Messpunkte) und die Simulation (Histogramm) füralle untersuchten Reaktionskanäle (e = Elektron ; µ =Muon; j = Jet; ν = Neutrino; γ = Photon). Die Fehler-Bänder an der Erwartung beinhalten die Modellun-sicherheiten und die experimentellen systematischenFehler.

dardmodell gibt es bezüglich des Spins der TeilcheneineAsymmetrie:dieMaterieteilchen (QuarksundLep-tonen) sind Fermionen mit halbzahligem Spin, wo-hingegen die für die Wechselwirkungen verantwort-lichen Austauschteilchen Bosonen mit ganzzahligemSpin sind. Ein theoretisch sehr vielversprechendes Mo-dell, die Supersymmetrie, stellt eine neue Verbindungzwischen den Materieteilchen und den Eichbosonenher. Die Supersymmetrie postuliert für jedes uns heutebekannte Quark und Lepton einen supersymmetrischenPartner, Squark und Slepton, mit Spin 1 und umgekehrtzu jedem Eichboson einen Partner, Gaugino, mit halb-

zahligem Spin. Da diese supersymmetrischen Partnerbis heute nicht gefunden wurden, ist die Supersym-metrie sicherlich gebrochen und diese neuen Teilchenhaben hohe Massen. Theoretische Überlegungen zei-gen jedoch, dass einige supersymmetrische Teilchenunter Umständen im HERA energetisch zugänglichenBereich produziert werden könnten. Die neuen super-symmetrischen Teilchen werden durch eine neue Quan-tenzahl (R – Parität) mit R = −1 charakterisiert, woge-gen alle uns ,,bekannten“ Teilchen R = 1 besitzen. DieimFolgendenbesprochenenVeröffentlichungenzurSu-che nach supersymmetrischen Teilchen konzentrierensich auf Prozesse, in denen supersymmetrische Teil-chen einzeln produziert werden, und in denen somitdie R-Parität nicht erhalten ist.

In einer Veröffentlichung wurde nach Squarks gesucht,die in der Elektron-Quark-Fusion produziert werden(Elektron+Quark→Squark). Es wurde eine große An-zahl möglicher Zerfallskanäle des Squarks untersucht,sowohl solche, in denen die R-Parität auch im Zerfallverletzt ist, als auch solche, in denen am Ende der Zer-fallskaskade das leichteste supersymmetrische Teilchenauftritt, das dann den Detektor ungesehen verlässt unddadurch zu einer messbaren Verletzung der transversa-len Energiebilanz führt. In allen untersuchten Kanälenwurden Ereignisraten gesehen, die gut mit den Erwar-tungen des Standardmodells ohne supersymmetrischeErweiterung übereinstimmen. In Abbildung 13 ist dies

Abbildung 13: Spektrum der Elektron-Multijet-Masseverglichen mit der Erwartung des Standardmodells. Ge-strichelt eingezeichnet ist die Erwartung für ein Squarkder Masse 150 GeV in frei gewählter Normalisation.

51

H1 Experiment

exemplarisch für die Ereignisklasse Elektron+Multijetgezeigt. Aus der Nichtbeobachtung von Squarks kannman eine obere Grenze für deren Produktionswahr-scheinlichkeit bestimmen und damit Einschränkungender möglichen Parameter supersymmetrischer Modelleherleiten. Diese ergeben z. B., dass für eine Stärke derhier relevanten R-paritätsverletzenden supersymmetri-schenKopplungλ inder Größenordnungder elektroma-gnetischen Kopplungsstärke die Existenz von Squarksunterhalb einer Masse von 275 GeV ausgeschlossenwerden kann.

Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik gibtkeine Erklärung für die Massen der elementaren Teil-chen. Besonders das Top-Quark zeichnet sich durchseine extrem große Masse von 178 GeV aus, eine bis-lang nicht verstandene Tatsache. Auch in supersymme-trischen Modellen fällt dem Partner des Top, dem Top-Squark oder Stop, möglicherweise eine besondere Rollezu. In der zweiten Veröffentlichung zur Supersymme-trie wird nach einem speziellen Zerfallskanal, dem bo-sonischen Zerfall des Stop gesucht. Das in der Fusionvon Positron und Down-Quark produzierte Stop zerfälltdabei in ein Beauty-Squark und ein reelles W-Boson.Wenn das W-Boson in Lepton und Neutrino zerfällt,haben diese Ereignisse die Topologie der oben schonerwähnten, bei H1 gefundenen Ereignisse mit einemLepton, einem Jet und fehlendem Transversalimpuls. Inder speziell für die Stop-Suche durchgeführten Analysewurden diese Ereignisse auch wiedergefunden, jedochkonnte im hadronischen Zerfall des W kein äquivalentesSignal etabliert werden. Somit ist diese Interpretationder Ereignisse nicht wahrscheinlich. Aus der Nichtbe-obachtung eines signifikanten Signals kann eine Massedes Top-Squarks unterhalb von 260 GeV ausgeschlos-sen werden, sofern das Top-Squark mit der Stärke derelektromagnetischen Wechselwirkung koppelt.

In der dritten Veröffentlichung zur Supersymmetriewurde nicht nach Squarks sondern nach supersymmetri-schen Partnern der Eichbosonen gesucht. Im untersuch-ten Kanal produziert das einlaufende Elektron unterAustausch eines Selektrons, des supersymmetrischenPartners des Elektrons, mit einem Quark des Protonsein Neutralino und ein auslaufendes Quark, das als Teil-chenjet nachgewiesen wird. Das Neutralino zerfällt indiesem Szenario dann in ein Photon und ein Gravitino(supersymmetrischer Partner des Gravitons), das denDetektor unbeobachtet verlässt. Die gesuchte Ereignis-

Abbildung 14: Ausschlussbereiche (dunkle Flächen)für die Masse des Neutralinos und die Massendifferenzzwischen Neutralino (χ) und Selektron als Funktionder Stärke λ der R-paritätsverletzenden Kopplung.

topologie besteht daher aus einem Jet, einem Photonund einer dem Gravitino zugeschriebenen Unbalancedes Transversalimpulses. Nach der Selektion bleibt inden Daten nur ein einziges Ereignis übrig, in guterÜbereinstimmung mit der Erwartung des Standardmo-dells, die durch radiative Charged-Current-Ereignissegegeben ist. Aus der Nichtbeobachtung eines signifi-kantenSignalskönnen imRahmenspezifischerModelleder Supersymmetrie Grenzen für die Masse des Neu-tralinos und die Massendifferenz zwischen Neutralinound Selektron gewonnen werden. Diese Grenzen, diein Abbildung 14 gezeigt sind, sind unabhängig vomSquarksektor des Modells. Unter der Annnahme einerKopplungsstärke von λ = 1 können untere Grenzen fürdie Masse des Selektrons von bis zu 112 GeV und desNeutralinos von bis zu 164 GeV erreicht werden.

Die letzte der fünf Veröffentlichungen zur Suche nachPhysik jenseits des Standardmodells beinhaltet dieSuche nach magnetischen Monopolen. Dirac zeigte1931, dass magnetische Monopole eine Erklärung derQuantisierung der elektrischen Ladung liefern. Bis-her hatten alle Suchen nach diesen Teilchen nega-tive Resultate. H1 ist das erste Experiment, in dem

52

H1 Experiment

nach der Produktion von magnetischen Monopolen inhochenergetischer Elektron-Proton-Streuung gesuchtwird. In diesen Streuprozessen produzierte Mono-pole würden aufgrund ihrer extrem hohen Ionisati-onsdichte mit großer Wahrscheinlichkeit im Materialdes den Wechselwirkungspunkt umgebenden Strahl-rohres permanent steckenbleiben. Teile des in den Jah-ren 1995–1997 verwendeten Strahlrohres wurden ineinem SQUID (Superconducting Quantum Mechani-cal Interference Device) auf das Vorhandensein ma-gnetischer Monopole hin untersucht. Während beimDurchgang eines Dipols die beiden Pole genau gleichgroße, jedoch entgegengesetzte Ströme in der Leiter-schleife induzieren, die sich nach dem Durchgang dahervollständig kompensieren, würde beim Passieren einesMonopols ein permanenter Strom in der hochempfind-lichen supraleitenden Leiterschleife induziert. Die Un-tersuchung vieler einzelner Teilstücke des Strahlrohrsergab keinen Hinweis auf das Vorhandensein eines ma-gnetischen Monopols. Dieses Nullresultat erlaubt es,die in Abbildung 15 dargestellten oberen Grenzen fürdie Produktionsrate von Monopolen als Funktion derMonopolmasse und Monopolstärke zu bestimmen.

Abbildung 15: Obere Grenze des Wirkungsquerschnittsfür die Produktion eines magnetischen Monopols alsFunktion der Monopolmasse für Monopolstärken voneiner bis zu 6 Diracmonopoleinheiten (gD).

53

ZEUS Experiment

Abbildung 16: Ereignis mit einem rekonstruierten sekundären Vertex im ZEUS Mikro-vertexdetektor. Das Ereignis ist ein Kandidat für den Zerfall eines Beauty-Quarks.

54

ZEUS Experiment

ZEUS Experiment

Beteiligte Institute: Univ. of the Aegean Chios, Inst. Phys. Technol. Almaty, NIKHEF und Univ. Amsterdam, ANLArgonne, Humboldt Univ. Berlin, Andrews Univ. Berrien Springs, Univ. und INFN Bologna, Univ. Bonn, Univ.Bristol, RAL Chilton, Ohio State Univ. Columbus, Univ. della Calabria und INFN Cosenza, Inst. of Nucl. Physicsund Jagellonian Univ. Cracow, AGH Univ. Cracow, Univ. und INFN Firenze, Univ. Freiburg, Univ. Glasgow,DESY und Univ. Hamburg, Columbia Univ. Irvington, FZJ Jülich, Chonnam Nat. Univ. Kwangju, Imperial Coll.und Univ. Coll. London, Univ. Cathol. de Louvain, Univ. of Wisconsin Madison, Univ. Autonoma Madrid, McGillUniv. Montreal, Engin. Phys. Inst. und State Univ. Moscow, MPI München, Yale Univ. New Haven, York Univ.North York, Oxford Univ., Univ. und INFN Padova, Weizmann Inst. Rehovot, Univ. La Sapienza und INFN Roma,Polytech. Univ. Sagamihara, Univ. of California Santa Cruz, Ewha Womans Univ. Seoul, Kyungpook Nat. Univ.Taegu, Tel Aviv Univ., Inst. of Technol. Tokyo, Metropolitan Univ. und Univ. Tokyo, Univ. und INFN Torino,Univ. del Piemonte Orientale Novara, Univ. Toronto, KEK Tsukuba, Pennsylvania State Univ. University Park,Inst. for Nucl. Stud. und Univ. Warsaw, Meiji Gakuin Univ. Yokohama, DESY Zeuthen.

Sprecher: R. Yoshida, Argonne Natl. Lab, USA

Von Januar bis Mitte August lieferte HERA sehrerfolgreich Luminosität mit Positronen. Im Juniwurden mit etwa 100 mA Protonstrom und fast50 mA Positronenstrom die Designwerte erreicht.Die Polarisation erreichte regelmäßig Werte über40%. Nach der Reparatur eines Vakuumlecks naheder H1 Wechselwirkungszone Ende Juni musste bisMitte August der Strom auf 90 mA für den Proto-nenstrahl und etwa 40 mA für den Positronstrahlbegrenzt bleiben um Strahlenschäden am H1 De-tektor zu vermeiden. Von 78 pb−1 die HERA ge-liefert hat wurden 42 pb−1 von ZEUS aufgezeich-net. Die Verluste lagen hauptsächlich am hohenProtonuntergrund von HERA und an Instabilitä-ten des Datennahmesystems. Beide Probleme wur-den im Juni gelöst. Mitte August begann eine etwa8 wöchige Betriebsunterbrechung, in der bei ZEUSlediglich kleinere Wartungs- und Reparaturarbei-ten durchgeführt wurden. Nach dieser Unterbre-chung wurde HERA auf Elektronen umgestellt. SeitAnfang Dezember produziert HERA routinemä-ßig Luminosität mit Elektronen. Die Strahlströmesind noch begrenzt, da nach umfangreichen Um-bauarbeiten in der Wechselwirkungsregion von H1,

das Vakuum dort konditioniert werden muss. Diespezifische Luminosität ist mit Werten von über2×1030 cm−2 s−1 mA−2 höher als der Designwert,damit werden trotz begrenzter Ströme hohe Lumi-nositäten erreicht.

Für die Analyse beginnen die neuen, seit 2003 ge-nommen Daten, zunehmend wichtig zu werden. Sowurden im Sommer vier Konferenzpapiere mit Ana-lysen der neuen Daten zur Internationalen Hoch-energiephysik Konferenz (ICHEP) in Peking ge-schickt. Darin werden erste Messungen des gela-denen Stromes mit polarisierten Positronen, sowieMessungen schwerer Quarks mit dem Silizium-Mikrovertexdetektor beschrieben. Darüberhinaushat ZEUS neun weitere Analysen mit den bis zumJahr 2000 genommenen Daten veröffentlicht.

ZEUS Betrieb

HERA lieferte von Beginn des Jahres an regelmäßigLuminosität. Da im Shutdown des Vorjahres umfangrei-

55

ZEUS Experiment

che Arbeiten an den Wechselwirkungszonen der Expe-rimente durchgeführt worden waren, wurden die Strahl-ströme langsam gesteigert, um das Vakuum zu konditio-nieren. Die in der Nähe des Wechselwirkungspunktesgelegenen Absorber für reflektierte Synchrotronstrah-lung waren im Shutdown 2003 modifiziert worden. Seit-dem spielt reflektierte Synchrotronstrahlung keine si-gnifikante Rolle mehr beim Untergrund in ZEUS. DasHauptproblem für eine effiziente Datennahme war Un-tergrund vom Protonstrahl. Häufige, kurze und sehrhohe Spitzen im Protonuntergrund führten regelmäßigzur Abschaltung der Hochspannung in der zentralenDriftkammer. In der ersten Hälfte des Jahres mussteder Datennahmebetrieb wegen dieser Spitzen häufigfür mehrere Stunden unterbrochen werden. Im Juni wa-ren alle technischen Probleme im Protonspeicherringsoweit unter Kontrolle gebracht, dass die Datennahmemit Strahlströmen von 100 mA Protonen auf fast 50 mAPositronen möglich wurde. Mitte Juni führte ein Va-kuumleck in der Nähe der H1 Wechselwirkungzone zueiner etwa einwöchigen Betriebsunterbrechung, in derumfangreiche Reparaturen an der Strahlführung durch-geführt wurden. In der Folge musste der Strahlstromauf etwa 90 mA Protonen und etwa 40 mA Positronenbegrenzt bleiben, da sonst die Strahlrestgaswechselwir-kungen zu Beschädigungen des H1 Detektors geführthätten. Bis zur Betriebsunterbrechung im Sommer hatHERA 78 pb−1 geliefert, von denen 45 pb−1 mit rechts-händig und 33 pb−1 mit linkshändig polarisierten Po-sitronen produziert wurden. Davon hat ZEUS 42 pb−1

aufgezeichnet (25 pb−1 rechtshändig und 17 pb−1 links-händig polarisiert). Neben den Untergrundproblemenhaben auch einige Instabilitäten des Datennahmesys-tems zu den Verlusten beigetragen. Im Juni war dasDatennahmesystem soweit stabilisiert, dass die Effizi-enz der Datennahme wieder mit den besten Werten desJahres 2000 vergleichbar war.

Am 16. August begann eine achtwöchige Betriebsun-terbrechung, die bei ZEUS für kleinere Reparaturensowie für Wartungsarbeiten benutzt wurden.

Während der Datennahme zeigte der supraleitende So-lenoid Temperaturschwankungen, die gelegentlich zurAbschaltungführten. ImJuniwurdeentdeckt,dassdieseTemperaturschwankungen mit dem Ein- und Ausschal-ten der Niederspannungsversorgung des Straw-Tube-Trackers (STT) korreliert sind. Der STT wurde ur-sprünglich nur während der Datennahme eingeschaltet,

da trotz Kühlung in einigen Teilen des Detektors hoheTemperaturen beobachtet worden waren. Nach Entde-ckung der Korrelation wurde der STT eingeschaltetgelassen. Der Solenoid lief daraufhin stabil, allerdingsmit einem relativ hohen Heliumverbrauch. Während derWartungsperiode wurde der Solenoid aufgewärmt undes stellte sich heraus, dass sich während des Ein- undAusschaltens des STT das Isoliervakuum des Solenoi-den kurzzeitig stark verschlechtert. Genauere Untersu-chungen zeigten, dass eine Dichtung des Solenoiden,die in der Nähe des STT liegt, vorübergehend undichtwird, solange der STT nicht im thermischen Gleichge-wicht ist. Offenbar führen Temperaturänderungen amFrustum, an dem der Solenoid hängt, zu mechanischenSpannungen am Flansch des Magneten, der die Dich-tung enthält. Dieses temporäre Leck erklärt die Tempe-raturschwankungen während des Betriebes. Aus Zeit-gründen war eine Reparatur innerhalb der laufendenBetriebsunterbrechung nicht möglich. Um einen sta-bilen Betrieb des Magneten zu gewährleisten und dieGefahr eines permanenten Lecks so gering wie möglichzu halten, wurde beschlossen, den STT zunächst nichtwieder in Betrieb zu nehmen. Mit der Planung einermöglichen Reparatur wurde sofort begonnen, um siewährend der Betriebsunterbrechung im Sommer 2005durchführen zu können. Jeder Zugang zur Elektronikdes Vorwärtsdetektors sowie zum Frustum und der be-troffenen Dichtung des Solenoiden erfordert den Aus-bau des gesamten Vorwärtsdetektors. Um die Repara-turzeit zu minimieren und ein Belüften des Strahlrohreszu vermeiden, ist geplant eine Vorrichtung zu bauen, diees erlauben wird, den Vorwärtsdetektor über das Strahl-rohr und den ersten Magneten nach vorne aus dem De-tektor zu ziehen und in dieser Position die notwendigenReparaturen vorzunehmen.

Am 5.11.2004 begann HERA mit Elektronenbetrieb,nachdem der Beschleuniger zunächst mit Positronenin Betrieb genommen und dann auf Elektronen umge-stellt worden war. Seit dem 5.12. liefert HERA regelmä-ßig Luminosität mit langsam steigenden Strahlströmen.Die Strahlströme sind noch begrenzt, da nach umfang-reichen Umbauarbeiten in der Wechselwirkungsregionvon H1, das Vakuum dort konditioniert werden muss.Die spezifische Luminosität ist mit Werten von über2×1030 cm−2 s−1 mA−2 höher als der Designwert. Da-mit werden trotz begrenzter Ströme hohe Luminositätenerreicht. Der Detektor, Trigger und Datennahme laufenstabil. Die Effizienz der Datennahme sowie die Daten-

56

ZEUS Experiment

Abbildung 17: Anlauf der Grid-basierten Monte Carlo-Produktion bei ZEUS im November2004. Gezeigt sind die integrierten Ereignisraten, farblich differenziert nach den einzelnenProduktionsstätten in Deutschland (DESY und Univ. Hamburg), Großbritannien (UCL, RALund Scotgrid), Italien (INFN) und Kanada (Toronto).

qualität sind sehr gut. Die Kammerströme sind weit vonjeder Begrenzung entfernt und die Untergrundsituationlässt sicher erwarten, dass ZEUS in der Lage ist auchbei höchsten Strahlströmen problemlos zu messen.

ZEUS Datenverarbeitung

Die Rohdaten der bis August andauernden e+p-Runperiode wurden zunächst zeitnah auf der neuenRekonstruktionsfarm mit 70 Prozessoren von 3 GHzTaktfrequenz rekonstruiert. Nach dem Ende des Po-sitronenbetriebs wurden die Daten mit erheblichen Ver-besserungen in der Rekonstruktionssoftware sowie imVertexdetektor-Alignment innerhalb eines Monats re-prozessiert, wobei eine maximale Produktionsrate von3.2 Millionen Ereignissen pro Tag erreicht wurde. DieLeistungdeszentralenAnalysesystemsZARAHkonnte

ebenfalls weiter gesteigert werden: im Laufe des Jahres2004 wurden rund 630 000 Analysejobs gerechnet.

Im Bereich der Monte Carlo Simulation sind die An-forderungen an die Rechenleistung durch die größereKomplexität der HERA II Ereignisse erheblich gestie-gen. Aus diesem Grunde war bereits im Herbst 2003das ,,ZEUS Grid Projekt“ gestartet worden, in dessenRahmen das ZEUS Produktionssystem auf die Erfor-dernisse des modernen ,,Grid-Computings“ umgestelltwurde. Diese Arbeit wurde in enger Zusammenarbeitmit der DESY IT-Gruppe durchgeführt. Im Novem-ber 2004 lief erstmals die automatisierte Produktionauf dem Grid an (Abb. 17), wobei auf Anhieb täg-liche Produktionsraten von 1 Million Ereignissen er-reicht und überschritten wurden. Zur Zeit sind demZEUS-Produktionssystemweltweit 19Grid-Cluster an-geschlossen, die sich an Instituten in Großbritannien,Italien, Kanada und Deutschland befinden.

57

ZEUS Experiment

Physikalische Ergebnisse

Im Berichtszeitraum wurden die ersten Resultate basie-rend auf den in den Jahren 2003 und 2004 aufgezeich-neten Positron-Proton Kollisionen auf internationalenKonferenzen vorgestellt. Diese Daten entsprechen etwaeinem Drittel des Datensatzes der Jahre 1994–2000.Der größte Teil der neuen Daten wurde mit longitu-dinal polarisiertem Positronstrahl gewonnen und zwaretwa jeweils zur Hälfte links- beziehungsweise rechts-händig. Außerdem ermöglichen die zusätzlich im Jahr2000 installierten Komponenten des ZEUS Detektors,der Mikrovertexdetektor und der Straw-Tube-Tracker,entscheidende Verbesserungen bei Spur- und Vertex-rekonstruktion. Diese Veränderungen verlangen aberandererseits umfangreiche systematische Studien be-vor sie ausreichend verstanden sind, um sie in phy-sikalischen Publikationen verwenden zu können. Wirdiskutieren hier zunächst einige dieser vorläufigen Er-gebnisse, wie sie als sogenannte ,,Preliminary Results“auf internationalen Fachtagungen vorgestellt wordensind.

Im Übrigen kommt die Analyse der HERA I Daten derJahre 1994–2000 allmählich zum Abschluss. Hier do-minieren nun jene Untersuchungen, die sehr umfangrei-che Studien der systematischen Messfehler erfordern.In diesem Bericht stellen wir einen Querschnitt dieserErgebnisse vor. Schließlich geben wir einen Ausblickauf die für diese Resultate zu erwartenden Verbesse-rungen in den kommenden Jahren.

Verletzung der Parität in der schwachenWechselwirkung

Seit den theoretischen Arbeiten von Lee und Yang undden Experimenten von C.S. Wu in den späten 50er Jah-ren wissen wir, dass die schwache Kraft, die zum Bei-spiel für den radioaktiven Betazerfall verantwortlichist, die Symmetrie gegenüber Raumspiegelungen ma-ximal verletzt. Das heißt, die schwache Kraft koppeltjeweils nur an linkshändige Teilchen, bzw. rechsthän-dige Antiteilchen. Die Natur kann somit eindeutig linksund rechts unterscheiden. Die Ereignisse des gelade-nen Stromes bei HERA unterliegen denselben Regeln.Die im Rahmen des HERA Upgrade eingebauten Spin-rotatoren ermöglichen es, einen wohldefinierten lon-

gitudinalen Spinzustand des Positron- bzw. Elektron-strahls einzustellen und die Paritätsverletzung genauzu vermessen. Durch Einstellen des bevorzugten oderdes unterdrückten longitudinalen Spinzustands (manbezeichnet diesen auch als Helizität) können wir dieschwache Wechselwirkung verstärken oder abschwä-chen. Wenn der Strahl vollständig polarisiert wäre,sollte man die schwache Wechselwirkung sogar voll-ständig aus- bzw. einschalten können. Abweichungenvon diesem erwarteten Verhalten könnten Hinweise aufdie Existenz bisher unbekannter schwerer W Bosonenmit rechtshändiger Kopplung liefern.

Für diese Analysen stehen aus den Jahren 2003 und2004 Daten mit einer integrierten Luminosität vonetwa 40 pb−1 zur Verfügung. Diese Daten sind etwazur Hälfte links- beziehungsweise rechtshändig polari-siert. Der Grad der Polarisation liegt bei durchschnitt-lich 31%. Mit dieser Datenmenge erwartet man nochkeine Empfindlichkeit für Phänomene außerhalb desStandardmodells der Teilchenphysik. Diese Analysendienen jedoch dazu, die Methode zu testen und zuetablieren.

Abbildung 18: Der totale Wirkungsquerschnitt für Er-eignisse des geladenen Stromes in tiefunelastischene+ p Kollisionen als Funktion der longitudinalen Po-larisation des Positronenstrahls. Die durchgezogeneschwarze Linie zeigt die Erwartung des Standardmo-dells der Teilchenphysik.

58

ZEUS Experiment

Die vorläufigen Ergebnisse dieser Messungen sind inAbbildung 18 dargestellt. Im Einzelnen sind die WertedesWirkungsquerschnitts fürgeladeneStromereignisseals Funktion des durchschnittlichen Polarisationsgra-des aufgetragen. Die Punkte bei Polaristionsgrad P = 0stammen aus den Messungen mit unpolarisierten Lep-tonen bei HERA I. Sowohl die vorläufigen Ergebnissevon ZEUS als auch die von H1 sind zu sehen. Eine li-neare Extrapolation der Ergebnisse zu P = −1, d. h.zu vollständig linkshändiger Polarisation (in der Abbil-dung als Gerade dargestellt) zeigt in der Tat, dass dortder Wirkungsquerschnitt nahezu null ist. Das bedeutet,dass die schwache Wechselwirkung nicht an linkshän-dige Antiteilchen koppelt. Diese Darstellung demons-triert eindrucksvoll das Potenzial von HERA bei vol-ler Luminosität. Allerdings ist zum jetzigen Zeitpunktdie Aussage noch mit einem recht großen statistischenFehler verbunden.

Identifikation schwerer Quarks durchMessung des Stoßparameters

Aus den Produktionsraten der schweren Quarks,Charm (c) und Beauty (b), bei HERA lassen sich wich-tige Einblicke in Mechanismen der starken Wechsel-wirkung gewinnen. Diese wird, so glauben wir, von derQuantenchromodynamik (QCD) beschrieben. Die ma-thematische Komplexität der QCD erlaubt allerdingsnur wenige präzise Vorhersagen. Die Vorhersagen derProduktionsraten für c und b sollten jedoch, aufgrundihrer vergleichsweise großen Massen, verlässlich sein.Diese Vorhersagen zu überprüfen, ist daher Teil des Pro-gramms des Studiums der starken Kraft bei HERA. DesWeiteren sind diese Produktionsraten eng mit den Par-tondichten im Proton verknüpft. Ein detailliertes Ver-ständnis dieser Raten sollte daher auch das Wissen umdie Struktur von Hadronen wesentlich voranbringen.

Schwere Quarks können auf unterschiedliche Weiseidentifiziert werden. Eine bewährte Standardmethodezum Indentifizieren von c-Quarks verwendet die Zer-fallskette über ein D-Meson, das ein c-Quark enthält.Bei b-Quarks bietet sich dagegen die hohe Masse vonca. 4 GeV als Unterscheidungsmerkmal an. Hierzu be-trachtet man die Verteilung des Transversalimpulses inJets, die als Kandidaten für den Zerfall eines schwe-ren Quarks in Betracht kommen. Diese Verteilung ist

bei b-Quarks zu sehr viel höheren Werten verschobenals bei leichteren Quarks wie c, u, d und s. DieseVerschiebung erlaubt eine statistische Trennung derb-Quarks.

Eine andere vielversprechende Methode macht sich dielange Lebensdauer der schweren Quarks zu Nutze. Da-bei versucht man den makroskopischen StoßparameterdesQuarks imDetektor zu rekonstruieren.Für b-Quarksliegt dieser bei 500 µm. Bei c-Quarks sind es um zwi-schen 100 und 300 µm. Mithilfe des ZEUS Mikrover-texdetektors, der speziell dafür entworfen und gebautwurde, kann diese Methode nun zum ersten Mal beiZEUS angewendet werden. Abbildung 16 zeigt ein Er-eignis im ZEUS Mikrovertexdetektor mit einem sekun-dären Vertex, der vom Zerfall eines schweren Quarksstammenkönnte.FürdieseMessungmussallerdingsdiePosition des ZEUS Mikrovertexdetektors relativ zumzentralen Spurdetektor von ZEUS mit hoher Genauig-keit bestimmt und die Ausrichtung aller Messebenenim Innern errechnet werden. Dieses sogenannte ,,Ali-gnment“ verlangt viel Sorgfalt und Zeit und hat dieendgültige Präzision noch nicht erreicht. Die Präzisionist jedoch für erste Untersuchungen ausreichend. Zweidieser vorläufigen Messungen werden im Folgendenbeschrieben.

Die erste Messung betrifft die Verbesserung der Identi-fikation von geladenen D± Mesonen. Zunächst werdenin guten Positron-Proton Ereignissen ein Kaon- undzwei gegensätzlich geladene Pionkandidaten kombi-niert. Dann wird für diejenigen Kombinationen, de-ren Massen mit der eines geladenen D± Mesons ver-träglich sind, die Vertexrekonstruktion wiederholt undüberprüft, ob sich die rekonstruierten Spuren der dreiZerfallsprodukte des geladenen D± zu einem, vom Pri-märvertex des Ereignisses wohl separierten sekundärenVertex, kombinieren lassen. In Abbildung 19 ist die Si-gnifikanz des Abstandes dieser Sekundärvertices vomPrimärvertex aufgetragen. Die Signifikanz ist der Quo-tient aus gemessenem Abstand und dem erwartetetenFehler der Messung. Diese Größe trägt außerdem einVorzeichen, und zwar positiv, wenn der Sekundärver-tex auf der richtigen Seite des Primärvertex, also inFlugrichtung des rekonstruierten D± liegt. Fällt derSekundärvertex in die entgegengesetzte Hemisphäredes Ereignisses, dann ist die Signifikanz negativ. Nega-tive Signifikanzen kommen durch das begrenzte Auf-lösungsvermögen des Detektors zustande: liegt der Se-

59

ZEUS Experiment

Abbildung 19: Verteilung der Signifikanz des transver-salen Abstandes des Sekundärvertex vom Primärvertexfür Ereignisse mit rekonstruierten D± Kandidaten.

kundärvertex zu nahe am Primärvertex, dann kann derDetektor die Vertices nicht wirklich trennen und der Se-kundärvertex wird in 50% der Fälle auf der ,,falschen“Seite des Primärvertex rekonstruiert. Dieser Effekt istallerdings für die Extraktion der wahren Abstandsver-teilung von großem Nutzen. Man verwendet nämlichden negativen Teil der Verteilung, um den entsprechen-den Anteil im positiven Teil der Verteilung abzuschät-zen und entsprechend abzuziehen. Das was nach die-ser statistischen Subtraktion übrig bleibt, ist der Anteilder Vertices, die einen echten messbaren Abstand vomPrimärvertex haben.

Abbildung 20 zeigt das Ergebnis dieser Messung. Mansieht die Verteilung der invarianten Masse der D± Kan-didaten nach der oben beschriebenen statistischen Sub-traktion. Zum Vergleich ist, klein dargestellt, dieselbeVerteilung ohne Anwendung der Sekundärvertexmes-sung zu sehen. Die Sekundärvertexmethode liefert eingutes Signal zu Untergrund Verhältnis, während ohnediese Methode, siehe kleines Bild, praktisch kein Signalzu erkennen ist.

Abbildung 20: Invariante Masse der D± Kandida-ten nach Subtraktion des negativen Anteils der Signi-fikanzverteilung des Sekundärvertexabstands für Sig-nifikanzen L

σ>6 . Zum Vergleich, klein gezeigt, ist dieentsprechende Massenverteilung dargestellt ohne dieVerwendung des Vertexabstands.

Die zweite Messung, die hier beschrieben werden soll,befasst sich mit der Bestimmung von b-Quarks in Pho-toproduktionsereignissen.Zunächst wurdeeineVoraus-wahl von Ereignissen mit zwei Teilchenjets mit großemTransversalimpuls getroffen, wobei einer der Teilchen-jets ein Myon enthält. Das Myon ist dabei ein Hinweisauf einen semileptonischen Zefall eines b-Quarks in einc-Quark. Aufgrund der großen Masse des b-Quarks er-wartet man in solchen Ereignissen, dass, im Vergleichzu leichteren Quarks, der Transversalimpuls des My-ons relativ zum assoziierten Jet, prel

T , zu hohen Wertenverschoben ist. Das erlaubt eine statistische Separationder b-Quarks von den leichteren Quarks.

Auch hier kann man die Messgenauigkeit des Mikro-vertexdetektors zur Anwendung bringen. Bei dieserMessung wird allerdings, anders als bei der zuvor be-schriebenen, kein Sekundärvertex rekonstruiert. Man

60

ZEUS Experiment

Abbildung 21: Verteilung des Stoßparameters δ vonmit Jets assoziierten Myonen in Photoproduktionser-eignissen nach Subtraktion des negativen Anteils derSignifikanzverteilung. Die Punkte sind die vorläufigenMessdaten von ZEUS, das offene Histogramm zeigtdie Erwartung für c- und b-Quark-Produktion und dasschraffierte Histogramm zeigt die Erwartung für denb-Anteil.

verwendet hier den gemessenen Stoßparameter des as-soziierten Myons, das heißt den transversalen Abstanddes Perihels der Myonspur (der Punkt auf der Spurmit dem geringsten Abstand zum HERA Strahl). Die-ser Abstand wird wiederum, wie zuvor beschrieben,in Form einer Signifikanz mit einem Vorzeichen dar-gestellt, wobei der negative Anteil der Verteilung dieAbschätzung der Detektorauflösung ermöglicht.

Die Punkte in Abbildung 21 zeigen die Verteilungdes Stoßparameters des assoziierten Myons nach An-wendung der statistischen Subtraktion im Bereich bis0.1 cm. Ebenfalls dargestellt sind die Erwartungenfür c und b (offenes Histogramm) und für b alleine(schraffiertes Histogramm). Allerdings sind die rela-tiven Anteile von c und b aus der klassischen prel

T -Methode entnommen, da die noch relativ großen Fehlerder Stoßparametermethode keine zuverlässige Extrak-tion dieser Anteile erlauben. Es handelt sich somit hierum keine eigenständige Messung, sondern lediglich umeine Überprüfung der Konsistenz.

In der Zukunft wird die Qualität dieser Ergebnissenoch stark gesteigert werden, insbesondere wenn dievolle Präzision des Mikrovertexdetektors durch eine

entsprechende Kalibration vollständig ausgenutzt wer-den kann. Die Ergebnisse demonstrieren aber schonjetzt eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit dieser Erwei-terung des ZEUS Detektors.

Prompte Photonen

Obwohl die QCD, die Theorie der starken Kraft, seitnun 25 Jahren etabliert ist, sind bisher nur sehr wenigeexakte Vorhersagen bekannt. Insbesondere das Phäno-men des ,,Confinement“, das heißt die Tatsache, dasswir in der Natur keine freien Quarks und Gluonen be-obachten, entzieht sich weiterhin einer quantitativenBeschreibung. In der Praxis bedeutet das, dass wirVorhersagen für die elementaren Reaktionen, in denenQuarks und Gluonen erzeugt werden, nur mit Messun-gen von Hadronen bzw. Teilchenjets überprüfen kön-nen. Für den Übergang von Quarks und Gluonen zuHadronen gibt es eine Vielzahl verschiedener phäno-menologischer Modelle. In Abhängigkeit vom unter-suchten physikalischen Prozess sagen diese Modelleunterschiedlich große Korrekturen für die Hadronisa-tion, also den Übergang von Quarks zu Hadronen, vor-aus. Ihre Vorhersagen sind in sorgfältiger Kleinarbeitüber die Jahre immer weiter verbessert worden, so dassman daraus für viele Messungen einigermaßen verläss-liche Korrekturen errechnen kann. Einen quantitativenZugang zum Phänomen der Hadronisation gewinnt mandadurch aber leider nur sehr unzureichend.

Eine Möglichkeit, sozusagen durch eine Hintertür hin-durch, die Eigenschaften der primären Quarks zu unter-suchen, bietet allerdings ein Prozess, der im Berichts-jahr zum ersten Mal bei HERA nachgewiesen wer-den konnte. Dabei handelt es sich um die Abstrah-lung eines hochenergetischen Photons direkt von ei-nem der an der primären Reaktion beteiligten Quarks intiefunelastischen Stoßprozessen. Man bezeichnet sol-che Photonen als prompte Photonen. Mit der Unter-suchung der Eigenschaften dieser Photonen hat mansozusagen einen Durchgriff direkt auf die elementa-ren Reaktionsprodukte ohne von den Vorhersagen derHadronisationsmodelle abhängig zu sein.

Diese Untersuchung bereitet allerdings beträchtlicheexperimentelle Schwierigkeiten, die sich daraus er-geben, dass in Teilchenreaktionen eine Vielzahl von

61

ZEUS Experiment

Photonen erzeugt werden, aus denen die sogenann-ten prompten Photonen herausgefiltert werden müs-sen. Insbesondere die neutralen Mesonen, π0 und η, diebeide in je zwei Photonen zerfallen, bereiten die größtenSchwierigkeiten. Die beiden Photonen aus dem Zerfallder Mesonen liegen nämlich typischerweise im Detek-tor so dicht beieinander, dass sie zunächst als einzelnesPhoton erkannt werden. Erst eine sorgfältige Analyseder Energiedepositionen im Kalorimeter erlaubt einestatistische Trennung der prompten Photonen vom Un-tergrund. Die hier diskutierte Messung basiert auf demvollständigen Datensatz der Jahre 1996–2000 und ent-spricht einer integrierten Luminosität von 122 pb−1. Ineiner Vorauswahl von tiefunelastischen Streuereignis-sen mit Teilchenjets werden isolierte elektromagneti-sche Schauer anhand ihrer Ausdehnung und Form imKalorimeter identifiziert.

Details dieser statistischen Trennung sind in Abbil-dung 22 dargestellt, die die Verteilung der Observablen〈δZ〉, einem Maß für die Breite der elektromagneti-schen Schauer, zeigt. Die Verteilung enthält drei lokale

Abbildung 22: Verteilung der Breite elektromagneti-scher Schauer, 〈δZ〉, im ZEUS Kalorimeter. Die Punktestellen die ZEUS Daten dar. Die drei verschiedenen Hi-stogramme entsprechen der statistischen Zerlegung mitHilfe von Simulationen für die Photonen aus η und π0

Zerfällen und wohl identifizierten Photonen aus ,,deepvirtual compton scattering“ (DVCS) Ereignissen.

Abbildung 23: Tiefunelastisches Streuereignis mit ei-nem prompten Photon im ZEUS Detektor.

Maxima, die von den drei diskutierten Komponentenstammen. Die Photonenpaare aus den Zerfällen vonη und π0 Mesonen tragen typischerweise bei höherenWerten von 〈δZ〉 bei. Die einzelnen prompten Photo-nen sind als schmales Maximum bei niedrigen Wertenvon 〈δZ〉 zu sehen. Die Werte der einzelnen Beiträgewerden durch statistische Anpassung einer Mischungder einzelnen Komponenten an Verteilungen wie dieseerrechnet. Ein Ereignis, das auf diese Weise extrahiertwurde ist in Abbildung 23 gezeigt.

Auf diese Weise wurden 572 Ereignisse über einem Un-tergrund von 1303 Ereignissen gefunden. Der sichtbareWirkungsquerschnitt beträgt σ(ep → eγX) = 5.64 pbmit einem Fehler von etwa 10%. Damit ist die Exis-tenz dieses Prozesses unzweifelhaft nachgewiesen undder Weg für weitere Untersuchungen an diesen inter-essanten Ereignissen gebahnt. Zukünftige Messungenmit höherer Statistik bei HERA II werden dann inter-essante neue Einblicke in den Hadronisationsprozessermöglichen.

Pentaquarks

Nur zwei Arten von Quarkkombinationen sind notwen-dig, um alle bekannten stark wechselwirkenden Ele-mentarteilchen zu erklären: Baryonen, bestehend aus

62

ZEUS Experiment

drei, und Mesonen, bestehend aus zwei Quarks. Bei-spiele für Mesonen sind das Pion und das η, die be-reits im vorigen Abschnitt erwähnt wurden. Das Pro-ton und das Neutron sind die bekanntesten Vertreterder Baryonen.

Mit diesem einfachen Konstruktionsprinzip werden alleder vielen hundert bekannten stark wechselwirkendenElementarteilchen erfasst. Es könnte aber auch andereKombinationen von Quarks und von Quarks mit Gluo-nen geben. Die Theorie der starken Wechselwirkung,die QCD, schließt andere Kombinationen nicht aus undin mehreren theoretischen Arbeiten werden die Eigen-schaften dieser Teilchen vorhergesagt. Ein besondersinteressanter Fall ist das Θ+, das aus zwei u-, zweid-, und einem Anti-s-Quark bestehen soll. Damit wäredas Θ+ das einfachste Pentaquark und außerdem ein,,exotisches“ Baryon, weil es ein ungepaartes Antiquarkenthält. Für das Θ+ hatte bereits 1997 eine Gruppevon russischen Theoretikern eine Masse von 1530 MeVund eine schmale Zerfallsbreite vorhergesagt, die esermöglichen sollte, das Teilchen zu beobachten.

Im Juli 2003 behaupteten zuerst Arbeitsgruppen ausJapan und USA, das Θ+ beobachtet zu haben. Seit-dem haben wenigstens 11 weitere Experimente welt-weit diese Ergebnisse bestätigt. Auch das ZEUS Ex-periment hat im Berichtszeitraum einen Beitrag zumVerständnis dieses wichtigen Themas geleistet.

Bei ZEUS wurde speziell nach dem Zerfall dieses hy-pothetischen Teilchens in neutrale Kaonen und Proto-nen gesucht. Ein Teilchen, das in ein Proton und einneutrales Kaon zerfällt, muss aus mindestens 5 Quarksbestehen. Allerdings muss man dafür die neutralen Kao-nen von ihren Antiteilchen unterscheiden können. BeiZEUS wurden die Kaonen mittels des Zerfalls in zweigeladene Pionen, K0

S → π+π−, identifiziert. Die Pro-tonauswahl wurde anhand der Energieverlustverteilungim zentralen Spurdetektor getroffen. Das Ergebnis die-ser Untersuchung ist in Abbildung 24 gezeigt, in derdie Verteilung der invarianten Masse der Kaon-ProtonKombinationen aufgetragen ist.

Deutlich ist eine resonanzähnliche Anhäufung von Er-eignissen bei 1521 MeV über einem breiten Untergrundzu erkennen. An die Daten wurde eine Funktion be-stehend aus einem Untergrundanteil und zwei Gauß-kurven angepasst. Die breitere der beiden Gaußkurvenliegt bei 1465 MeV und hat eine Breite von 16 MeV.

Abbildung 24: Invariante Massenverteilung der Kom-binationen aus neutralen Kaonen und Protonen bezie-hungsweise Antiprotonen.

Dabei handelt es sich möglicherweise um das Σ(1480),eine nicht gesicherten Resonanz. Die schmalere Gauß-kurve liegt bei 1521 MeV, hat eine Breite von 8±4 MeVund eine statistische Signifikanz von 3.9 Standardab-weichungen. Die Position, Breite und der Zerfallskanaldieser Resonanz legen die Annahme nahe, dass es sichhierbei um das Θ+ handeln könnte. Man muss aller-dings einschränkend anmerken, dass in dieser Analysedie neutralen Kaonen nicht von ihren Antiteilchen un-terschieden werden konnten. Die beobachtete Resonanzist somit nicht zwingend exotisch. Außerdem liegt dieResonanz im Vergleich zu den anderen veröffentlich-ten Ergebnissen, die überwiegend zwischen 1530 und1540 GeV zu finden sind, ein klein wenig zu niedrig.Klarheit wird vermutlich die Analyse weiterer Zerfalls-kanäle sowie die höhere Statistik der HERA II Datenbringen. Sollte es sich bei diesem Signal allerdings tat-sächlich um das Θ+ handeln, dann hätte ZEUS die ersteEvidenz für das Antiteilchen des Θ+, nämlich das Θ−,geliefert, wie das kleine eingefügte Diagramm in Ab-bildung 24 zeigt. Dort ist das Signal nämlich sowohl imKanal K0

Sp als auch im Kanal K0Sp zu sehen. Allerdings

63

ZEUS Experiment

wird hier noch einmal daran erinnert, dass zwischen K0S

und K0S in dieser Analyse nicht unterschieden werden

kann.

Eine weitere mögliche Entdeckung sorgte im Berichts-jahr für Aufregung. Im März veröffentlichte die H1Kollaboration die Beobachtung einer resonanz-artigenStruktur bei 3.1 GeV in Kombinationen eines D(2010)

Mesons mit einem Proton. Ein Objekt, das auf dieseWeise zerfällt, müsste ebenfalls aus mindestens fünfQuarks bestehen, und zwar aus je zwei u-, zwei d-und einem Anti-c-Quark. Es wäre ein naher Verwand-ter des Θ+, bei dem das Anti-Strange-Quark durchein Anti-c-Quark ersetzt ist und das man als ΘC be-zeichnet. Auch die Existenz dieses Pentaquarks wirdin theoretischen Arbeiten vorhergesagt, allerdings miteiner Masse unter 3 GeV. Außer H1 hatte bisher keinanderes Experiment das ΘC beobachtet. Somit war esvon allerhöchster Wichtigkeit, auch in den Daten vonZEUS nach Hinweisen auf das ΘC zu suchen. Die Me-thode, die bei ZEUS dafür verwendet wurde, und dieErgebnisse dieser Untersuchung werden im Folgendenpräsentiert.

Der Ausgangspunkt sind Ereignisse, in denen einD(2010) Meson vorhanden ist. In den ZEUS Datenfindet man ca. 40 000 dieser Mesonen. Wenn das ΘC

dort mit einem Anteil, vergleichbar dem von H1 an-gegebenen, vorhanden ist, dann müsste man an die400 ΘC bei ZEUS finden können. In diesen Ereig-nissen wurde dann nach Protonen und Antiprotonengesucht und diese mit den D(2010) Mesonen kombi-niert.

Die Ergebnisse sind in Abbildung 25 zu sehen. Dortwerden vier verschiedene Fälle gezeigt. Diese unter-scheiden sich im Zerfallskanal des D(2010) und imkinematischen Bereich der untersuchten Daten. DieseUnterscheidung wurde vorgenommen, da das ΘC beiH1 in verschiedenen kinematischen Bereichen unter-schiedlich klar zu sehen ist. Außerdem wurden beiZEUS auch die Ereignisse berücksichtigt, bei denendas D(2010) in ein Kaon und drei Pionen zerfällt. H1hat diesen Zerfallskanal bisher nicht betrachtet. Die inder Abbildung unterlegt dargestellte schmale Strukturzeigt die Größe des gemäss der H1 Beobachtung er-warteten Signals. In keinem der vier untersuchten Fällekonnte irgendein Hinweis auf ein ΘC Signal von an-nähernd vergleichbarer Größe beobachtet werden. Ausder Tatsache, dass in den Daten von ZEUS nichts zu

Abbildung 25: Invariante Massenverteilung der Kom-binationen aus D(2010) Mesonen mit Protonen be-ziehungsweise Antiprotonen.

sehen ist, wurde eine obere Schranke von 0.23% allerD(2010) Mesonen für das maximal mögliche ΘC Si-gnal errechnet. Der von H1 angegebene Anteil des ΘC

Signals an allen Ereignissen mit einem D(2010) be-trägt dagegen 1%. Damit ist das Ergebnis von ZEUSmit dem von H1 klarerweise unverträglich.

Exklusive Produktion von J/ψ Mesonen

Seit seiner Entdeckung vor 30 Jahren im November1974 spielt das J/ψ Meson eine wichtige Rolle für un-ser Verständnis der Physik der kleinsten Teilchen. DasJ/ψ ist ein gebundener Zustand bestehend aus einemCharm- und einem Anti-Charm-Quark. Die Masse be-trägt 3.1 GeV und die Zerfallsbreite ist extrem schmal.Die Entdeckung des J/ψ war der entscheidende ex-perimentelle Schritt zum Verständnis des Quark Mo-dells und eröffnete den Blick in die reichhaltige Weltder Charm-Mesonen. Insbesondere die Vermessung der

64

ZEUS Experiment

Teilchenspektren im Charm-Sektor lieferte die Verifi-kation der von Gell-Mann und Zweig vorgeschlagenenTheorie der starken Wechselwirkung.

Bei HERA erlaubt die exklusive Produktion von J/ψMesonen, ähnlich wie im Falle der Produktion vonprompten Photonen, einen sehr direkten Rückschlussauf die elementaren Reaktionsprodukte in der Elektron-Proton Streuung. So kann man zusätzliche Informa-tionen über die Gluonverteilung im Proton gewin-nen.

Beispielhaft für diese Messungen sind in Abbildung 26die Wirkungsquerschnitte für die Reaktion ep → epJ/ψals Funktionen der invarianten Masse des Photon-Proton Systems, W, und der Virtualität des Photons,Q2, dargestellt. Man findet, dass diese Daten durchsehr einfache funktionale Zusammenhänge beschrie-ben werden, für die nur die Masse und der Spinzustanddes J/ψ eine Rolle spielen. Die Ergebnisse sind au-ßerdem mit den Messungen in der Photoproduktionkonsistent. Somit kann man sagen, dass der Produkti-onsmechanismus des J/ψ wohlverstanden ist und dieMethoden der pertubativen QCD Anwendung findenkönnen. Sobald die notwendigen theoretischen Werk-zeuge zur Verfügung stehen, wird es daher möglich sein,diese Daten zur Bestimmung der Gluonverteilung imProton mit heranzuziehen.

Abbildung 26: Wirkungsquerschnitt der Reaktionep → epJ/ψ (a) als Funktion der invarianten Massedes Photon-Proton Systems, W, und (b) als Funktionder Virtualität des Photons, Q2.

65

HERMES Experiment

Abbildung 27: Schematische Darstellung der Struktur der Generalisierten Parton Vertei-lungen.

66

HERMES Experiment

HERMES Experiment

Beteiligte Institute: NIKHEF und Vrije Universiteit Amsterdam, Univ. of Michigan Ann Arbor, ANL Argonne,Univ. und INFN Bari, Beijing Univ., Univ. of Colorado Boulder, JINR Dubna, Univ. Erlangen-Nürnberg, Univ. undINFN Ferrara, INFN Frascati, Univ. Gent, Univ. Gießen, Univ. Glasgow, DESY Hamburg, Univ. Sci. Technol. Hefei,P. N. Lebedev Inst. Moscow, IHEP Protvino, Univ. Regensburg, INFN und Ist. Sup. Sanita Rome, St. PetersburgNucl. Phys. Inst., Tokyo Inst. Technol., Univ. of Illinois Urbana-Champaign, TRIUMF Vancouver, Andrzej SoltanInst. Warsaw, Yerevan Phys. Inst., DESY Zeuthen

Sprecher: E.C. Aschenauer, DESY Zeuthen

Der Schwerpunkt der HERMES Datennahme lagin der Aufzeichnung von tiefinelastischen Streu-ereignissen an einem transversal polarisiertenWasserstofftarget. Im Jahre 2004 konnte die Sta-tistik solcher Ereignisse im Vergleich zur Daten-nahme 2002/03 verdreifacht werden. Diese Datenwerden die Signifikanz der weltweit ersten Pu-blikation von semi-inklusiven azimuthalen Wir-kungsquerschnitts-Asymmetrien von Pionen, pro-duziert an einem transversal polarisierten Target,erheblich erhöhen. Bis zum Sommer 2005 wer-den diese Messungen weiterhin Schwerpunkt derHERMES-Datennahme sein.

Aus den bei HERMES in den Run-I aufgenom-men polarisierten und unpolarisierten Wasserstoff-und Deuteriumdaten wurden weitere Ergebnisseextrahiert. So wurde unter Verwendung von Dop-pelspin-Asymmetrien, gemessen für inklusiv er-zeugte Hadronen, erstmalig die Gluonpolarisationals Funktion des Transversalimpulses der Hadronenbestimmt.

Desweiteren wurden mit hoher Genauigkeit dieMultiplizitäten von Pionen und Kaonen gemes-sen. Die Kombination der Hadronmultiplizitä-ten ermöglicht die Extraktion von Fragmentati-

onsfunktionen als Voraussetzung für die Bestim-mung der polarisierten Quarkverteilungsfunktio-nen �q in nächster Ordnung der QCD-Störungs-theorie.

Ein weiterer Schwerpunkt in der Datenanalyse wardie Fortführung der Untersuchungen von exklusi-ven Prozessen. Sie erlauben, wie bereits in vorheri-gen Jahresberichten beschrieben, die Bestimmungder generalisierten Partonverteilungen (GPD). Umein vollständiges Bild zu erhalten, ist es wichtig,möglichst viele verschiedene exklusive Prozesse zustudieren. HERMES hat hierfür die Produktionvon π+-Mesonen sowie von π+π−-Mesonpaaren un-tersucht. Zudem wurden neue Ergebnisse für azi-muthale Asymmetrien in der Produktion reellerPhotonen (Tief-Virtuelle Compton Streuung) an ei-nem Wasserstoff- und Deuteriumtarget extrahiert.

Um exklusive Prozesse noch genauer studierenzu können, wird das HERMES-Spektrometerdurch einen Detektor zum Nachweis der langsa-men Rückstoßprotonen erweitert. Exemplarisch fürdie verschiedenen Teststrahl-Studien der Einzel-komponenten des HERMES-Rückstoßdetektorswerden die Ergebnisse für den Siliziumdetektor vor-gestellt.

67

HERMES Experiment

Physikalische Ergebnissemit polarisierten Targets

Semi-inklusive azimuthaleEinzelspin-Asymmetrien

Die Beschreibung der Nukleonstruktur erfolgt häufigdurch Quarkverteilungsfunktionen. Diese Funktionengeben an, wieviele Quarks mit einem bestimmten Im-pulsbruchteil x und einer vorgegebenen Spinausrich-tung im Nukleon vorgefunden werden. Die Theorie derstarken Wechselwirkung verlangt dabei nach drei fun-damentalen Quarkverteilungen, von denen zwei – dieunpolarisierte Quarkverteilung und die Helizitätsvertei-lung – schon in verschiedenen Experimenten gemessenwurden. Die verbleibende Transversity-Verteilung, dieDifferenz der Anzahl von Quarks mit Spin in der glei-chen bzw. entgegengesetzten Richtung zum Spin desNukleons, wobei das Nukleon transversal, d. h. senk-recht, zu seiner Bewegungsachse polarisiert ist, ent-zog sich bisher jeglichen Messversuchen. Dies verdanktsie ihrem Verhalten unter Chiralitätstransformationen:Transversity ist chiral-ungerade. Chiralität ist in harten

Abbildung 28: HERMES-Ergebnisse zu semi-inklu-siven azimuthalen Wirkungsquerschnitts-Asymmetrienvon geladenen Pionen an einem transversal polarisier-ten Wasserstofftarget. Gezeigt sind die Asymmetrienim sogenannten Collinswinkel, welche proportional zurTransversity-Verteilung sind.

Streuprozessen jedoch eine Erhaltungsgröße, weswe-gen die Transversity-Verteilung in solchen Prozessenzu anderen chiral-ungeraden Größen, z. B. Fragmenta-tionsfunktionen, gekoppelt werden muss.

Verschiedene chiral-ungerade Fragmentationsfunktio-nen können verwendet werden, um die Transversity-Verteilungzumessen.Siehaben jedochallegemeinsam,dass sie bisher noch nicht direkt nachgewiesen wurden.Die Collins Fragmentationsfunktion ist ein Beispiel. Sieverursacht eine asymmetrische Verteilung der produ-zierten Hadronen, wenn sie von einem transversal po-larisierten Quark stammen. Eine andere Möglichkeitbietet das Studium von Hadronpaaren. Die Interferenzvon Hadronpaaren in unterschiedlichen Drehimpulszu-ständen wird durch Interferenzfragmentationsfunktio-nen beschrieben. Auch sie verursachen spinabhängigeazimutale Asymmetrien, diesmal jedoch in der Aus-richtung der Ebene, die durch die beiden produziertenHadronen aufgespannt wird.

Ein bedeutender Unterschied zwischen den bei-den genannten Fragmentationsfunktionen ist, dassdie Collins Fragmentationsfunktion zur Klasse dertransversalimpuls-abhängigenFunktionengehört.DieseFunktionen hängen, im Gegensatz zu z. B. eingangs er-wähnten Quarkverteilungen, explizit vom transversalenImpuls der Quarks ab. Integriert man über diesen Im-puls, verschwinden die meisten der Funktionen und es

Abbildung 29: HERMES-Ergebnisse zu den Sivers-asymmetrien für geladene Pionen von einem transver-sal polarisiertem Wasserstofftarget.

68

HERMES Experiment

bleiben, im Falle der Quarkverteilungen, nur die dreiobigen Quarkverteilungen übrig. Die zusätzliche Kom-plexität, die man durch die explizite Abhängigkeit vomTransversalimpuls erhält, erlaubt aber auch neue, bis-her unerwartete Effekte. Die Siversfunktion z. B. be-schreibt die Verteilung unpolarisierter Quarks in trans-versal polarisierten Nukleonen. Sie ist ungerade unterZeitumkehr, was bisher als verboten angesehen war. Insemi-inklusiven tiefunelastischen Streuprozessen führtsie, ähnlich der Collins Fragmentationsfunktion, zu ei-ner asymmetrischen Verteilung der produzierten Ha-dronen – diesmal aber bzgl. des transversalen Spinsdes Nukleons.

Im ersten Datennahmejahr mit einem transversal po-larisierten Wasserstofftarget wurden genügend Streu-ereignisse registriert, um einen ersten Blick auf dieCollins- und Siversasymmetrien zu werfen. Diese semi-inklusiven Wirkungsquerschnitt-Asymmetrien in derazimutalen Verteilung von geladenen Pionen sind inden Abbildungen 28 und 29 als Funktionen des Im-pulsbruchteils x und des Energiebruchteils z vom vir-tuellen Photon, welchen das produziert Pion besitzt, zusehen. Sie sind die weltweit ersten Ergebnisse dieserArt. Die nicht verschwindenen Collinsasymmetrien ge-ben Hoffnung, dass man mit mehr Daten auf diesemWeg Zugang zur Transversity-Verteilung erlangt.

Ebenso bedeutend ist die erste Messung der Sivers-asymmetrie. Sie zeigt, dass zeitumkehr-ungeradeQuarkverteilungsfunktionen tatsächlich existieren. Je-doch ist bei dieser Interpretation zu beachten, dass beisolch kleinen Asymmetrien wie den SiversasymmetrienBeiträge von anderen Prozessen auch eine Rolle spielenkönnen. Ein Bruchteil der detektierten Pionen stammtin der Tat vom Zerfall exklusiv produzierter Vektorme-sonen, deren azimutale Asymmetrie nicht bekannt ist.Für deren Bestimmung sind zusätzliche Daten nötig,wie sie z. Zt. bei HERMES genommen werden.

Ein anderer Zugang zur Transversity-Verteilung ist überdie Interferenzfragmentation. Obwohl die Daten an ei-nem transversal polarisierten Target dafür noch nichtausreichend waren, hat HERMES erste vorläufige Er-gebnisse zur Interferenzfragmentation vorgelegt, diesejedoch von longitudinal polarisiertem Deuterium. Dieazimutale Einzelspin-Asymmetrie, die durch Interfe-renzfragmentation hervorgerufen wird, ist in Abbil-dung 30 zu sehen. Sie ist verträglich mit Null, wasjedoch kein schlechtes Zeichen für deren Verwendung

Abbildung 30: Vorläufige HERMES-Ergebnisse zuden semi-inklusiven azimuthalen Wirkungsquerschnitt-Asymmetrien der 2-Hadron-Ebene mit einem longitu-dinal polarisiertem Deuteriumtarget als Funktion derinvarianten Masse des Hadronenpaares.

im Fall eines transversal polarisierten Target sein muss,da sie im longitudinalen Fall stark unterdrückt ist.

Wann immer man Messungen an einem Target vor-nimmt, welches bzgl. der Strahlrichtung polarisiert ist,muss man die verschiedenen Polarisationskomponen-ten entlang der Impulsachse des virtuellen Photons be-achten. So hat man bei einem longitudinal polarisertenTarget eine Polarisationskomponente, die transversalzum virtuellen Photon ist. Gemessene Asymmetrienenthalten daher Beiträge von beiden Polarizationskom-ponenten, den Komponenten longitudinal und trans-versal zum virtuellen Photon. Eine Entflechtung beiderBeiträge ist durch Daten von longitudinal und trans-versal zur Strahlrichtung polarisierten Targets möglich.HERMES Daten von longitudinal und transversal po-larisertem Wasserstoff wurden vereint, um die rein lon-gitudinalen Einzelspin-Asymmetrien in der Verteilungvon semi-inklusiven Pionen zu bestimmen. VorläufigeErgebnisse (siehe Abb. 31) zeigen, dass die Asymme-trien an longitudinal zur Strahlrichtung polarisiertemWasserstoff vom Beitrag der longitudinalen Kompo-nente bzgl. der Photonrichtung dominiert wird. Dieswar nicht unbedingt erwartet worden, da dieser Beitragim Wirkungsquerschnitt unterdrückt ist.

69

HERMES Experiment

Abbildung 31: Vorläufige HERMES-Ergebnisse zuden einzelnen Beiträgen (Kreise und Quadrate) zu denazimuthalen Wirkungsquerschnitt-Asymmetrien (Drei-ecke) von der zum Photon transversalen und longitu-dinalen Polarisationsomponenten eines zur Strahlrich-tung longitudinal polarisiertem Wasserstofftarget. DieErgebnisse für geladene Teilchen sind als Funktion vonx und z dargestellt. Der im Wirkungsquerschnitt unter-drückte Beitrag von der longitudinalen Komponente(Kreise) dominiert in den gemessenen Asymmetrien.

Bestimmung der Gluon-Polarisation

Ein wesentliches ungelöstes Problem der heutigen Ha-dronphysik besteht darin, dass die Zusammensetzungdes Gesamt-Drehimpulses von Nukleonen aus den-jenigen seiner partonischen Bestandteile bisher nurzu einem kleinem Teil bekannt ist. Im HERMES-Experiment wurden Doppelspin-Asymmetrien gemes-sen im Wirkungsquerschnitt inklusiver Hadronen, z. B.π±, K±. Ein Bruchteil dieser Teilchen wird erzeugtdurch Wechselwirkung des vom Strahlteilchen (e±) ab-gestrahlten virtuellen Photons (γ∗) mit einem Gluon (g)im Nukleon und nicht, wie in den meisten Fällen, einemQuark (q). Im Rahmen eines QCD-basierten Quark-Parton-Modells bietet diese Reaktion die Möglichkeit,den Anteil der Gluonen am Gesamt-Spin des Nukleons(∆G/G) zu ermitteln. Insbesondere werden Hadronengebraucht, die mit möglichst hohem Transversalimpuls

Abbildung 32: Vorläufige HERMES-Ergebnisse derpolarisierten Gluonverteilung als Funktion des Trans-versalimpulses. Die Kurven zeigen Vorhersagen ausverschiedene QCD Analysen der polarisierten Struk-turfunktion g1. Die unteren Skalen zeigen die Entspre-chung des gemessenen Transversalimpulses zum x-Wertdes Gluons für unterschiedliche Modellannahmen.

(plabT ) erzeugt worden sind, weil dieser bevorzugt bei

der harten γ∗ g-Streuung entsteht. Der o. g. Bruchteil ista priori unbekannt und muss in einer Monte Carlo Simu-lation ermittelt werden. Bei der relativ niedrigen Ener-gie, die im HERMES-Experiment zur Verfügung steht,sind die verschiedenen, dabei zu modellierenden Pro-zesse nicht genügend genau bekannt. Diese Ungenau-igkeit stellt den Hauptanteil des systematischen Fehlersder Messung dar, welcher erstmalig überhaupt im Rah-men einer Doktorarbeit ermittelt werden konnte. Die inAbbildung 32 gezeigten Messpunkte zeigen weltweiterstmalig, wie (∆G/G) von plab

T abhängt. Der innereBereich des Fehlerbalkens zeigt die statistische Unge-nauigkeit, der gesamte Balken die kombinierte statis-tische und systematische Ungenauigkeit. Die unterenSkalen zeigen, wie die plab

T -Abhängigkeit übersetzt wer-den kann, wenn auch nur im Sinne von Mittelwertenvon jeweils breiten Verteilungen, in eine Abhängigkeitvom Anteil xG des Gluons am Gesamtimpuls des Nu-kleons. Diese Skalen variieren leicht für verschiedene

70

HERMES Experiment

Modellversionen und demonstrieren einen Teil der Mo-dellabhängigkeit der Analyse. Die Kurven in der Ab-bildung zeigen die Ergebnisse von QCD-Analysen in-klusiver Daten. Deren relative Variation repräsentiertden Stand der Unkenntnis der jetzt gemessenen Obser-vablen ∆G/G. Die HERMES-Ergebnisse sind mit denbisherigen Vorhersagen verträglich.

Physikalische Ergebnissemit unpolarisierten Targets

LadungsseparierteHadronmultiplizitäten

Die Fragmentation eines Quarks, das das Nukleon ver-lässt, in ein oder mehrere Hadronen ist ein langreich-weitiger Prozess und lässt sich damit nicht störungs-theoretisch berechnen. Stattdessen wird der Vorgangdurch sogenannte Fragmentationsfunktionen parame-trisiert. Die Funktion Dh

q beschreibt die mittlere Anzahlder Hadronen des Typs h, die bei Streuung an einemQuark der Sorte q erzeugt werden. Die experimentelleGrundlage zur Analyse der Fragmentationsfunktionenbildet die Extraktion von Hadronenmultiplizitäten

1

NDIS

dNh

dz=

∑f e2

f

∫ 10 dxqf(x, Q2)Dh

f (z, Q2)∑

f e2f

∫ 10 dxqf(x, Q2)

,

die die Verbindung der Fragmentationsfunktionen,der Quarkverteilungsfunktionen qf(x, Q2) sowie derLepton-Quark-Wechselwirkung darstellen. Die Obser-vable z steht dabei für den Anteil der Hadronenergie Eh

an der insgesamt verfügbaren (Photonen-)Energie ν.

Bereits im Jahre 1999 wurden von HERMES Ergeb-nisse über die Fragmentation von geladenen und neutra-len Pionen aus der Positronstreuung am Wasserstofftar-get vorgestellt. Die jetzt vorliegenden neuen Ergebnissestellen in verschiedenen Bereichen einen signifikantenFortschritt da. Zum einen stand mit den HERMES-Daten des Jahres 2000 ein Datensatz hoher Statistikzur Verfügung, der durch die Verwendung des RICH-Detektors (Ring-Imaging Cerenkov Detektor) erstmalsdie Separation der Hadronen in Pionen, Kaonen undProtonen ermöglichte.

Abbildung 33: Vorläufige HERMES-Ergebnisse derMultiplizitäten von positiven Pionen als Funktion von z.Dargestellt sind die Ergebnisse mit und ohne Korrekturfür diffraktive Prozesse.

Zum Anderen konnte die Analysemethode verbessertwerden. So kam zur Korrektur von Akzeptanzeffek-ten und von Einflüssen durch Strahlungsprozesse eineverbesserte Methode zur Anwendung. Berücksichtigtwurden auch erstmals Korrekturen für Hadronen, diedurch diffraktive Prozesse erzeugt wurden. Ein Bei-spiel hierfür sind Pionen, die durch den Zerfall desρ0-Vektormesons entstehen. In beiden Fällen profitiertedie Analyse von Verbesserungen der Monte Carlo-Simulationen in den letzten Jahren.

Abbildung 33 zeigt die Multiplizität positiver Pionenals Funktion von z. Deutlich ist der Einfluss diffrakti-ver Prozesse bei hohem z zu beobachten. Grund hier-für ist der nicht symmetrische Zerfall ρ0 → 2 π, derzur Konzentration der entstehenden Pionen bei klei-nem und hohem z führt, wobei sie bei letzterem einenhohen Anteil an der Gesamtstatistik bilden. Für Kao-nen (Abb. 34) trägt der Zerfall des φ-Vektormesons nurunwesentlich zur Gesamtstatistik bei.

Das Band markiert den systematischen Fehlerbereich,der durch die Korrektur für Fehlidentifikationen desRICH-Detektors zustande kommt. Der insbesondere fürKaonen (Abb. 34) signifikante Fehlerbereich wird sich

71

HERMES Experiment

Abbildung 34: Vorläufige HERMES-Ergebnisse derMultiplizitäten von positive Kaonen als Funktion von z.

durch ein besseres Verständnis der Systematik nochverringern lassen.

Neben der z-Abhängigkeit der Multiplizitäten wurdeauch ihr Verlauf als Funktion der Variablen xBj und Q2

untersucht. Abbildung 35 zeigt die weitgehende Un-abhängigkeit der Multiplizität geladener Pionen vonxBj. Dies ist in Einklang mit der Theorie, dass derFragmentationsprozess und der vorausgehende Streu-prozess faktorisieren. Die gezeigten HERMES-Datenwurden zu Q2 = 2.5 GeV2 entwickelt.

Die gewonnenen Informationen werden derzeit durcheine Analyse der Streudaten an einem Deuteriumtar-get vervollständigt. Durch die Kombination der Ergeb-nisse sollen Fragmentationsfunktionen extrahiert wer-den. Diese sind Voraussetzung für die Bestimmung derpolarisierten Quarkverteilungsfunktionen ∆q in nächs-ter Ordnung der QCD-Störungstheorie.

Exklusive Prozesse

Seit einigen Jahren existiert ein neuer vereinheitlichen-der Formalismus zur kohärenten Beschreibung derStruktur der Hadronen im Rahmen der Quantenfeld-

Abbildung 35: Vorläufige HERMES-Ergebnisse derMultiplizitäten von negativen Pionen als Funktion vonxBj in 4 verschiedenen z Bins.

theorie. Dieser Formalismus führt die so genanntenGeneralisierten Partonverteilungen (Generalised Par-ton Distribution – GPD) ein. Die herkömmlichen Par-tonverteilungen und die Formfaktoren ergeben sich ausden kinematischen Limits bzw. aus den Momenten derGPDs. Eine der interessantesten Perspektiven des GPDFormalismus ist die bisher einzige Beschreibung zurMessung des Bahndrehimpulses der Quarks im Nu-kleon. Jüngste theoretische Entwicklungen betonen dasPotential der GPDs, die dreidimensionale Struktur vonHadronen durch die Bestimmung der Korrelation vontransversalerPositionund longitudinalemImpulszuun-tersuchen. GPDs können in harten Streuprozessen ge-messen werden in denen Mesonen oder reale Photonen(Tiefvirtuelle Compton-Streuung – DVCS) ohne Frag-mentation des rückwärts gestreuten Nukleons erzeugtwerden.

Die verschiedenen Prozesse erlauben den Zugang zuunterschiedlichen GPDs. Exklusive Vektormesonpro-duktion ist sensitiv auf die unpolarisierten GPDs, dieexklusive Produktion pseudoskalarer Mesonen dage-gen auf die polarisierten GPDs. Der direkte Zugang zuden neuen Funktionen ergibt sich aus der Messung derTiefvirtuellen Compton-Streuung. Die multidimensio-nale Struktur der GPDs (sie sind Funktionen von drei

72

HERMES Experiment

kinematischen Variablen und zusätzlich von der Pho-tonvirtualität Q2) kompliziert ihre Entfaltung aus dengemessenen Observablen. Das Studium unterschiedli-cher Prozesse und eine globale Analyse aller verfügba-ren Daten ist daher notwendig, um die GeneralisiertenPartonverteilungen zu bestimmen.

Die Messung exklusiver Prozesse ist experimentelläußerst anspruchsvoll aufgrund der gleichzeitigen An-forderungen von hoher Luminosität (aufgrund der nied-rigen Wirkungsquerschnitte), hoher Auflösung (zurTrennung der exklusiven Prozesse von den semi-inklusiven mit Fragmentation) und hoher Strahlenergie(zur Sicherstellung der Faktorisierung).

HERMES hat bereits erste Ergebnisse der Messung ex-klusiver Mesonproduktion und von DVCS Prozessenvorgestellt. Bisher konnte das rückwärts gestreute Nu-kleon nicht nachgewiesen werden und die Exklusivitätdes Ereignisses wird durch die Forderung einer Ent-sprechung der rekonstruierten fehlenden Masse und derNukleonmasse (missing mass technique) sichergestellt.

Nachfolgend werden einige neue HERMES Ergebnisseder exklusiven Produktion von Pionen sowie von DVCSProzessen vorgestellt.

Exclusive Meson Produktion

Wirkungsquerschnitt derexklusiven π+-Produktion

Die Faktorisierung exklusiver Prozesse mit Mesonenim Endzustand konnte bisher nur für longitudinale vir-tuelle Photonen formell bewiesen werden. Um solcheMessungen mit Modellrechnungen vergleichen zu kön-nen, sollten daher die Beiträge longitudinaler (σL) undtransversaler (σT) virtueller Photonen zum Wirkungs-querschnitt (σtot)

σtot = σT + εσL

getrennt werden (ε ist der Parameter der virtuellenPhotonpolarisation, der maximal 1 sein kann). Wäh-rend in Prozessen mit Vektormesonen im Endzustanddie Winkelverteilung ihrer Zerfallsprodukte die Sepa-ration dieser beiden Beiträge erlaubt, müssen im Falle

der Produktion pseudoskalarer Mesonen die Wirkungs-querschnitte bei unterschiedlichen Strahlenergien ge-messen werden (Rosenbluth-Separation). Letzteres istbei HERMES nicht möglich. Im Rahmen des Bewei-ses der Faktorisierung konnte allerdings gezeigt wer-den, dass σT um die Gößenordnung 1/Q2 gegenüberσL unterdrückt ist und letzterer folglich bei hohen Pho-tonvirtualitäten Q2 den Wirkungsquerschnitt dominiert.Die Überprüfung der Q2-Abhängigkeit des Wirkungs-querschnitts ist daher essentiell für die Interpretationder Ergebnisse und gibt Aufschluss über die Dominanzdes longitudinalen Beitrages.

Eines der jüngsten Ergebnisse des HERMES Expe-rimentes ist die Messung des Wirkungsquerschnittsder exklusiven π+-Produktion an einem Wasserstoff-target bei hohen Photonvirtualitäten Q2 > 1 GeV2. DerWirkungsquerschnitt dieses Prozesses ist durch densogenannten Pion-Pol dominiert der durch den Pion-Formfaktor parametrisiert wird. Die Messung derAbhängigkeit des Wirkungsquerschnitts vom Energie-Impulsübertrag auf das Nukleon t und die Ex-trapolation t → 0 ermöglicht die Bestimmung desPion-Formfaktors bei bisher ungemessenen hohenWerten von Q2.

Der exklusive Kanal der π+-Produktion wird durchden Nachweis des gestreuten Leptons und des erzeug-ten π+-Mesons sowie die Forderung nach einer Ent-sprechung der rekonstruierten fehlenden Masse undder Masse des Targetnukleons ausgewählt. Als Ab-schätzung für den nicht-exklusiven Untergrund wurdedie Verteilung der π−-Mesonen, normiert auf dieπ+-Mesonverteilung, im Bereich der fehlenden Massedie der Nukleonmasse entspricht verwendet. Die kine-matischen Verteilungen der exklusiven Ereignisse (inQ2, x, t) stimmen mit Monte-Carlo Simulationen über-ein, die auf einem Modell für die Generalisierten Par-ton Verteilungen basieren. Abbildung 36 zeigt einenVergleich der Verteilung des Energie-Impulsübertrageszum Nukleon t aus Monte-Carlo Simulationen mit denDaten. Die Simulationen ermöglichen die Bestimmungder Effizienzen und der Akzeptanzkorrektur des exklu-siven Prozesses.

Der extrahierte Wirkungsquerschnitt der exklusivenπ+-Produktion an einem Wasserstofftarget ep → enπ+ist in Abbildung 37 als Funktion der PhotonvirtualitätQ2 für drei verschiedene x-Bereiche dargestellt.

73

HERMES Experiment

Abbildung 36: Verteilung des Energie-Impulsübertra-ges auf das Nukleon t aus Monte-Carlo Simulationen(Histogram) mit den Daten (Punkte) für die exklusiveπ+-Produktion an einem Wasserstofftarget.

Abbildung 37: Vorläufige HERMES-Ergebnisse fürden Wirkungsquerschnitt des Prozesses ep → enπ+ alsFunktion von Q2 für drei verschiedene x-Bereiche. DieKurven zeigen Rechnungen basierend auf einem Modellfür die GPDs.

Die Ergebnisse werden verglichen mit Rechnungen fürdenBeitrag longitudinalervirtuellerPhotonenzumWir-kungsquerschnitt, basierend auf einem Modell für dieGeneralisierten Partonverteilungen. Die durchgezoge-nen Kurven zeigen die Berechnungen in führender Ord-nung QCD (Leading Order – LO) während die gestri-

chenen Kurven Rechnungen unter zusätzlicher Berück-sichtigung von Korrekturen höherer Ordnung (powercorrections) aufgrund der intrinsischen transversalenImpulse der Partonen im Nukleon und der Beiträge zurPionproduktion durch den Überlagerungsbereich vonMeson und Nukleon (soft overlap) darstellen. Wäh-rend die Rechnungen in führender Ordnung den gemes-senen Wirkungsquerschnitt unterschätzen, erscheinendie unter Berücksichtigung der power corrections er-haltenen Kurven deutlich zu hoch. Ein sehr wichtigesErgebnis ist allerdings dass die Q2-Abhängigkeit desWirkungsquerschnitts mit der für σL erwarteten gene-rell übereinstimmt. Dies lässt die Schlussfolgerung zu,dass der Beitrag longitudinaler virtueller Photonen do-miniert, was Rückschlüsse auf die Modellierung derGPDs erlaubt.

Die gegenwärtig laufende Analyse der Daten be-rücksichtigt Strahlungskorrekturen zum gemesse-nen Wirkungsquerschnitt, welche einen Effekt vonetwa 20–25% darstellen, und legt Augenmerk aufdie Bestimmung seiner Abhängigkeit vom Energie-Impuls-Übertrag t auf das Proton. Die gemessenet-Abhängigkeit des Wirkungsquerschnittes erlaubt dieBestimmung des Pion-Formfaktors welcher für höhereWerte von Q2 noch völlig unbekannt ist.

Exklusive π+π−-Paarproduktion

HERMES hat mit der Messung exklusiver π+π−-Paarproduktion eine weitere interessante Observableuntersucht, die Informationen über die Generalisier-ten Parton Verteilungen enthält. Die Wechselwirkungdes virtuellen Photons mit dem Targetnukleon erfolgthierbei über die Abstrahlung und nachfolgende Ab-sorption eines Quarks (Quark-Austauschmechanismus)oder Gluons (2-Gluon-Austauschmechanismus). Ausder Wechselwirkung der erzeugten Partonen entstehtentweder direkt das π+π−-Paar oder ein instabilesTeilchen (Resonanz), welches anschließend in zweiPionen zerfällt. Die unterschiedlichen Produktionsme-chanismen sind durch verschiedene mögliche Wertedes Gesamtbahndrehimpulses J des Pionpaars charak-terisiert. Während der Quark-AustauschmechanismusPionpaare mit geraden (J = 0, 2 . . . ) und ungeraden(J = 1, 3 . . . ) Werten des Gesamtbahndrehimpulses er-zeugt, führt der Gluon-Austauschmechanismus aus-schließlich zu Pionpaaren mit ungeraden Werten J.

74

HERMES Experiment

Abbildung 38: HERMES-Ergebnisse für das ersteLegendre-Moment als Funktion der invarianten Massedes Pionpaars für die exklusive π+π−-Paarproduktionan einem Wasserstofftarget. Die Kurve zeigt Berech-nungen basierend auf einem Modell für GPDs.

Der dominante Produktionsmechanismus ist dabei derP-Wellen-Zustand des Pionpaars mit J = 1. Um trotzdes dominanten Prozesses die unterschiedlichen Pro-duktionsmechanismen studieren zu können, wurde eineObservable identifiziert, die auf die Interferenz der bei-den Prozesse sensitiv ist. Zu diesem Zweck wurdendie Legendre-Momente 〈Pn(cos θ )〉 gemessen, welchedas Integral n-ter Ordnung der Legendre-PolynomePn(cos θ ), gewichtet mit dem differentiellen Wirkungs-querschnitt dσπ+π−

/d cos θ darstellen. Hierbei ist θ einbestimmter Streuwinkel des π+-Mesons. Abbildung 38zeigt das erste Moment 〈P1〉, welches auf die Interfe-renz zwischen P-Wellen und S- bzw. D-Wellen (J = 0bzw. J = 2) sensitiv ist, als Funktion der invariantenMasse des exklusiv erzeugten Pionpaars mππ.

Die starke Variation von 〈P1〉 für verschiedene Wertemππ kann als Signal der Interferenz zwischen denverschiedenen Zuständen interpretiert werden: dieρ-Resonanz mit J = 1 zerfällt in Pionen über dasgesamte mππ Intervall mit einem Maximum beimππ ≈ 0.77 GeV; die f2-Resonanz mit J = 2 dagegen

zerfällt nur für Werte mππ ≈ 1.1 GeV mit einem Ma-ximum bei mππ ≈ 1.27 GeV; nicht-resonante π+π−Produktion mit J = 0 zeigt ein Maximum bei nied-rigen mππ Werten. Die signifikanten Werte von 〈P1〉bei niedrigen mππ-Werten deuten auf eine Interferenzzwischen dem unteren Ausläufer des ρ-Mesons mit dernicht-resonanten π+π− Produktion. Im Dominanzbe-reich des ρ-Mesons (mππ ≈ 0.77 GeV) zeigt der Ab-solutwert von 〈P1〉 ein Minimum. Bei hohen Wertenmππ im Bereich der f2-Resonanz, deuten die Daten aufeinen Vorzeichenwechsel von 〈P1〉 aufgrund der Inter-ferenz des oberen Ausläufers der ρ-Resonanz mit derf2-Resonanz hin. Die dargestellten Kurven zeigen Be-rechnungen von 〈P1〉 in einem GPD-Modell, welchesBeiträge des Quark- und des 2-Gluonaustausches be-rücksichtigt, die den qualitativen Verlauf der Daten gutbeschreiben.

Tiefvirtuelle Compton-Streuungan Wasserstoff und Deuterium

Der Prozess der Tiefvirtuellen Compton-Streuung(DVCS) bietet die Möglichkeit, sowohl die Amplitudeals auch die Phase der Streuamplitude zu messen, daein Prozess mit gleichem Endzustand existiert, mit demdie exklusive Reaktion interferiert. Dieser Prozess istals Bremsstrahlung bekannt und wird im Wesentlichendurch die Abbremsung der Elektronen im elektromag-netischen Feld der Atomkerne erzeugt (Bethe-HeitlerProzess). Der Interferenzterm zwischen beiden Prozes-sen erlaubt einen direkten Zugang zu beiden Teilender DVCS Streuamplitude, dem Imaginär- und demRealteil.

Der Imaginärteil ist zugänglich durch die Messung derAsymmetriebezüglichdesWinkelsφ zwischenLepton-streuebene und Photonproduktionsebene, die ihr Vor-zeichen wechselt, wenn die longitudinale Strahlpolari-sation P das Vorzeichen wechselt. Die Asymmetrie ALU

wird dann aus den Raten−→N und

←−N für Ereignisse mit

positiver bzw. negativer Strahlhelizität (L) berechnet,wobei das Targetgas unpolarisiert (U) ist:

ALU(φ) = 1

〈P〉−→N (φ)−←−

N (φ)−→N (φ)+←−

N (φ)

75

HERMES Experiment

Abbildung 39: Vorläufige HERMES-Ergebnisse derLeptonen-Spin-Asymmetrie für unpolarisiertes Deute-rium als Funktion von φ.

Der Realteil ist durch eine ähnliche Asymmetrie extra-hierbar, doch statt der Strahlpolarisation wird in die-sem Fall die unterschiedliche Ladung N+ und N− desLeptonenstrahls (Elektronen und Positronen) genutzt:

AC(φ) = N+(φ)−N−(φ)

N+(φ)+N−(φ)

Die Leptonen-Spin- und Leptonen-Ladungs-Asymme-trie sind für ein unpolarisiertes Deuterium-Target in denAbbildungen 39 und 40 gegen den Winkel φ aufgetra-gen.

In führender Ordnung wird für die Leptonen-Spin-Asymmetrie ein Sinus-Verhalten und für die Leptonen-Ladungs-Asymmetrie ein Cosinus-Verhalten vorherge-sagt, was experimentell gut bestätigt werden konnte.

Um Schlussfolgerungen über die Dynamik der ein-zelnen Teile des Nukleons zu bekommen, ist es nö-tig, das Verhalten der Asymmetrien in Abhängigkeitvom Energie-Impuls Übertrag t auf das Nukleon zustudieren.

Abbildung 41 zeigt die cos φ Amplitude von Was-serstoff und Deuterium als Funktion von t. Ebenfalls

Abbildung 40: Vorläufige HERMES-Ergebnisseder Leptonen-Ladungs-Asymmetrie für unpolarisiertesDeuterium als Funktion von φ.

Abbildung 41: Vorläufige HERMES-Ergebnisse für diecos φ Amplitude der Ladungs-Asymmetrie für Wasser-stoff und Deuterium als Funktion von t. Die GPD Mo-dell Berechnungen benutzen eine Faktorisierung odereine Art Regge t-Abhängigkeit mit oder ohne D-Term.

76

HERMES Experiment

sind verschiedene theoretische Berechnungen abgebil-det, die auf unterschiedlichen GPD Modellen beruhen.Obwohl nur eine kleine Datenmenge analysiert wurde,ist es offensichtlich, dass die Messung der Leptonen-Ladungs-Asymmetrie sehr geeingnet ist, um zwischenverschiedenen GPD Modellen zu unterscheiden.

Um die t-Abhängigkeit der beiden oben genanntenAsymmetrien genauer zu untersuchen, wird im Spät-sommer 2005 der Rückstoßdetektor installiert. DieserDetektor ermöglicht den direkten Nachweis langsa-mer Rückstoßprotonen, die bisher nur durch indirekteMethoden bestimmt werden konnten.

Der HERMES Rückstoßdetektor

ZurMessungexklusiverReaktionenplantdieHERMESKollaboration den Einbau eines neuen Detektors. Die-ser umgibt das Target und soll Reaktionsproduktemoderaten Impulses unter großen Winkeln messen.Diese Reaktionsprodukte liegen außerhalb des Nach-weisbereichs des existierenden HERMES Spektro-meters; ihr Nachweis ist allerdings für die Identi-fikation mit geringem Untergrund dieser Klasse vonReaktionen unabdingbar. Der Rückstoßdetektor besteht

Abbildung 42: Bilder von der Vorder- und Rückseiteeines Siliziummoduls des HERMES Rückstoßdetektors.

Abbildung 43: Bild vom fertiggestellten Detektor ausszintillierenden Fasern des HERMES Rückstoßdetek-tors.

aus einem supraleitenden Magneten, einem Wolfram-Szintillator Kalorimeter, einem Detektor aus szintil-lierenden Fasern und einem doppelseitigem Silizium-Streifendetektor.

Das Jahr 2004 war dem Bau und der ersten Vermessungdieser Einzelkomponenten gewidmet. Abbildung 42zeigt Bilder von der Vorder- und Rückseite des Si-liziummoduls und Abbildung 43 den fertiggestelltenDetektor aus szintillierenden Fasern. Als Beispiel ausden verschiedenen durchgeführten Studien werden dieErgebnisse der Teststrahlstudien des Siliziumdetektorszusammengefasst.

Die Siliziummodule für den Rückstoßdetektor wurdenim T22 Teststrahl bei DESY mit 3 GeV Elektronen ge-testet. Mit diesem Teststrahl sollten Informationen überdas Verhalten der Sensoren auf minimal ionisisierendeTeilchen überprüft werden. Weitere Informationen be-züglich der Auflösung und der Effizienz konnten ausdiesen Daten gewonnen werden.

Der Siliziumdetektor des Rückstoßdetektors ist daraufausgelegt, auch große Signale zu messen, die durchlangsame Protonen erzeugt werden. Dementsprechendist das Signal eines minimal ionisisierenden Teilchens

77

HERMES Experiment

an der unteren Grenze des sensitiven Bereichs und einebesondere Herausforderung an die Analysetechnik.

In Abbildung 44 ist die Pulshöhenverteilung (in ADCKanälen) für einen Beispielstreifen aufgetragen. DieSpitze in der linken Bildhälfte stellt das Pedestal mitRauschen (den Nullwert) dar, während die Pulshöhen-verteilung oberhalb von 25 ADC Kanälen der theore-tisch erwarteten Verteilung für minimal ionisierendeTeilchen gut folgt. Eine Extrahierung der Signale vonTeilchen wurde erreicht indem die Pedestalverteilungmit der Gaußverteilung gefittet und anschließend vonder gesamten Verteilung subtrahiert wurde. Dies istmöglich weil die Signalverteilung gut von der Unter-grundverteilung getrennt ist.

Abbildung44: DiePulshöhenverteilung (inADCKanä-len) für einen Beispielstreifen des Siliziumdetektors desHERMES Rückstoßdetektors.

78

HERA-B Experiment

HERA-B Experiment

Beteiligte Institute: NIKHEF Amsterdam, Univ. Texas Austin, Univ. Barcelona, IHEP Beijing, Tsinghua Univ.Beijing, Humboldt Univ. Berlin, Univ. und INFN Bologna, Univ. Cincinnati, LIP and Univ. Coimbra, Niels BohrInst. Copenhagen, Wayne State Univ. Detroit, Univ. Dortmund, JINR Dubna, DESY Hamburg, MPI Kernphys. undUniv. Heidelberg, Univ. of Houston, INR Kiev, LIP und Univ. Lissabon, Jozef Stefan Inst. und Univ. Ljubljana,UC Los Angeles, Univ. Mannheim, ITEP Moscow, MPI Phys. München, Univ. Oslo, Univ. Rostock, Univ. Siegen,Univ. Utrecht, DESY Zeuthen, Univ. Zürich.

Sprecher: M. Medinnis, DESY

Mit dem HERA-B-Experiment soll insbesondere dieProduktion schwerer Quarks in hochenergetischenWechselwirkungen von Protonen mit Kernen unter-sucht werden. Das Experiment benutzt den HERA-Protonenstrahl, dessen Halo an den Atomkernenverschiedener dünner Drahttargets gestreut wird.Mit einer großen Akzeptanz, vorzüglicher Teilchen-identifikation und einem hochauflösenden Vertexde-tektor bietet das HERA-B-Spektrometer die bestenVoraussetzungen für detaillierte Studien komple-xer Vielteilchen-Endzustände. Der Zwei-Lepton-Trigger von HERA-B kann mit einer ausgeklügel-ten, schnellen Elektronik Ereignisse, welche zweiLeptonen enthalten, aus einem hohen Untergrundselektieren. Zum Beispiel werden die Zerfälle vonJ/ψ-Mesonen in Leptonpaare unter einer milli-ardenfach höheren Zahl von anderen Ereignissenherausgefiltert. Durch die Benutzung von Target-drähten aus verschiedenen Materialien (Kohlen-stoff, Titan, Wolfram) kann mit HERA-B die Ab-hängigkeit der Teilchenproduktion von der Kernla-dungszahl untersucht werden.

Im letzten Jahr hat die Kollaboration an der Analyseder in der Datennahmeperiode 2002/03 von HERA-Bgenommenen Daten gearbeitet. Diese Daten enthaltenetwa 150 Millionen Ereignisse, die mit dem Zwei-Lepton-Trigger aufgenommen wurden und von denenetwa 300 000 Ereignisse ein J/ψ-Meson im Endzustandenthalten. Zusätzlich wurden etwa 200 Millionen Er-eignisse mit einem sogenannten ,,Minimum Bias Trig-

ger“ aufgenommen, die allgemeine Studien inelasti-scher Proton-Kern-Reaktionen erlauben.

Auf der Basis dieser Daten bereitet die HERA-B-Kollaboration verschiedene Veröffentlichungen überdie Produktion schwerer Quarks (Bottom-, Charm-und Strange-Quarks) vor. Im Berichtsjahr sindzwei Analysen veröffentlicht worden: Grenzen aufflavour-ändernde neutrale Ströme im Zerfall neutralerD-Mesonen und Grenzen für die Produktion von Pen-taquarkzuständen mit Strangeness. Beide Veröffentli-chungen sind mit großem Interesse aufgenommen wor-den, was bei der Pentaquark-Analyse auch durch dieVeröffentlichung in Physics Review Letters unterstri-chen wird. Im Folgenden wird auf die im Berichtsjahram weitesten fortgeschrittenen Analysen eingegangen.

Suche nach Pentaquarkzuständen

Der ,,Minimum Bias“ Datensatz wurde nach einerSignatur für die Produktion der exotischen Baryonenθ +(1530) und Ξ−(1860) durchsucht. Diese neuen Ba-ryonen wurden kürzlich in anderen Experimenten be-obachtet und vorläufig als Bindungszustände von fünfQuarks, ,,Pentaquarks“, identifiziert, wie sie unter an-derem von dem ,,Chiral Soliton Model“ vorhergesagtwurden. In HERA-B wurden diese Zustände nicht be-obachtet. Die daraus abgeleiteten oberen Grenzen fürderen Produktion sind äußerst einschränkend für theo-

79

HERA-B Experiment

retische Modelle, die Voraussagen für die Produktionsolcher Zustände gemacht haben.

Der erste Hinweis auf die Existenz des θ +(1530)-Baryons kam 2003 von dem LEPS-Experiment in derjapanischen Forschungseinrichtung Spring-8. MehrereExperimente, so auch ZEUS und HERMES an HERA,haben danach die Produktion dieses Zustandes bestä-tigt. Der Zustand Ξ−(1860) wurde bisher nur in demCERN-Experiment NA49 beobachtet, bislang ohne Be-stätigung von anderen Experimenten. HERA-B berich-tete als erstes Experiment über die Nicht-Beobachtungdieser Zustände. Im Laufe des Berichtsjahres schlossensich dann mehrere Experimente dieser Aussage an. Ob-wohl die Nicht-Beobachtungen die positiven Eviden-zen nicht direkt widerlegen können, weisen sie dochdarauf hin, dass die Produktionsmechanismen ähnlichexotisch wie die Teilchen selbst sein müssen. Durchdie Bestimmung der oberen Grenzen für die Produk-tionsraten und, vielleicht noch wichtiger, durch obereGrenzen auf die Verhältnisse zu den Produktionsratenvon wohlbekannten Zuständen, trägt HERA-B wesent-lich zum Verständnis der Produktionsmechanismen beiund vielleicht auch zum Verständnis der Natur dieserZustände selbst – wenn sie denn existieren.

Der J/ψ-Wirkungsquerschnitt

Der Wirkungsquerschnitt für J/ψ-Produktion inproton-induzieren Reaktionen wurde über einen weitenBereich von Schwerpunktsenergien durch verschiedeneGruppen am Fermilab, CERN und kürzlich auch amRHIC gemessen. Allerdings ist die Situation nicht wirk-lich zufriedenstellend, da Messungen bei gleichen oderähnlichen Energien zum Teil bis zu einem Faktor 2 dif-ferieren, weit außerhalb der angegebenen Fehler. FürHERA-B stellt diese Unsicherheit ein großes Problemdar, weil der J/ψ-Wirkungsquerschnitt als Referenz zurNormierung der mit dem Zwei-Lepton-Trigger genom-menen Daten dient. Deshalb bemüht sich die HERA-B-Kollaboration, den J/ψ-Wirkungsquerschnitt selbst zubestimmen, und zwar mit Hilfe des ,,Minimum Bias“Datensatzes.

Abbildung 45 zeigt das aus diesen Daten gewonnene,sehr saubere Signal, das allerdings viel weniger J/ψ-Mesonen enthält als der getriggerte Datensatz (etwa 150

Abbildung 45: Das µ+µ−-Massenspektrum im ,,Mi-nimum Bias“ Datensatz. Die prominente Überhöhungbei etwa 3.1 GeV/c2 stammt von Zerfällen des J/ψ.

im Vergleich zu den 300 000 J/ψ mit Trigger). Der Vor-teil des ,,Minimum Bias“ Datensatzes besteht darin,dass die Nachweiswahrscheinlichkeit weitaus einfa-cher und zuverlässiger bestimmt werden kann. Dasvorläufige Ergebnis für den Wirkungsquerschnitt istzusammen mit anderen Messungen in Abbildung 46gezeigt. Die Proton-Kern Ergebnisse (pN) wurden aufdie gleiche A-Abhängigkeit (α = 0.96) umgerechnet.Die Analyse steht kurz vor dem Abschluss und sollin Kürze veröffentlicht werden. Diese neue Wirkungs-querschnittsmessung, kombiniert mit anderen Ergeb-nissen und theoretischen Annahmen für die Anpassungbei verschiedenen Energien, wird in Zukunft als Refe-renz für die Normierung anderer HERA-B-Messungendienen: Ein Beispiel dafür ist die Bestimmung desWirkungsquerschnittes der Beauty-Produktion, die imFolgenden beschrieben wird.

Die Erzeugung von Beauty-Quarks

Die Erzeugung von Bottom- und Antibottom-Quarks(b- und b-Quarks mit der Quantenzahl Beauty) in

80

HERA-B Experiment

Abbildung 46: Zusammenstellung von Messungen destotalen Wirkungsquerschnitts für J/ψ-Produktion alsFunktion der Schwerpunktsenergie.

proton-induzierten Reaktionen ist ebenfalls ein Gebiet,in dem die vorhandenen Messergebnisse widersprüch-lich sind. In Reaktionen, die durch die starke Kern-kraft vermittelt werden, wird immer ein Quark mitseinem Antiquark gemeinsam erzeugt. Nach der Er-zeugung können sich sowohl das b- als auch b-Quarkmit leichteren Quarks und Antiquarks zu Bottom-Hadronen vereinen, die offen die Beauty-Quantenzahldes b- oder b-Quarks tragen (,,open beauty“). DasQuark-Antiquark-Paar kann aber auch direkt einen Zu-stand der Υ-Familie bilden, wobei sich die Beauty-Quantenzahlen nach außen aufheben (,,hidden be-auty“). Außer der HERA-B-Messung gibt es nur zweiweitere Messungen des ,,open beauty“ Wirkungsquer-schnitts in dem gleichen Energiebereich, die aber nichtmiteinander konsistent sind.

Um mit HERA-B den ,,open beauty“ Wirkungsquer-schnitt zu messen, wird nach Zerfällen von Bottom-Hadronen in J/ψ gesucht. Die J/ψ-Zerfälle in Leptonenlassen sich sehr effizient mit dem Zwei-Lepton-Triggerselektieren. Die Abtrennung der J/ψ’s, die aus Zerfällenvon Bottom-Hadronen stammen, von den weitaus über-wiegenden direkt produzierten J/ψ’s gelingt durch Nut-

zung der endlichen Lebensdauer der Bottom-Hadronen:im HERA-B Detektor fliegt ein Bottom-Hadron typi-scherweise etwa 1 cm bevor es in andere Teilchen zer-fällt. Dieser von dem Targetdraht separierte Zerfallsver-tex kann mit dem Vertexdetektor sehr genau vermessenwerden. Die Wirkungsquerschnittsmessung besteht nundarin, die Anzahl der ,,detached“ J/ψ’s mit der Anzahlder ,,direkten“ J/ψ’s zu vergleichen. Da aus anderenExperimenten bekannt ist, mit welcher Wahrscheinlich-keit Bottom-Hadronen in J/ψ’s zerfallen, lässt sich dasVerhältnis des Bottom- zum J/ψ-Wirkungsquerschnittbestimmen. Eine solche Relativmessung bietet den Vor-teil, dass die Unsicherheiten in der Bestimmung der Ef-fizienz des Zwei-Lepton-Triggers erheblich reduziertwerden.

Entsprechend wurde der Υ-Wirkungsquerschnitt re-lativ zum J/ψ-Wirkungsquerschnitt bestimmt. DieAnalyse beider relativen Wirkungsquerschnitte ist ab-geschlossen. Die endgültigen Zahlen werden veröf-fentlicht, sobald der endgültige Wert des absolutenJ/ψ-Wirkungsquerschnittes vorliegt.

A-AbhängigkeitderJ/ψ-Produktion

Naiv würde man erwarten, dass der Wirkungsquer-schnitt für selten erzeugte Teilchen, wie das J/ψ, einfachvon der Anzahl der Nukleonen abhängt, die das ein-fallende Proton ,,sieht“, wenn es den Kern durchquert.Dann würde der Wirkungsquerschnitt linear von derMassenzahl des Targetkerns abhängen:

σpA = σpN ·A .

Dabei ist σpA der Wirkungsquerschnitt für J/ψ-Produktion in einer Kollision eines Protons mit einemKern der Massenzahl A und σpN ist der gleiche Wir-kungsquerschnitt für die Kollision eines Protons miteinem einzelnen Nukleon (Proton oder Neutron). Ex-perimentell ergibt sich allerdings, dass die obige Glei-chung modifiziert werden muss, um die Beobachtungenzu beschreiben:

σpA = σpN ·Aα ,

wobei der neu eingeführte Parameter α zu etwas weni-ger als 1 gemessen wird (im Mittel etwa 0.96) und vom

81

HERA-B Experiment

Abbildung 47: Die Abhängigkeit der ,,nuklearen Un-terdrückung“ α (siehe Text) vom dem Impuls des J/ψtransversal zur Strahlrichtung.

Impuls des erzeugten J/ψ abhängt. Es gibt verschie-denen Spekulationen über den Grund für diese ,,J/ψ-Unterdrückung“: mögliche Modifikationen der Parton-impulse der Nukleonen, wenn sie in einem Kern einge-bettet sind, Modifikationen der Impulse der Partonenim Anfangszustand des Protons als Folge von Kolli-sionen in dem Kern vor der Erzeugung des J/ψ (,,re-scattering“), Aufbrechen des J/ψ in Kollisionen mitden anderen Nukleonen oder mit anderen in der Reak-tion erzeugten Teilchen nach der J/ψ-Produktion undQuanteninterferenz-Effekte im Erzeugungsprozess. InAbbildung 47 ist ein vorläufiges Resultat von HERA-Bfür die Messung von α als Funktion des J/ψ-Impulsestransversal zu der Strahlrichtung (pT) im Vergleichzu einer Messung des Fermilab-Experimentes E866gezeigt.

Die beiden Messungen stimmen gut überein. Die beob-achtete Abhängigkeit vom Transversalimpuls lässt sicham ehesten mit dem oben erwähnten ,,re-scattering“Mechanismuserklären.WenndieAnalysenabgeschlos-sen sind, wird HERA-B die Messungen von E866in den theoretisch interessanten Bereich kleiner J/ψ-Longitudinalimpulse (parallel zur Strahlrichtung) er-weitern.

Produktion von ψ′-Mesonen

Die theoretischen Modelle für die Produktion vonCharmonium-Zuständen in hadronischen Reaktionenunterscheiden sich in den Vorhersagen der relati-ven Produktionsraten der verschiedenen Charmonium-Zustände wie ηc, J/ψ, ψ′, χc. Die Messung dieserverschieden Produktionsraten ist also wichtig, um dieModelle zu überprüfen und eventuell weiterzuentwi-ckeln. Außerdem sind diese Messungen notwendigzum Verständnis der J/ψ-Raten, weil die beobachtetenJ/ψ’s zum Teil aus Zerfällen von anderen Charmonium-Zuständen stammen.

NachdemHERA-BimletztenJahresberichtbereitsüberdie χc-Analyse berichtet hat, soll hier die Analyse derψ′-Produktion dargestellt werden. Die ψ′-Produktionin proton-induzierten Reaktionen ist in einen weitenEnergiebereich von Experimenten am Fermilab undCERN gemessen worden. Allerdings erlauben die ex-perimentellen Daten auch in diesem Fall noch keineBeantwortung der angesprochenen Fragen. Gründe da-für sind geringe Statistik oder zu geringe Massen-auflösung, um die Zustände trennen zu können. Dasvon HERA-B gemessene Massenspektrum von Myon-paaren in Abbildung 48 mit den prominenten Über-höhungen bei den J/ψ- und ψ′-Massen enthält etwa150 000 J/ψ und 3000 ψ′. Daraus hat HERA-B das Pro-duktionsverhältnisvonψ′ zuJ/ψ (jeweils für denZerfall

Abbildung 48: Massenspektrum von µ+µ−-Paaren ge-messen in Proton-Kern-Reaktionen mit den Signalen fürJ/ψ- und ψ ′-Erzeugung.

82

HERA-B Experiment

Abbildung 49: Messungen des Produktionsverhältnis-ses von ψ ′ zu J/ψ als Funktion der Energie. Die HERA-B-Messung hat den kleinsten statistischen Fehler. DieMessungen sind verträglich mit einer Energieunabhän-gigkeit.

in Myonpaare) bestimmt. In Abbildung 49 wird dieseMessung mit denen anderer Experimente bei anderenEnergien verglichen. Offensichtlich trägt HERA-B mitdem kleinen Fehler, der durch Hinzunahme des e+e−-Zerfallskanals noch verringert werden kann, wesentlichzur Verbesserung der experimentellen Situation bei.

A-Abhängigkeit derφ(1020)-Produktion

HERA-BhaterstmalsdieA-Abhängigkeitderφ(1020)-Produktion in Proton-Kern Reaktionen bestimmt. Wiedas J/ψ ist das φ-Meson ein gebundener Zustand ei-nes Quarks mit seinem eigenen Antiquark; in diesemFall ist es ein Quark-Paar mit Strangeness und Anti-Strangeness. Auch hier wird die A-Abhängigkeit miteinem Potenzgesetz ∼ Aα parametrisiert. Die Abhän-

Abbildung 50: Die Abhängigkeit der ,,nuklearen Unter-drückung“ α (siehe Text) vom dem Impuls des φ(1020)

transversal zur Strahlrichtung. Zum Vergleich wird eineMessung von α für die Produktion von K+-Mesonengezeigt.

gigkeit des Exponenten α vom Transversalimpuls desφ-Mesons ist in Abbildung 50 gezeigt. Die Abbil-dung enthält auch einen Vergleich mit einer entspre-chenden Fermilab-Messung für K+-Mesonen. BeideMessungen stimmen untereinander und auch mit denJ/ψ-Daten überein, was dem ,,re-scattering“ Mecha-nismus, der im vorigen Abschnitt als primäre Er-klärung für den Anstieg mit dem Transversalimpulsherangezogen wurde, zusätzliche Glaubwürdigkeit ver-leiht.

Die Veröffentlichung dieses Ergebnisses, zusammenmit der ebenfalls bestimmten A-Abhängigkeit desK∗(892)-Zustandes und den differentiellen Wirkungs-querschnitten der Produktion der Vektormesonenφ(1020) und K∗(892), ist in Vorbereitung.

83

84

Theoretische Physik

Theoretische PhysikSprecher: F. Schrempp

Das wissenschaftliche Programm der DESY-Theoriegruppe und des II. Instituts für TheoretischePhysik hatte folgende Schwerpunkte:

– HERA-Physik und QCD;

– Gittereichtheorie;

– B-Physik;

– Collider-Physik;

– Neutrinophysik und Kosmologie;

– Vereinheitlichte Theorien;

– Stringtheorie;

– Mathematische Physik.

HERA-Physik und QCD

Small-x Physik

Die Messungen der tiefinelastischen Elektron-Proton-Streuung bei HERA haben intensive Untersuchungender Physik kleiner Bjorken-x angeregt. Im letzten Jahrsindvor allemzwei Forschungsrichtungenverfolgt wor-den: ein genaueres Verständnis der BFKL-Dynamik so-wie theoretische und numerische Untersuchungen vonnichtlinearen Korrekturen zu den Evolutionsgleichun-gen der QCD (BFKL bzw. DGLAP).

Zum konsistenten Test der BFKL-Dynamik in dernächstführenden Ordnung (NLO) fehlen zur Zeit nochdie NLO-Korrekturen zu den Impaktfaktoren, welchedie Ankopplung der BFKL-Green-Funktion an äußereTeilchen beschreiben (die NLO-Korrekturen zur Green-Funktion sind seit einigen Jahren bekannt). Für denPhoton-Impaktfaktor, der sowohl in der tiefinelasti-schen Streuung bei HERA als auch an einem e+e−-Linear Collider eine zentrale Rolle spielt, wurden die

analytischen Rechnungen soweit zu Ende geführt, dassnun numerische Rechnungen in Angriff genommenwerden können. Erste numerische Resultate zu den reel-len Korrekturen sind in [DESY 04-116] veröffentlicht.Für praktische Anwendungen ist die Entwicklung voneffektiven numerischen Integrationsprogrammen vonhoher Bedeutung. Erste Resultate mit einem solchenComputer-Algorithmus wurden in [hep-ph/0408008]vorgestellt. Zu den möglichen praktischen Anwendun-gen zählen auch Prozesse an Hadron Collidern, z. B.die W-Produktion [hep-ph/0409206, hep-ph/0409337].Im Hinblick auf einen möglichen Zusammenhang derBFKL-Dynamik mit Stringtheorien ist die Erweiterungvon der QCD auf supersymmetrische Eichtheorien vonInteresse. In [DESY 04-085] wird die Erweiterung derBFKL-Green-Funktion auf N = 4 supersymmetrischeTheorien beschrieben.

Die Balitsky-Kovchegov- (BK) Gleichung liefert einenattraktiven theoretischen Rahmen für die Untersuchungnichtlinearer Effekte bei hohen Gluondichten, die zumPhänomen der Saturation führen. Diese Gleichung wirdvorwiegend im Farbdipol-Bild hergeleitet und disku-tiert; der Vorteil dieser Beschreibungsweise liegt vorallem in seiner physikalischen Anschaulichkeit. ZumVerständnis physikalischer Endzustände und zur Be-rechnung von Wirkungsquerschnitten ist es notwen-dig, diese Gleichung auch im Impulsraum zu analy-sieren: in [DESY 04-067] wird eine Herleitung derGleichung im Impulsraum beschrieben. Hierbei spie-len die Symmetrieeigenschaften der BFKL-Näherungeine zentrale Rolle. Der Impulsraum-Zugang erlaubt esauch, Korrekturen zum Integralkern der BK-Gleichungzu berechnen. Von besonderem Interesse ist der Zu-sammenhang der BK-Gleichung mit diffraktiven End-zuständen. In [DESY 04-252] wurde gezeigt, dassdie BK-Gleichung nur einen Teil des elastischen dif-fraktiven Endzustands enthält. Bisher stützen sich dieUntersuchungen von Lösungen der nichtlinearen BK-Gleichung vor allem auf numerische Untersuchun-

85

Theoretische Physik

gen; insbesondere wurde auf diese Weise die Exis-tenz von Soliton-Lösungen gezeigt. Als erster Schrittauf dem Wege zu analytischen Lösungen wurde in[DESY 04-104] die BK-Gleichung in 2+1 Dimen-sionen untersucht. Dabei wurde gezeigt, dass die Glei-chung zur Klassse der Painleve-Gleichungen gehört.Eine numerische Abschätzung höherer Korrekturen zurBK-Gleichung wird in [DESY 04-153] durch die Ein-führung eines Rapidity-Vetos berechnet.

Die Beschreibung der HERA-Daten für Elektron-Proton-Streuung bei kleiner Photonvirtualität Q2 führtim Standardformalismus der tiefinelastischen Streuungzu Problemen. Insbesondere liefern Fits an die Dateneine unphysikalische, negative Gluondichte bei klei-nen Q2. Ausgehend von der Überlegung, dass Photonenmit kleinem Q2 einzelne Partonen im Proton nicht auf-lösen können, wurde in [hep-ph/0402248] eine phäno-menologische Beschreibung im Rahmen der verallge-meinerten Vektormeson-Dominanz vorgeschlagen. Mitnur wenigen Parametern wurde gute Übereinstimmungmit den gemessenen Strukturfunktionen bei kleinem Q2

erreicht. Eine Kombination dieses Zugangs mit demFormalismus der Partondichten erlaubt eine gute Be-schreibung der Daten im gesamten Bereich von Q2 undBjorken-x.

Instantonen und Saturation

Als klassische, nichtperturbative und explizit bekannteFluktuationen des Gluon-Feldes ∝ 1/

√αs stellen In-

stantonen einen interessanten alternativen Zugang zumSaturationsphänomen dar. Im kinematischen Bereichder Saturation ist die mögliche Relevanz solcher nicht-perturbativen Feldkonfigurationen der QCD wohlmo-tiviert. Ihre Untersuchung wurde daher intensiv wei-terverfolgt [hep-ph/0401137, DESY 04-124]. Wich-tigstes Ergebnis dieses Zugangs ist, dass Instantonenals klassische Hintergrundfelder tatsächlich Anlass zurGluonsaturation geben. Als charakteristische Satura-tionsskala ergibt sich die von Gittersimulationen be-kannte mittlere Instantongröße 〈ρ〉 ≈ 0.5 fm. Beson-ders interessant erscheint schließlich die Identifikationdes ,,Farbglas-Kondensats“ mit dem QCD-Sphaleron[DESY 04-124], einem wohlbekannten, kohärentenMulti-Gluon-Zustand auf dem Gipfel der Potential-barriere, die im Instantonbild benachbarte, topologischnicht äquivalente Vakua trennt.

Diffraktion

Ein neuer Zugang zur Dynamik der diffraktiven tiefin-elastischen Streuung wurde in [hep-ph/0409119] vor-gestellt. Die Vielfachstreuung des vom Photon ausge-lösten Quarks im Proton wird im Grenzfall großer Q2

durch Wilson-Linien beschrieben, welche in der feld-theoretischen Definition der Partondichten auftreten.Durch diese Vielfachstreuung wird eine effektive Neu-tralisation von Farbladungen ermöglicht, die ein (fürdiffraktive Prozesse charakteristisches) intaktes schnel-les Proton im Endzustand erlaubt. Diese Überlegungenliefern eine theoretische Motivation für das phänome-nologische Modell der ,,Soft Color Interactions“, wel-ches duch eine Rekombination der Farbladungen so-wohl diffraktive als auch nichtdiffraktive Endzuständegut beschreibt.

Für diffraktive Prozesse in der tiefinelastischen Streu-ung existieren Faktorisierungstheoreme, die deren Be-schreibung mit Hilfe von ,,diffraktiven Partondichten“erlauben. Die theoretische Analyse sagt eine Brechungdieser Faktorisierung in der Photoproduktion vorher.Die Stärke dieser Brechung ist auch mit Blick aufAnwendungen in Proton-Proton-Stößen am LHC vonBedeutung. In [DESY 04-011] wurde die diffraktivePhotoproduktion von hadronischen Di-Jets zur nächst-führenden Ordnung in αs berechnet. Ein Vergleich mitvorläufigen Daten der H1-Kollaboration zeigt eine deut-liche Brechung der Faktorisierung um etwa einen Fak-tor 3 im Wirkungsquerschnitt. In [hep-ph/0410105]wurde diese Analyse auf den Fall endlicher kleiner Q2

ausgeweitet.

Verallgemeinerte Partondichten

Verallgemeinerte Partondichten beschreiben grundle-gende Aspekte der Struktur des Protons auf der Ebenevon Quarks und Gluonen. Die Messung dieser Grö-ßen in exklusiven Streuprozessen wird aktiv von denHERA-Experimenten verfolgt. Der Buchbeitrag [Bur-kert und Diehl, 2004] gibt eine Übersicht über dierelevanten theoretischen und experimentellen Ergeb-nisse. Summenregeln verknüpfen verallgemeinerte Par-tondichten mit den elektromagnetischen Formfaktoren,die inelastischerLepton-Nukleon-Streuungsehrgutge-messen sind. In [DESY 04-146] wurde eine Parametri-sierung der verallgemeinerten Dichten entwickelt und

86

Theoretische Physik

Abbildung 51: Mittlerer Radius√〈b2〉 der transver-

salen räumlichen Verteilung eines Valenzquarks in Ab-hängigkeit vom Impulsbruchteil x des Quarks im schnellbewegten Proton.

an die experimentell gemessenen Formfaktoren ange-passt. Ergebnisse dieser Studie stimmen qualitativ mitersten Berechnungen in der Gittereichtheorie überein.Insbesondere wird die räumliche Verteilung von Va-lenzquarks in der Ebene senkrecht zum Impuls einesschnell bewegten Protons mit zunehmendem Impulsdes Quarks (Abb. 51) deutlich kompakter. Weiterhinwurde der Beitrag des Bahndrehimpulses von Valenz-quarks zum Gesamtspin des Protons abgeschätzt: dieBeiträge von u- und d-Quarks sind für sich genommengroß, kompensieren sich jedoch weitgehend in ihrerSumme.

Fragmentation

In der QCD wird die inklusive Erzeugung von Hadronenmit Hilfe von Fragmentierungsfunktionen beschrieben.Das Faktorisierungstheorem der QCD sagt für dieseObjekte zwei wichtige Eigenschaften vorher, die expe-rimentell überprüft werden können, nämlich Universa-lität und wohldefiniertes Skalenverhalten. Im Bereichkleiner Impulsüberträge z vom Mutterparton an das Ha-dron überwiegt die Fragmentierung des Gluons, und dieSkalenabhängigkeit weicht in charakteristischer Weisevon der wohlbekannten DGLAP-Evolution ab. Dort fin-det die modifizierte Näherung durch führende Logarith-

men (MLLA) Anwendung. Im Rahmen dieses Forma-lismus wurden die Gluon-Fragmentierungsfunktion fürleichte Hadronen (π±, K± und p/p) und der asymptoti-sche SkalenparameterΛQCD durch einen globalen Fit anDaten der e+e−-Annihilation bei kleinen z-Werten undverschiedenen Energien bestimmt. Hierbei wurde einevorzügliche Beschreibung der Daten über den wohl-bekannten Gaußschen Höcker (hump-backed plateau)hinweg erzielt [DESY 04-039]. Ferner wurde gezeigt,dass die höheren Momente der MLLA-Evolution alsunvollständige Terme höherer Ordnung betrachtet wer-den müssen, und dass die Beschreibung der Daten ver-bessert wird, wenn diese Terme weggelassen werden[DESY 04-142].

Die inklusive Produktion leichter Hadronen in dertiefinelastischen Lepton-Nukleon-Streuung wurde zurnächstführenden Ordnung (NLO) in der starken Kopp-lungskonstanten αs unter Verwendung der Fragmentie-rungsfuktionen aus [DESY 00-086] behandelt [DESY04-224]. Die gefundenen NLO-Korrekturen sind in ge-wissen Phasenraumbereichen, insbesondere bei kleinenWerten von Bjorken-x, von beträchtlicher Größe undführen zu einer guten Übereinstimmung mit den vonder H1- bzw. ZEUS-Kollaboration bei HERA gemesse-nen Verteilungen der Wirkungsquerschnitte für neutralePionen und geladene Hadronen.

Die inklusive Photoproduktion von D∗-Mesonen zu-sammen mit hadronischen Jets wurde in der Nährerungmasseloser Quarks unter Verwendung der Fragmentie-rungsfuktionen aus [DESY 97-241] zu NLO berechnet[DESY 04-181]. Die gute Übereinstimmung mit jüngs-ten ZEUS-Daten stellt einen wertvollen Test für dieUniversalität der Fragmentierungsfunktionen dar. Wei-terhin konnte die Gegenwart sogenannter intrinsischerCharm-Quarks im aufgelösten Photon nachgewiesenwerden.

Die inklusive Hadroproduktion schwerer Hadro-nen (D, B) im Übergangsbereich zwischen kleinen(pT ∼< mh) und großen (pT � mh) Transversalimpulsenwurde in NLO im Rahmen eines theoretischen For-malismus behandelt, der einerseits Massenkorrekturenvollständig berücksichtigt und andererseits die Univer-salität und Skalenverletzung der Fragmentierungsfunk-tionen gewährleistet. Theoretische Vorhersagen für dieinklusive D∗-Erzeugung in Proton-Antiproton-Stößenam Tevatron stimmen innerhalb der Fehler mit Datender CDF-Kollaboration überein [DESY 04-172]. Vor-

87

Theoretische Physik

läufige Daten zur inklusiven D∗-Photoproduktion beiZEUS werden ebenfalls in diesem Formalismus relativgut beschrieben [DESY 04-196].

Nichtrelativistische QCD

Die Faktorisierungshypothese der nichtrelativistischenQCD (NRQCD) sagt die Existenz sogenannter Farb-oktettprozesse vorher, d. h. schwere Quarkonia könnenauch aus Quark-Antiquark-Paaren entstehen, wenn de-ren Farbladungen nicht neutralisiert sind. Da die Über-prüfung dieser Theorie in niederster Ordnung durchbeträchtliche Skalenunsicherheiten erschwert wird, istihre Behandlung in nächstführender Ordnung in αs bzw.der Relativgeschwindingkeit v der gebundenen Quarksnötig. Als ein erster Schritt in diese Richtung wurde dieErzeugung von prompten J/ψ-Mesonen zusammen mithadronischen Jets [DESY 04-080] bzw. prompten Pho-tonen [DESY 04-149] durch direkte Photoproduktion inZwei-Photon-Stößen an einem e+e−-Collider betrach-tet. Dabei wurden signifikante NLO-Korrekturfaktorengefunden. Diese Untersuchungen sind auch in konzep-tioneller Hinsicht lehrreich, da verschiedene Typen vonSingularitäten zusammenwirken und die Mischung derbeitragenden NRQCD-Operatoren unter Renormierungberüchsichtigt werden muss.

Das Potential zwischen einem statischen Quark undseinem Antiquark wurde in der Zweischleifenordnungfür den Fall berechnet, dass sich das gebundene Systemim Farboktettzustand befindet. Während das Ergebniszu einer Schleife mit demjenigen für den Farbsingulett-zustand übereinstimmt, tritt in der Zweischleifenord-nung erstmals eine Abweichung auf. Dieses Ergebniswird in der NRQCD zur Behandlung ultraweicherGluonen in höheren Ordnungen der Störungstheoriebenötigt. Ferner wird es für die Untersuchung derGluino-Antigluino-Paarerzeugung in der Schwellenre-gion gebraucht und bestimmt die Eigenschaften von,,Glueballinos“, den supersymmetrischen Partnern derGluebälle [DESY 04-232].

QCD und elektroschwache Physik

Theorien zur Vereinheitlichung der fundamentalenWechselwirkungen (GUT) sagen vorher, dass gewisse

Klassen laufender Kopplungen sich an der GUT-Energieskala treffen. Um diese laufenden Kopplungenan der elektroschwachen Energieskala durch die expe-rimentell ermittelten Werte der Kopplungen und Mas-sen auszudrücken, werden sogenannte Schwellenrela-tionen benötigt. Für die laufenden Yukawakopplungender ersten fünf Quark-Flavors wurden diese Schwel-lenrelationen in der dominanten ZweischleifenordnungO(αemαs) berechnet [DESY 04-108].

Die NuTeV-Kollaboration hat den elektroschwachenMischungsparameter sin2 θ W in der Streuung von Neu-trinos oder Antineutrinos am Nukleon bestimmt. DasErgebnis ist als Hinweis auf neue Physik jenseits desStandardmodells interpretiert worden. Die Extraktionvon sin2 θ W hängt jedoch von einer möglichen Asym-metrie in der Verteilung von s-Quarks und Antiquarksim Nukleon ab, welche in einem phänomenologisch er-folgreichen Modell für Partonverteilungen abgeschätztwurde. Das Ergebnis dieser Abschätzung reduziert dieAbweichung des NuTeV-Resultats vom Standardmo-dell auf etwa zwei Standardabweichungen, so dassdie Messung keinen signifikanten Nachweis für neuePhysik liefert [hep-ph/0407364].

Gittereichtheorie

Die Aktivitäten im Bereich Gittereichtheorie konzen-trierten sich einerseits auf Simulationen der QCD mitdynamischen Quarks, andererseits auf Rechnungen mitexakter chiraler Symmetrie, die wegen des hohen nu-merischen Aufwands bislang noch in der quenchedApproximation durchgeführt werden müssen.

Ziel dieser Rechnungen ist die Bestimmung voneffektiven Kopplungskonstanten (,,Gasser-Leutwyler-Konstanten“) der chiralen Störungstheorie aus Simu-lationsdaten. Langfristig erhofft man sich dadurchAufschluss über phänomenologische Fragen wie dieMöglichkeit eines masselosen Up-Quarks oder der Er-klärung der ∆I = 1/2-Regel.

Gitter-QCD mit leichten Quarks

Die qq+q-Kollaboration hat die numerischen Simula-tionen der QCD mit zwei leichten, dynamischen Quarks

88

Theoretische Physik

fortgesetzt. Mit Hilfe der Untersuchung der Quark-massenabhängigkeit der Pion-Masse und der Pion-Zerfallskonstanten wurden die ersten Abschätzun-gen bestimmter Kombinationen von Gasser-Leutwyler-Koeffizienten veröffentlicht [DESY 04-046, 04-158].

Umdie Extrapolation zumKontinuumslimes zu erleich-tern, wurden die numerischen Simulationen mit leich-ten Quarks – in einer erweiterten Kollaboration mitder NIC-Forschungsgruppe am DESY in Zeuthen –in der sogenannten ,,Twisted-Mass-Formulierung“ derQCD fortgesetzt [DESY 04-098, DESY 04-162, DESY04-188]. Dabei wurde in erster Linie die Phasenstrukturum die Singularität bei verschwindender Quarkmasseuntersucht. Es wurde gezeigt, dass bei verschwinden-der Quarkmasse ein Phasenübergang erster Ordnungexistiert, dessen Stärke von der Wahl der Eichwirkungabhängt.

QCD im ε-Regime

Als ε-Regime der QCD bezeichnet man den kinema-tischen Bereich, der durch ein endliches Volumen beibeliebig kleinen Quarkmassen definiert ist. Die chi-rale Störungstheorie lässt sich auch auf diese Situation

Abbildung52: BerechnungderPion-Zerfallskonstantenim ε-Regime (schwarze Raute), sowie durch chirale Ex-trapolation der Daten im p-Regime (rote Punkte undLinie).

anwenden, wobei die chirale Entwicklung durch die-selben Gasser-Leutwyler-Koeffizienten parametrisiertwird wie die Theorie im physikalisch großen Volumen(p-Regime). Durch Vergleich mit Gitterdaten der QCDim ε-Regime können diese Koeffizienten mit finite-sizescaling Verfahren bestimmt werden.

In einer ersten Rechnung [DESY 04-009] konnte dieParametrisierung beider kinematischer Bereiche durcheinen konsistenten Satz von effektiven Kopplungskon-stanten explizit verifiziert werden. Hierzu wurde diePion-Zerfallskonstante in zwei voneinander unabhän-gigen Simulationen im ε- und p-Regime bestimmt(Abb. 52). Eine technische Schwierigkeit der Simu-lation im ε-Regime bestand in der extremen statis-tischen Fluktuation der relevanten Korrelationsfunk-tionen. Unsere Gruppe hat eine Methode entwickelt,die die Beiträge der niedrigen Eigenmoden des Gitter-Dirac-Operators zu Korrelationsfunktionen exakt be-rücksichtigt. Durch dieses sogenannte low-mode ave-raging konnte das statistische Signal entscheidend ver-bessert werden.

K → ππ und die �I = 1/2 Regel

In einer weiteren Publikation [DESY 04-081] wurdeeine Strategie vorgestellt, die es ermöglichen soll, dieUrsachen der bekannten ∆I = 1/2-Regel im ZerfallK → ππ zu untersuchen. Im Zentrum des Interessessteht die Frage nach der Rolle des Charm-Quarks,und ob seine relativ große Masse den Zerfall in denππ-Endzustand mit Isospin 0 begünstigt. Insbesondereversucht man die Effekte des Charm-Quarks von denübrigen QCD-Effekten zu isolieren. Dies soll durchden Vergleich der Resultate für den Fall eines unphy-sikalisch leichten Charm-Quarks (mc = mu) mit derphysikalischen Situation erreicht werden. Die Zerfalls-amplituden für K → ππ lassen sich durch effektiveKopplungskonstanten der chiralen Störungstheorie aus-drücken, und das Ziel der Gitterrechnung ist die Bestim-mung dieser Kopplungsparameter, analog zum Fall derPion-Zerfallskonstante. Ein zentraler Bestandteil unse-rer Strategie ist die Verwendung des ε-Regimes: durchdas veränderte chirale Zählschema wird ein Vergleichvon Gitterdaten mit den Ausdrücken der chiralen Stö-rungstheorie zur nächstführenden Ordnung ermöglicht.Im p-Regime ist das entsprechende matching zu die-ser Ordnung i. a. nicht durchführbar. Die Verwendung

89

Theoretische Physik

von Gitter-Fermionen mit exakter Symmetrie ist einweiterer großer Vorteil bei der Berechnung der nöti-gen Operatormatrixelemente, da keine Mischung mitOperatoren verschiedener Chiralität auftritt, und dieschwierige nichtperturbative Subtraktion von Operato-ren niedriger Dimensionen völlig vermieden werdenkann.

Die Simulationen im ε-Regime sind allerdings tech-nisch sehr aufwendig und kostspielig. Insbesonderesind die statistischen Fluktuationen in den betrachte-ten 3-Punkt-Korrelationsfunktionen so groß, dass low-mode averaging nur mit einer hohen Zahl berechneterEigenmoden eine befriedigende Wirkung zeigt [DESY04-171]. Konkrete Resultate werden in nächster Zeiterwartet.

B-Physik

Theoretische Untersuchungen der Physik schwererQuarks sind ein wesentlicher Bestandteil der seit eini-gen Jahren in der DESY-Theoriegruppe und am II. In-stitut für Theoretische Physik durchgeführten Arbeiten.Die B-Fabriken am KEK (Japan) und PEP (USA) sowiedie Experimente CDF und D0 am Fermilab (USA) lie-fern die wichtigsten experimentellen Ergebnisse, diefür die Präzisionsphysik der B-Mesonen von zentra-ler Bedeutung sind. Mit besonderer Aufmerksamkeitwurden die Daten für die seltenen B-Zerfälle und dieCP-Asymmetrie in B-Meson-Übergängen verfolgt.

Der Zerfall B → Xsγ spielt als Präzisionstest derFlavorübergänge im Standardmodell und in super-symmetrischen Theorien eine wichtige Rolle. Umdie Abschätzungen im Standardmodell zu untermau-ern, ist die Next-to-next-to-leading-Ordnung (NLL)der QCD-Strahlungskorrekturen für die ZerfallsrateΓ(B → Xsγ) erforderlich. Ein wesentlicher Teil dieserStrahlungskorrekturen (3-loop-Matching) wurde be-rechnet [DESY 04-001]. Der Zerfall B → Xdγ lie-fert wichtige Information über das Element Vtd derCabibbo-Kobayashi-Maskawa-Matrix (CKM). Der in-klusive Zerfall ist aber bis jetzt wegen des Kontinuum-Hintergrunds experimentell nicht zugänglich. Die ex-klusiven Zerfälle B → (ρ,ω)γ stellen eine Alterna-tive dar und sind in NL-Ordnung theoretisch berechnetworden [DESY 04-065]. Die Übergänge B → (ρ,ω)γ

sind zwar noch nicht gemessen worden, aber dievorhandenen oberen Schranken sind für die CKM-Phänomenologie schon interessant und liefern komple-mentäre Information über das CKM-Unitaritätsdreieck.

Die Experimente BABAR und BELLE haben Messun-gen der zeitabhängigen CP-Asymmetrie in den Zer-fällen B0 → π+π− und B0 → π+π− sowie die erstestatistisch signifikante Messung der sogenannten direk-ten CP-Verletzung in den Zerfällen B0 → K+π− undB0 → K−π+ veröffentlicht. Diese Messungen liefernwichtige Hinweise auf die Winkel des Unitaritätsdrei-ecks sowie auf mögliche Physik jenseits des Standard-modells und sind für die Entschlüssung der Flavordy-namik der B-Mesonen sehr hilfreich. Sie wurden, zu-sammen mit anderen Messungen der CP-Asymmetrienund der CKM-Matrix, phänomenologisch untersucht[DESY 04-036]. Die erlaubten Werte (berechnet mit68% C.L.), 81◦ ≤ α ≤ 103◦, 21.9◦ ≤ β ≤ 25.5◦ und54◦ ≤ γ ≤ 75◦, sind mit deren indirekten Abschätzun-gen innerhalb des Standardmodells in sehr guter Über-einstimmung.

Weitherhin wurden die Eigenschaften des Systemsschwerer Quarks bc theoretisch untersucht. DieHyperfeinaufspaltung im System bc in der NL-Ordnung wurde mit Hilfe der nichtrelativistichen Re-normierungsgruppe berechnet. Das Ergebnis M(B∗

c)−M(Bc) = 65±24(th)+19

−16(δαs) MeV [DESY 04-042] istexperimentell noch nicht überprüft worden. Der Wir-kungsquerschnitt σ(pp → B∗

cX) wurde mit Hilfe der so-genannten k⊥-Faktorisierungsmethode berechnet undist in guter Übereinstimmung mit den experimentel-len Messungen am Tevatron [DESY 04-220]. Eine Zu-sammenfassung der theoretischen Aspekte der Phy-sik schwerer Quarks in zahlreichen Zerfällen vonB-Mesonen wurde zusammen mit den experimentel-len Ergebnissen veröffentlicht und führt zum Schluss,dass das Standardmodell alle Flavorübergänge gut be-schreibt [DESY 04-236].

Collider-Physik

Der Protonen Collider LHC und der e+e−-Linear Col-lider ILC sind die entscheidenden experimentellen In-strumente, um in naher Zukunft die grundlegendenenAspekte der Physik bei hohen Energien im TeV-Bereich

90

Theoretische Physik

verstehen zu können. Sie werden es erlauben, ein kla-res Bild der Massenerzeugung im Higgs-Mechanismusdes Standardmodells oder der in jüngster Zeit entwi-ckelten Alternativen, wie etwa Little-Higgs-Modellen,zu entwerfen.

Von physikalisch großer Attraktivität ist die supersym-metrische Erweiterung des Standardmodells, die stabileVerbindungen bis zur Planck-Skala aufzubauen gestat-tet, wo die Teilchenphysik mit der Gravitation verein-heitlicht wird. Um in diesen Bereich vordringen zukönnen, müssen Extrapolationen ausgeführt werden,welche ein genaues physikalisches Bild an der elek-troschwachen Skala erfordern. Auf diese Weise lassensich die fundamentale supersymmetrische Theorie undihr Brechungsmechanismus rekonstruieren. Supergra-vitationstheorien sind, neben anders gearteten, kosmo-logisch motivierten Alternativen, hervorragende Kan-didaten, die zu einem vereinheitlichten Bild führen.Ihre Eigenschaften können in Experimenten an den zu-künftigen TeV-Collidern eindeutig und präzise erfasstwerden.

Higgs-Physik

Higgs-Physik am LHC und ILC

Die Suche nach dem Higgs-Boson H, dem fehlendenGlied im Standardmodell der Elementarteilchen, stütztsich am LHC im Massenbereich unterhalb von etwa140 GeV vor allem auf das photonische Zerfallssignal,so dass eine möglichst genaue theoretische Vorhersagedes entsprechenden Verzweigungsverhältnisses benö-tigt wird. Der Zerfall H → γγ vollzieht sich in nieders-ter Ordnung der Störungsrechnung durch Feynman-Diagramme, in denen ein virtuelles W-Boson oderTop-Quark zirkuliert. Die führenden Korrekturen derstarken Wechselwirkung (in O(αs)) wurden vor mehrals einem Jahrzehnt von einer DESY-Gruppe berech-net. Kürzlich wurden die führenden elektroschwachenKorrekturen (in O(GFm2

t )), die durch die große Top-Yukawakopplung hervorgerufen werden, mit Hilfe derMethode der asymptotischen Entwicklung ausgewer-tet. Kurioserweise stellt sich heraus, dass diese beidenKorrekturen sich näherungsweise gegenseitig aufheben[DESY 04-040].

Die Reaktion pp → tt+ jet am LHC ist ein wichtigerUntergrund für die Suche nach dem Higgs-Boson im

Massenbereich mH < 200 GeV. Der wichtige Signal-prozess ist hier die Vektorboson-Fusion mit anschlie-ßendem Zerfall H → WW. Der Wirkungsquerschnittfür tt+ jet-Produktion muss besser als auf 10% ge-nau bekannt sein, um die theoretische Unsicherheit inder Bestimmung von σH = σVBF ×B(H → WW) zu be-herrschen. Dies wird durch die Berechnung der QCD-Korrekturen erreicht; erste Ergebnisse dieses aufwen-digen Projekts sind in [DESY 04-111] dargestellt.

Weiterhin werden die Experimente am LHC einen ers-ten Zugang zu den Kopplungen des Higgs-Bosons andie elektroschwachen Eichbosonen und Fermionen desStandardmodells bieten. Unter Zuhilfenahme von Mo-dellannahmen können in einer globalen Analyse vonProduktionskanälen und Zerfallsmoden für einige derHiggskopplungen Genauigkeiten im Bereich von 10%erreicht werden [DESY 04-089].

Als Folge der hohen Masse sollten mögliche Ab-weichungen vom Higgsmechanismus des Standard-modells bevorzugt im Top-Quark-Sektor beobachtetwerden. Die Produktion von Top-Quark-Paaren istdaher auch ein interessanter Signalprozess für Prä-zisionsstudien. Im Rahmen der perturbativen QCDkönnen genaue Vorhersagen über die Verteilungender Zerfallsprodukte des Top-Quarks gemacht wer-den. Eine vollständige Beschreibung von hadroni-scher Top-Quark-Paarproduktion und -Zerfall bis zurOrdnung α3

s der QCD unter Berücksichtigung desTop-Quark-Spins wurde in [DESY 04-026] gegeben.Mit Hilfe dieser Ergebnisse kann die Produktions-und Zerfallsdynamik von Top-Quarks präzise getestetwerden.

Die Faktorisierungshypothese der nichtrelativistischenQCD sagt die Existenz sogenannter Farboktettpro-zesse voraus, d. h. schwere Quarkonia können auch ausQuark-Antiquark-Paaren entstehen, wenn deren Farb-ladungen nicht neutralisiert sind. Im Rahmen dieserTheorie wurden Vorhersagen für die assoziierte Ha-droproduktion von Bottomonia (ηb(nS), Υ(nS), hb(nP)

und χbJ(nP)) mit den neutralen Higgs-Bosonen h0,H0 und A0 des minimalen supersymmetrischen Stan-dardmodells bereitgestellt. Dieser Erzeugungskanal,der hier erstmals untersucht wurde, liefert für kleineMassenwerte und große Werte des Parameters tan β,der das Verhältnis der Vakuumerwartungswerte derbeiden Higgsdubletts misst, signifikante Wirkungs-querschnitte. Beispielsweise werden für die Signale

91

Theoretische Physik

Υ(1S)+h0/A0 → l+l− +bbmit mh0/A0 = 100 GeVundtan β = 50 am LHC etwa 3000 Ereignisse pro Jahrerwartet [DESY 04-23].

Little-Higgs-Modelle

Die Higgs-Masse im Standardmodell kann durch dasPostulat einer erweiterten Symmetriestruktur erklärtwerden, die mit neuen Vektorbosonen, Quarks undSkalaren im TeV-Bereich einhergeht und das Higgs-Boson als Goldstone-Boson erscheinen lässt. Viele derso konstruierten ,,Little-Higgs-Modelle“ sagen einezusätzliche U(1)′-Symmetrie voraus, die durch einZ′-Vektorboson vermittelt wird.

Bei einer alternativen Realisierung der U(1)′-Sym-metrie würde statt des Z′ ein leichtes Pseudo-Axion η

im Spektrum erscheinen. An ein solches Teilchen be-stehen gegenwärtig nur wenig Einschränkungen. EineEntdeckung an zukünftigen Collidern ist aber möglich:Abhängig von den Details des Modells ist ein η-Bosonam LHC über Gluon-Fusion und Zerfall in ein Photon-paar oder auch als Zerfallsprodukt der neuen schwe-ren Quarks nachzuweisen. Am ILC kann es im e+e−-Modus über Abstrahlung von Top-Quarks beobachtbarsein. Im γγ-Modus würde es wiederum als Resonanzim bb-Endzustand erscheinen [DESY 04-137].

Abbildung53: MöglicheSignaleeinesPseudo-Axionsη

an einem e+e−-Linear Collider über dem elektroschwa-chen und dem QCD-Untergrund.

Supersymmetrie

Die Wurzeln des Standardmodells liegen mit hoherWahrscheinlichkeit im Bereich der Planck-Skala, ander die Gravitation sich mit der Teilchenphysik verbin-det. Eine stabile Brücke zwischen der elektroschwa-chen Skala von 100 GeV und der Planck-Skala von1019 GeV wird von der Supersymmetrie hergestellt. Da-her müssen Methoden ausgearbeitet werden, die es er-lauben, Physik-Szenarien an der Planck-Skala mittelsexperimenteller Resultate bei niedrigen Energien zustudieren.

Aufgrund der weitreichenden Extrapolationen muss dasphysikalische Bild an der elektroschwachen Skala sehrakkurat bestimmt werden. Dazu bedarf es der Verknüp-fung von experimentellen Observablen mit den Wech-selwirkungsparametern der Theorie. Diese Aufgabe istsystematisch für mehrere Sektoren der Supersymmetriegelöst worden.

SUSY-Higgs-Physik

Ein wichtiger Parameter im Higgs-Sektor supersymme-trischer Theorien ist der Mischungswinkel tan β. Wenntan β den Wert von 10 überschreitet, ist es sehr schwer,diesen Parameter zu messen. Als eine überraschendgute Methode [DESY 04-077] hat sich die Messungder ττ-Formation von Higgs-Bosonen herausgestellt,die quadratisch mit tan β ansteigt. Die τ-Strahlen lassensich durch Splitting von hochenergetischen Photonen inCollidern in großer Zahl gewinnen, so dass Genauigkei-ten im Prozentbereich für große tan β erreicht werdenkönnen.

In CP-nichtinvarianten supersymmetrischen Theorientreten im Grenzfall hoher Massen große Mischungs-effekte zwischen den schweren Higgs-Bosonen auf.Die Mischungen führen zu charakteristischen Verschie-bungen der Higgs-Massen und ihrer Lebensdauern.Um diese Effekte theoretisch zu beherrschen, ist einkomplexer Mischungsformalismus in [DESY 04-055]entwickelt worden, der die resultierenden experimen-tellen Phänomene elegant beschreibt. Als besondersinteressantes Anwendungsgebiet hat sich die Forma-tion von Higgs-Bosonen in hochenergetischen Photon-Collidern erwiesen, bei der CP-verletzende Mischun-genzugroßenAsymmetrienbei Verwendungpolarisier-ter Strahlen und in Top-Quark-Endzuständen führen.

92

Theoretische Physik

Supersymmetrische Teilchen

UnterdensupersymmetrischenMaterieteilchensinddieskalaren Leptonen von besonderer Bedeutung, da ihreEigenschaften wesentlich besser bestimmt werden kön-nen als die Eigenschaften von Squarks. Jedoch ist dieAnalyse von Sneutrinos wegen des Zerfalls in Endzu-stände, die bevorzugt unsichtbare Teilchen umfassen,schwierig. Nichtsdestoweniger konnte in [DESY 04-133] gezeigt werden, dass ein zufriedenstellendes Bilddieser Teilchen im Linear Collider aus Zerfallscharakte-ristiken und Produktionsraten erschlossen werden kann.

Wenn die Supersymmetrie nicht in einem minimalisti-schen Szenario realisiert ist, so wird eine Vielfalt vonneuen Teilchen vorhergesagt, unter anderem im Sektorder Neutralinos, der Superpartner von elektroschwa-chen Eichbosonen und Higgs-Bosonen. Entsprechendkomplex wird die theoretische Analyse. Jedoch gelingtes, in Bereichen schwacher Kopplung zwischen densupersymmetrischen Standardteilchen und den zusätz-lichen neuen Teilchen analytische Approximationsver-fahren zu entwickeln [DESY 04-088], mit denen solcheSzenarien transparent dargestellt werden können.

SUSY-Parameteranalysen an der Planck-Skala

Kohärente Analysen supersymmetrischer Teilchen amProton Collider LHC und am Linear Collider ILC sindnotwendig, um ein umfassendes und genaues Bild desgesamten Ensembles der supersymmetrischen Teilchenzu entwerfen [DESY 04-206]. Sobald dies gelungen ist,können Extrapolationen der relevanten supersymmetri-schen Parameter zur Großen-Vereinigungs-Skala undzur Planck-Skala ausgeführt werden [DESY 04-044].Sie erlauben die Rekonstruktion der fundamentalen su-persymmetrischen Theorie und ihres mikroskopischenBrechungsmechanismus. In Abbildung 54 wird darge-stellt, mit welch hoher Präzision die Massenparame-ter im supersymmetrischen Eichsektor bis zum Errei-chen universeller Werte in minimaler Supergravitationextrapoliert werden können.

Gravitino in Supergravitationsmodellen

Ein natürlicher Kandidat für den Hauptbestandteil derkalten dunklen Materie ist in Supergravitationstheo-rien das Gravitino, der Superpartner des Gravitons. Im

Abbildung 54: Evolution von inversen Massenparame-tern (in GeV−1) mit der Energieskala (in GeV) bis zudem Skalenbereich, in dem universelle Werte in minima-ler Supergravitation vorausgesagt werden. Die Breiteder Linien entspricht der erwarteten Unsicherheit auskohärenten LHC- und ILC-Analysen.

Gegensatz zum Standardkandidaten der Supersymme-trie, dem leichtesten Neutralino, hat das Gravitino nurdie extrem schwache Gravitationswechselwirkung mitanderen Teilchen. Im Hinblick auf einen möglichen ex-perimentellen Nachweis erscheint deshalb zunächst dasNeutralino bevorzugt. Aufgrund des Erfolgs der Lep-togenese, dem gegenwärtig führenden Modell zur Er-klärung der Materie-Antimaterie-Asymmetrie, bestehtseit einigen Jahren jedoch auch starkes Interesse anModellen, in denen das Gravitino das leichteste Super-Teilchen ist. Das nächst leichteste Super-Teilchen istdann in vielen Modellen ein quasistabiles skalares τ-Lepton, ein Superpartner des τ-Leptons. Dies führtzu sehr interessanten Möglichkeiten, das Gravitino inExperimenten am LHC und ILC zu entdecken undseine Masse, eventuell auch seinen Spin, zu messen[DESY 04-010]. Dies würde die Supergravitation alsEichtheorie bestätigen.

Split-SUSY

Es widerspricht nicht einer Vereinigung der bekann-ten Wechselwirkungen bei hohen Energien, wenn diezusätzlichen skalaren Teilchen in supersymmetrischen

93

Theoretische Physik

Modellen eine Masse ms � 1 TeV besitzen. Ein solchesSpektrum, ,,Split-SUSY“,würdeeinerseits alleSchwie-rigkeiten mit Flavor- und CP-verletzenden Effekten be-seitigen, andererseits die Voraussage dunkler Materieund des schwachen Mischungswinkels sin2 θ w erhalten.Die Supersymmetrie könnte dann allerdings nicht dieHierarchie der elektroschwachen Skala stabilisieren.

Aus phänomenologischer Sicht zeichnet sich diesesSzenario durch metastabile Gluinos und moderat leichteCharginos und Neutralinos aus. Wie in [DESY 04-136] gezeigt wurde, ist die Beobachtung der Gluinosin Form von farbneutralen gebundenen Zuständen (R-Hadronen) bis zu einer Masse von 1.2–1.7 TeV amLHC möglich. Für einen Nachweis der zugrundelie-genden Supersymmetrie ist es zusätzlich erforderlich,die Mischungsmatrizen der Charginos und Neutralinoszu vermessen. Während LHC-Daten dafür nur wenigInformation liefern, würde die Messung der Produkti-onswirkungsquerschnitte am ILC nicht nur den Rück-schluss auf Supersymmetrie erlauben, sondern mit ih-rer Präzision die anomalen Quantenkorrekturen durchschwere Skalarteilchen identifizieren und damit dasModell selbst etablieren.

Neutrinophysik und Kosmologie

In den kommenden zehn Jahren gehen immer größerwerdende Detektoren für kosmische Strahlung (PierreAuger Observatory, IceCube, ANITA, EUSO, SalSA)in Betrieb, welche den Nachweis extrem energetischerkosmischer Neutrinos via Neutrino-Nukleonstreuungermöglichen. Gemäß verschiedener realistischer Fluss-vorhersagen dieser Neutrinos bestehen sehr gute Chan-cen, dass die genannten Kollaborationen in einem Jahr-zehnt über Aufzeichnungen sehr vieler entsprechenderEreignisse im Energiebereich oberhalb von 108 GeV,entsprechend einer Schwerpunktsenergie oberhalb von14 TeV, verfügen werden. Diese Messungen könntenInformationen über die Teilchenphysik bei Skalen jen-seits der Reichweite von HERA, Tevatron und LHC lie-fern [DESY 04-014, 031, 180, 192]. Des weiteren eröff-nen sie die Möglichkeit, den kosmischen Hintergrundvon Urknallneutrinos anhand von Absorptionsmerk-malen in den Neutrino-Energiespektren nachzuweisen[DESY 03-219, 04-180]. Ein direkter Nachweis derUrknallneutrinos in einem erdgebundenen Detektor istjedoch mit dem gegenwärtigen Stand der Technik nicht

möglich, selbst wenn man die gravitative Erhöhung ih-rer lokalen Dichte auf Grund der nichtverschwindendenNeutrinomasse berücksichtigt [DESY 04-147, 242].

Das Axino ist ein interessanter Kandidat für die dunkleMaterie im Universum. Es trägt weder elektrische nochFarbladung, wechselwirkt nur sehr schwach und könntedas leichteste supersymmetrische Teilchen sein, wel-ches bei Annahme von R-Paritätserhaltung stabil ist. Insupersymmetrischen Erweiterungen des Standardmo-dells, in denen das CP-Problem der starken Wechsel-wirkung durch den Peccei-Quinn-Mechanismus gelöstwird, tritt das Axino als fermionischer supersymmetri-scher Partner des Axions auf. In [DESY 04-082] wurdedie thermische Produktionsrate von Axinos im Rah-men der supersymmetrischen QCD berechnet. DurchVerwendung der ,,hard thermal loop resummation“-Methode erhält man ein endliches eichinvariantes Re-sultat, welches die Debye-Abschirmung im heißenPlasma aus Quarks, Gluonen, Squarks und Gluinos be-rücksichtigt. Daraus kann der Beitrag von thermischerzeugten Axinos zur dunklen Materie als Funktionder Temperatur nach der Inflation berechnet werden.Es zeigt sich, dass Axinos den dominanten Anteil derdunklen Materie bilden können, wenn z. B. ihre Masseum 100 keV liegt und die Temperatur nach der Inflationetwa 106 GeV war.

Der Mechanismus der ,,Leptogenese“ führt die kos-mologische Materie-Antimaterie-Asymmetrie des Uni-versums auf Wechselwirkungen schwerer Majorana-Neutrinos in der thermischen Phase des frühen Uni-versums zurück. Dies führt zu Vorhersagen für dieMassen der leichten Neutrinos sowie ihrer schweren,,Seesaw“-Partner, die in einer detaillierten Untersu-chung analytisch berechnet wurden [DESY 03-100].Die für die Leptogenese benötigte hohe Temperaturim frühen Universum schränkt in supersymmetrischenTheorien das Massenspektrum der Super-Teilchen unddie Natur des leichtesten Super-Teilchens (LSP) starkein [DESY 04-093].

In höherdimensionalen supersymmetrischen Theorienwerden Eichkopplungen dynamisch durch skalare Fel-der bestimmt. Damit verändern sich diese unter extre-men Bedingungen, insbesondere bei hohen Temperatu-ren. Dieser Effekt beeinflusst die Stabilität der kompak-ten zusätzlichen Raumdimensionen und führt damit zueiner Maximaltemperatur im frühen Universum [DESY04-062, 216].

94

Theoretische Physik

Vereinheitlichte Theorien

Die aufgrund experimenteller Daten naheliegendeVereinigung der Standardmodell-Eichkopplungen imRahmen minimaler supersymmetrischer Erweiterun-gen ist eine der Hauptstützen der Niederenergie-Supersymmetrie und deren Einbettung in die heteroti-sche Stringtheorie. Die Attraktivität eines solchen Sze-narios für Physik jenseits des Standardmodells wirdnicht zuletzt auch dadurch getragen, dass die so ge-fundene Vereinigungs- oder GUT-Skala (vgl. ,,GrandUnified Theory“) in der Nähe der heterotischen String-Skala liegt. Allerdings ist die Übereinstimmung mit derString-Skala nicht perfekt, was von vielen Theoretikernals ernstes Problem des obigen heterotischen String-GUT-Szenarios gesehen wird. Eine mögliche Lösungdieses Problems im Rahmen sogenannter Orbifold-GUTs wurde in [DESY 04-214] vorgeschlagen. DieOrbifold-GUTs, deren Entwicklung in den letzten Jah-ren wesentlich von der DESY-Theorie-Gruppe mitge-tragen wurde, versuchen die Brechung der vereinig-ten Symmetrie im Rahmen höherdimensionaler Eich-theorien zu beschreiben. Im oben angesprochenen Zu-gang wird gezeigt, dass String-Kompaktifizierungen instark asymmetrischen Orbifold-Geometrien auf natür-liche Weise eine Trennung von String- und GUT-Skalaund ein Auftreten höherdimensionaler Eichtheorien imZwischenbereich erklären können, ohne dass es zu ei-ner Einbuße der Präzision der Eichvereinigung kommt.Die Arbeit benutzt den geometrischen Mechanismusnichtlokaler diskreter Wilsonlinien und beinhaltet aucheine quantitative Analyse des perturbativen Regimesder zugrundeliegenden heterotischen Stringtheorie.

Orbifold-GUT-Modelle machen spezifische Vorhersa-gen für den Protonzerfall, die signifikant von den Vor-hersagen konventioneller vereinheitlichter Theorien ab-weichen. Die Analyse eines von der DESY-Gruppevorgeschlagenen SO(10)-Modells in sechs Raum-Zeit-Dimensionen ergab eine starke Unterdrückungdes Zerfalls p → µ+K0. Die berechnete Lebensdauerτ(p → e+π0) � 1×1035 Jahre liegt im Bereich der Sen-sitivität des geplanten Hyper-Kamiokande-Detektors[DESY 03-202, DESY 04-121]. In einer Orbifoldkom-paktifizierung des heterotischen String, die das super-symmetrische Standardmodell als Niederenergielimesenthält, ergaben sich Orbifold-GUT-Modelle als Zwi-schenstufe [DESY 04-237]. Verschiedene theoretische

und phänomenologische Aspekte dieser interessantenModelle werden gegenwärtig weiter untersucht.

Die oben erwähnte Eichvereinigung in String-Modellensowie auch in rein feldtheoretischen höherdimensiona-len Konstruktionen kann durch das Auftreten potenz-artiger Korrekturen stark beeinflusst werden. Dieserauch als Power-Law-Running bekannte Effekt wurde,nach anfänglicher Euphorie, als nicht quantitativ kon-trollierbar eingestuft. Wie nun eine detaillierte Ana-lyse in [DESY 04-109] gezeigt hat, gibt es jedoch einegroße Klasse von Modellen, in denen die Power-Law-Korrekturen aufgrund der hohen Symmetrie der fünf-dimensionalen Super-Eichtheorie exakt rechenbar wer-den. Es wurde insbesondere ein Modell identifiziert,in dem dieser Effekt exakt mit dem gewöhnlichen 1-Loop-Laufen der Kopplungen des supersymmetrischenStandardmodells übereinstimmt. Weitere Anwendun-gen, insbesondere die Frage nach dem Zusammenhangmit String-Threshold-Korrekturen, sind in Arbeit.

Stringtheorie

Die Arbeitsgruppe ,,Stringtheorie und supersymmetri-sche Quantenfeldtheorien“ am II. Institut für Theo-retische Physik arbeitete im Berichtszeitraum an ver-schiedenen Aspekten der Stringtheorie. In [Nucl. Phys.B699 (2004) 387], [Nucl. Phys. B705 (2004) 167] und[hep-th/0412277] wird die effektive Niederenergiewir-kung für Calabi-Yau-Orientifold-Kompaktifizierungenmit D-Branes und Hintergrundflüssen mit Hilfe ei-ner Kaluza-Klein-Reduktion berechnet, und es werdendie teilchenphysikalischen Eigenschaften untersucht.Dabei treten insbesondere massive Tensor-Multiplettsauf, die von einem supersymmetrischen Standpunktaus in [JHEP 0411 (2004) 028], [Phys. Lett. B602(2004) 130], [Nucl. Phys. B682 (2004) 243] und [hep-th/0410149] untersucht wurden. Diese Arbeiten legeneine interessante geometrische Verallgemeinerung derMirrorsymmetrie von Calabi-Yau-Mannigfaltigkeitenin Anwesenheit von Hintergrundflüssen nahe [DESY04-211], [DESY 04-234]. Aspekte von spontanerN = 2 → N = 1 Supersymmetriebrechung in diesenWirkungen wurde in [Class. Quant. Grav. 21 (2004)4607] behandelt. Die Struktur der zugrundeliegendenNiederenergiewirkung einer geeichten Supergravita-tion mit Tensor-Multipletts wurde durch einen univer-sellen Zugang in [Phys. Lett. B583 (2004) 338] und

95

Theoretische Physik

[DESY 04-245] für N = 8 Theorien auf ein konzeptio-nell befriedigendes Fundament gestellt.

Die Eigenschaften von D-Branes auf gekrümmten Man-nigfaltigkeiten sind aus mathematischer Sicht außeror-dentlich interessant und zur Zeit ein aktives Forschungs-feld. In den Arbeiten [DESY 04-054] und [DESY 04-063] werden getwistete K-Gruppen berechnet, die re-levant für Eigenschaften von D-Brane-Ladungen in derStringtheorie sind.

Die AdS/CFT-Korrespondenz führt zu interessantenBeziehungen zwischen Supergravitationstheorien undstark gekoppelten (supersymmetrischen) Eichtheorien.Diese Korrespondenz ist zwar eine Vermutung, kannaber an vielen, oft äußerst nichttrivialen Relationenüberprüft werden [JHEP 0407 (2004) 058], [Phys. Rev.D70 (2004) 026005] und [DESY 04-229]. Dabei habensich auch überraschende Zusammenhänge mit integra-blen Modellen ergeben [DESY 04-250].

Kosmologische Aspekte der Stringtheorie oder allge-meiner einer Quantengravitation sind durch die neuenexperimentellen Beobachtungen besonders interessant.In diesem Zusammenhang wurden in [gr-qc/0411076]Gravitationstheorien, deren Lösungen einer oberen undunteren Beschränkung auf die Schnittkrümmung derRaumzeit genügen, untersucht. Für statisch sphärischsymmetrische Lösungen zeigt sich, dass Theorien miteinem Kepler-Bereich keine schwarzen Löcher produ-zieren.

Mathematische Physik

Eine störungstheoretische Konstruktion der Algebrenvon Observablen der Quantenfeldtheorie wurde auf der

Grundlage älterer Arbeiten von Steimann und Epstein-Glaser durchgeführt [hep-th/0403213]. Dabei konntegezeigt werden, dass in einem Off-Shell-Formalismusdie zeitgeordneten sowie die retardierten Produkte vonFeldern so definiert werden können, dass sie mit Ab-leitungen vertauschen (Action Ward Identity). Dies er-möglicht eine lokale Definition der Renormierungs-gruppe nach Stückelberg und Petermann, wie sie fürdie kovariante Formulierung der Quantenfeldtheorienauf gekrümmten Raumzeiten erforderlich ist. Darüberhinaus wurde eine hintergrundunabhängige Formulie-rung der perturbativen Quantengravitation vorgeschla-gen [hep-th/0403007].

Die Versuche, Quantenfeldtheorien auch auf nichtkom-mutative Räume auszudehnen, führte zur Einführungsogenannter quasiplanarer Wickprodukte, die aus den(divergenten) Produkten durch Subtraktion lokaler Ge-genterme entstehen [Phys. Rev. D71 (2005) 025022].Der Verzicht auf nichtlokale Gegenterme hat aller-dings starke Auswirkungen auf das Infrarotverhaltender Theorie. Diese stellen möglicherweise einen sen-sitiven Test für nichtkommutative Feldtheorien dar.Eine durch die Nichtkommutativität bewirkte Modifi-kation der Dispersionsrelation für elektromagnetischeWellen wurde mit Hilfe der Methode der kovarian-ten Koordinaten gefunden [Phys. Rev. D70 (2004)107704].

Eine neue Idee, konforme Feldtheorien in höher-dimensionalen Räumen einzuführen, wurde auf derBasis gruppentheoretischer Überlegungen entwickelt[hep-th/0410277].

Weiter wurden neue Aspekte des Spin-Statistik-Zusammenhangs diskutiert, und es wurde gezeigt,wie dieser Zusammenhang aus Eigenschaften derTheorie unter Spiegelungen hergeleitet werden kann[hep-th/0412060].

96

97

Forschung für den International Linear Collider

Abbildung 55: Simuliertes Ereignis im Kalorimeter Prototypen für den ILC. Drei Detektoren– ECAL, HCAL und tail catcher, sind hintereinander angeordnet. Ein 10 GeV Pion trifft aufdie Frontseite des Prototypen auf und wird im Kalorimeter absorbiert. Gezeigt werden dieMonte Carlo Teilchen (Linien) und die rekonstruierten Treffer in den Kalorimetern (Punkte).

98

Forschung für den International Linear Collider

Forschung für denInternational Linear Collider

ILC-Projektgruppe: Mitglieder und Gäste der Gruppen aus M (DESY, Hamburg), LC (DESY, Zeuthen – Leiter:A. Stahl (bis Okt. 2004); H.J. Schreiber (ab Okt. 2004)) und dem FH-Bereich (DESY, Hamburg), darunterinsbesondere die Gruppe FLC (Leiter: T. Behnke), sowie etwa 66 Institute aus 17 Ländern (im Rahmen der ECFAStudie).

ILC-Projektleiter: T. Behnke, E. Elsen und N. Walker, DESY

Das Jahr 2004 war für den e+e−-Linearbeschleu-niger entscheidend von der Arbeit des Internatio-nal Technology Recommendation Panel (ITRP) ge-prägt. Das von ICFA eingesetzte ITRP begann seineArbeit Ende 2003 und verkündete nach einer Serievon Treffen in Asien, Europa und Amerika auf derInternationalen Konferenz für Hochenergiephysik(ICHEP) in Peking bereits im August 2004 seineEntscheidung. Danach soll der zukünftige Linear-beschleuniger mit der im Rahmen der TESLA Kol-laboration am DESY federführend entwickelten su-praleitenden Beschleunigertechnologie im L-Bandbetrieben werden. Die Verlässlichkeit dieser Tech-nologie wurde vom Panel als höher eingestuft alsdie X-Band Beschleunigung bei höheren Frequen-zen (NLC/GLC-Design). Die Notwendigkeit für einefrühe Technologieentscheidung, wie auch die Ent-scheidung selbst, wurde von allen Experten an-erkannt. Die Einstimmigkeit der Vorgehensweisewurde bereits im November, auf dem ersten welt-weiten Treffen der Maschinenexperten, eindrucks-voll demonstriert. Der Name ,,International LinearCollider“ (ILC) wurde für das gemeinsame Projektvereinbart.

Gruppen des DESY waren an zentraler Stelle imEntscheidungsprozess des ITRP beteiligt und stell-ten dem Komitee Materialien zum kalten Beschleu-niger und zum Experimentieren an einer kalten Ma-schine zur Verfügung. Im Sommer 2004 wurde einevon der Europäischen Union geförderte und vonDESY koordinierte Design-Studie (EUROTeV) zumLinearbeschleuniger bewilligt. Diese Studie vereint

28 Labors in Europa bei der Forschung zur Opti-mierung des Beschleunigers und der Weiterentwick-lung des Projekts zur Entscheidungsreife und hatbei einer Laufzeit von drei Jahren einen finanziellenRahmen von mehr als 27 Millionen €. Gleichfalls imNovember des Jahres wurde bei DESY eine ILC-Projektgruppe installiert, die bereichsübergreifend,die Tätigkeiten für den ILC bei DESY koordiniert.Darin eingeschlossen sind die in den Vorjahrenbegonnenen Arbeiten zur Entwicklung neuer, an-spruchsvoller Detektortechnologien und verschie-dene Studien zur Physik am ILC. Diese Untersu-chungen fanden im Rahmen der ECFA Studie zurPhysik und dem Detektor an einem Linearbeschleu-niger statt.

Im Folgenden werden die Aktivitäten zu diesem Themafür die beiden DESY Standorte Hamburg und Zeuthenzusammengefasst und erst am Ende des Abschnitts nachStandorten aufgeschlüsselt.

Physikstudien für den ILC

Physikstudien für den ILC konzentrieren sich auf fol-gende Themen:

– LHC/ILC-Arbeitsgruppe

– Präzisionsanalysen von supersymmetrischen Mo-dellen

– Präzisionsanalysen von Higgs-Bosonen

99

Forschung für den International Linear Collider

– Einfluss der Zeitstruktur der Linear Collider Strah-len auf die Physikanalyse

In der seit 2003 laufenden ECFA-Studie spielt dieDESY Gruppe weiterhin eine führende Rolle. Auf deminternationalen Linear Collider Workshop LCWS’04in Paris wurden zahlreiche Beiträge der Gruppe vorge-stellt.

Die Zielsetzungen der obengenannten Themenberei-che sowie aktuelle Beiträge der Gruppe werden imFolgenden erläutert.

LHC/ILC-Arbeitsgruppe

Ziel der internationalen LHC/ILC-Arbeitsgruppe ist es,an konkreten Beispielen zu untersuchen, wie sich derLHC und der ILC gegenseitig ergänzen. Hierbei arbei-ten Experimentalphysiker am ILC und am LHC sowieTheoretiker eng zusammen. Der erste Bericht dieserArbeitsgruppe ist 2004 erschienen.

Higgs-Boson: In supersymmetrischen Modellen un-terscheidet sich das leichteste neutrale Higgs-Bosonhäufig nur geringfügig von dem des Standardmodells.Die schwereren supersymmetrischen Higgs-Bosonenliegen oft außerhalb der kinematischen Reichweite desILC. Da auch am LHC diese Teilchen nicht immerbeobachtet werden können, ist es besonders wichtig,indirekte Information über die Massen der schwerenneutralen Higgs-Bosonen, insbesondere über das CP-ungerade A0, zu erhalten. In früheren ILC-Studienwurde gezeigt, dass die Verzweigungsverhältnisse desleichten Higgs-Bosons h vom Massenwert MA des A0

abhängen. Allerdings hängt diese Masse auch vomSpektrum der supersymmetrischen Teilchen, insbeson-dere der dritten Generation, ab. Unter diesen sind dieSquarks am einfachsten am LHC zu beoabachten. Wei-terhin spielt die genaue Messung der Top-Masse amILCein wichtige Rolle. In einer neuen Studie, die von Phy-sikern der Gruppe FLC zusammen mit dem WeizmannInstitut in Israel, der TU München und dem IPPP inDurham durchgeführt wurde, wurde nun erstmals dasZusammenspiel der verschiedenen sensitiven Observa-blen untersucht. Nur durch Verwendung der Messungenvon ILC und LHC zusammen lässt sich die A0-Masseeinschränken. Für eine A0-Masse von 800 GeV erreichtman eine Genauigkeit von etwa 30% (siehe Abb. 56).

Im Jahr 2004 konzentrierten sich die Studien auf Fra-gen, ob und wie gut es möglich ist, die verschiede-nen neutralen Higgs-Bosonen des Minimalen Super-symmetrischen Standardmodells (MSSM) im Regimeintensiver Kopplungen zu erkennen und deren Eigen-schaften zu vermessen. Im Vergleich mit dem LHCist ein Linear Collider eindeutig besser zur Bestim-mung des Profils solcher Teilchen geeignet. Insbe-sondere ist eine Differenzierung der drei möglichenneutralen Higgs-Bosonen beim ILC möglich und ihreMassen sind mit Genauigkeiten von 100 bis 500 MeVbestimmbar.

SUSY: Die Studien zu Präzisionsanalysen supersym-metrischer Modelle wurden in 2004 weiter fortgeführt.So ist es erstmals gelungen, zu zeigen, dass die Parame-ter des MSSM aus den Observablen von ILC und LHCin einem globalen Fit extrahiert werden können. Im Ge-gensatz zu früheren Studien zur Parameterbestimmungwurden Korrekturen höherer Ordnung berücksichtigt.Diese führen dazu, dass sich die einzelnen Sektorendes Modells nicht mehr unabhängig behandeln lassen.Es wurde ein neues Fit-Programm (Fittino) entwickelt,das experimentelle und theoretische Unsicherheiten so-wie deren Korrelationen berücksichtigt und die Para-meterbestimmungohnea-priori-Annahmendruchführt.Aufgrund der großen Anzahl von Parametern kommenherkömmliche Fit-Algorithmen an ihre Grenzen. Einneuer thermodynamisch inspirierter Algorithmus (si-mulated annealing) wurde erstmals für solche Zwe-cke eingesetzt und liefert stabile Ergebnisse. Es wurdegezeigt, dass sich in den untersuchten Szenarien dasrichtige globale Minimum erreichen lässt und dass dieFehlerbestimmung der Parameter zuverlässig ist.

Stop: Untersuchungen zur Messung der Masse des su-persymmetrischen Top-Quarks (Stop) wurden gemein-sam mit der Universität Lancaster durchgeführt. Da-bei wurden vier verschiedene Methoden angewendet,um Masse und Mischungswinkel des Stops zu bestim-men. Eine präzise Messung der Wirkungsquerschnittebei verschiedenen Polarisationszuständen der Elektron-und Positronstrahlen ergibt die höchste Genauigkeit von0.57 GeV für die Stop-Masse. Eine Messung der Wir-kungsquerschnitte nahe der Erzeugungsschwelle vonskalaren Tops gestattet es, die Masse auf 1.2 GeV ge-nau zu bestimmen. Weiterhin wurde versucht, die Stop-Masse aus den Eigenschaften der Charm-Jets zu bestim-men. Beide hier angewandten Methoden ergaben eineGenauigkeit von etwa 1.5 GeV.

100

Forschung für den International Linear Collider

Abbildung 56: Die Variation ∆MA des Messwertes der Masse MA des A0 als Funk-tion von MA abgeleitet aus der Präzisionsmessung von Verzweigungsverhältnissen am ILC(r = [BR(h → bb)/BR(h → WW)]obs/[BR(h → bb)/BR(h → WW)]SM). Die durchgezo-gene Linie bezieht sich auf eine r-Präzision von 4% (möglich bei ILC500), die gestrichelteLinie auf 1.5% (ILC500+ ILC1000). Die Unsicherheiten der MSSM-Vorhersage aufgrundder anderen MSSM-Parameter, die sich aus den Fehlern der LHC/ILC-Messungen der SUSY-Teilchen (insbesondere Squark-Massen) ergeben, sind berücksichtigt. Die gepunktete Liniezeigt die Genauigkeit, die erreichbar wäre, wenn die Eigenschaften der SUSY-Teilchen exaktbekannt wären.

Präzisionsanalysen von Higgs-Bosonen

Zu den seit langem bekannten Stärken des ILCgehört die Möglichkeit ein standardmodellartigesHiggs-Boson detailliert zu untersuchen. Die Mes-sung der Masse und der Verzweigungsverhältnisse ei-nes leichten Higgs-Bosons stellen hierbei Referenz-analysen dar, deren Untersuchung die Entwicklung

des Detektordesigns ständig begleiten. In 2004 wur-den Untersuchungen zum systematischen Fehler derHiggs-Massenbestimmung aufgrund der Unsicherhei-ten der Strahlparameter (Energiekalibration, Energie-profil, Beamstrahlung) durchgeführt. Es zeigt sich, dassEnergieprofil und Beamstrahlung nur einen kleinenEinfluss auf die Genauigkeit der Massenbestimmunghaben, vorausgesetzt, die geplante Maschinenpräzi-sion wird eingehalten und die Beamstrahlung wird aus

101

Forschung für den International Linear Collider

der Akoplanarität von Bhabha-Ereignissen bestimmt.Die absolute Energiekalibration überträgt sich in etwa1:1 auf die Präzision der Higgs-Masse. Bei einer ge-wünschten Unsicherheit von weniger als 40 MeV füreine Higgs-Masse von 120 GeV ergibt sich hieraus eineAnforderung für die Energiekalibration von 3 ·10−4.

Die Analyse der hadronischen Verzweigungsver-hältnisse eines leichten Higgs-Bosons wurde wei-ter vervollständigt und als Referenzanalyse auf demLCWS’04 vorgestellt. Frühere Unstimmigkeiten in derLiteratur über die erreichbare Präzision konnten aufge-klärt werden. Im Vergleich zu den im TESLA-TDR vor-gestellten Ergebnissen zeigt sich, dass der Fehler auf dasVerzweigungsverhältnis in b-Quarks reproduziert wer-den konnte, während die Fehler für Charm-Quarks undGluonen etwa 50%(relativ) größer sind. Der Grund liegtvor allem in einer wesentlich realistischeren Simulationder Rekonstruktion sekundärer Zerfallsvertices.

Wenn kein leichtes Higgs-Boson existiert, werden dieEichkopplungen bei Energien in der Nähe von

√s ∼

1 TeV stark. Dieses Szenario wurde an Hand der WWStreuung detailliert untersucht. Auch hier ist der ILCdem LHC auf Grund der eindeutig identifizierbarenSubprozesse bei ausreichend hoher Luminosität über-legen.

Einfluss der Zeitstruktur der LinearCollider Strahlen auf die Physikanalyse

In Vorbereitung der ITRP-Entscheidung wurde imHerbst 2004 an Beispielen untersucht, wie sich dieunterschiedlichen Zeitstrukturen der beiden Beschleu-nigertechnologien auf die erreichbare Präzision vonObservablen aus der Higgs-Physik auswirken.

Die Zeitstruktur der kollidierenden Teilchenbündel(Bunches) unterscheidet sich für einen auf TESLA-Technologie basierenden Linear Collider deutlich vondem normalleitenden NLC/GLC-Design. So folgen imNLC/GLC-Design Bunches im Abstand von 1.4 ns,während dies im TESLA-Design mit 180–340 ns ge-schieht. Während letzteres für moderne Detektoren keinProblem darstellt, ist es eine Herausforderung Ereig-nisse im Abstand von 1.4 ns zu separieren. Sollte diestechnologisch nicht möglich sein, so integriert der De-tektor Untergrund aus aufeinanderfolgenden Bunch-Crossings. In der Gruppe FLC wurde zur Vorbereitung

der Technologieentscheidung studiert, welchen Ein-fluss ein solcher intergrierter Untergrund auf die Rekon-struktion von Higgs-Ereignissen in verschiedenen End-zuständen haben kann. Als Untergrund wurde vor allemdie Produktion von Hadronen aus der Kollision hoch-energetischer Beamstrahlung-Photonen untersucht. ImMittel werden in etwa 0.4/0.27 (TESLA/NLC) solcherEreignisse pro Bunch-Crossing erwartet, die jeweilszu einigen Hadronen im Detektor führen. Wird ein sol-cher Untergrund über mehrere Bunch-Crossings inte-griert, führt die zusätzliche Energiedeposition zu einerVerschlechterung der Massenauflösung und der Trenn-barkeit von Higgs-Ereignissen von anderen Physik-Ereignissen. Es wurden Algorithmen entwickelt, mitderenHilfeder EinflussdieseshadronischenUntergrun-desminimiertwird.Dennochzeigt sicheinesignifikanteVerschlechterung der Massenauflösung für ein leich-tes Higgs-Boson im Higgs-Strahlung-Prozess und einschlechteres Signal-zu-Untergrund Verhältnis in WW-Fusion wenn der Detektor über 18 Bunch-Crossings(etwa 25 ns für NLC/GLC-Design) integriert.

Beschleuniger Entwicklungen

Die Forschungsarbeiten zum Linear Collider imJahr 2004 sind eng mit den Arbeiten der TESLA-Kollaboration und der Vorbereitung für den XFEL ver-bunden.Der Schwerpunkt inder erstenHälftedes Jahreslag in der Vorbereitung der Technologie-Entscheidung.Anfang April besuchte das ITRP-Experten-GremiumDESY, um sich vor Ort über den Stand der Entwicklun-gen zu informieren. Die TESLA-Kollaboration hatte zudiesemEreignis sowohl externeMitglieder der Kollabo-ration als auch die Vertreter der beteiligten oder interes-sierten Industriefirmen eingeladen. In Plenarvorträgen,wie auch in detaillierte Posterausstellungen, hatte dasGremium Gelegenheit, sich zu informieren und Kon-takt mit den Experten aufzunehmen. In Folgetreffen anden Standorten der anderen Labors war DESY durchExperten jeweils vertreten und konnte dem GremiumRede und Antwort stehen. Die behandelten Themensind im Detail weiter unten aufgeführt.

Im März 2004 hatte ein Konsortium bestehend ausmehr als zwanzig europäischen Labors unter Feder-führung von DESY eine Design-Studie bei der Eu-ropäischen Union eingereicht, um die Forschung für

102

Forschung für den International Linear Collider

Abbildung 57: Die Beschleunigerexperten aus aller Welt treffen sich beim ersten ILC-Workshop am KEK-Labor in Japan.

den Linearbeschleuniger voranzubringen. Dieser sogenannte EUROTeV Vorschlag umschließt in seinemArbeitsprogramm viele der unten aufgeführten The-men mit Ausnahme der ,,supraleitenden Technolo-gie“, die bereits in der EU-geförderten ,,Joint Re-search Activity“ zur Superconducting RF (SRF) alsTeil des ,,CARE“-Förderprojektes abgedeckt ist. DerEUROTeV-Vorschlag wurde zusammen mit dem eben-falls unter DESYs Federführung eingereichten Vor-schlag EUROFEL von den Gutachtern auf die bei-den ersten Plätze unter mehr als Hundert eingereichtenVorschlägen gesetzt und zur Förderung von der euro-päischen Union ausgewählt. DESY selbst gewinnt aufdiese Weise sechs Nachwuchswissenschaftler zur For-schung am ILC. Gleichzeitig intensiviert das Projektdie internationale Zusammenarbeit am Linear Collider.In einem Kick-Off Meeting Ende November am DESYwurde das Projekt der Öffentlichkeit vorgestellt und dasdetaillierte Programm besprochen. Auszüge aus demArbeitsprogramm von EUROTeV finden sich in denaufgeführten Abschnitten wieder.

Im November wurde bei DESY die ILC-Projektgruppemit der Aufgabe gegründet, die ILC spezifischen Akti-vitäten bei DESY zu koordinieren und die bestmöglicheSynergie mit den TTF- und XFEL-Projekten herzustel-len. Die Bedeutung von TTF und XFEL für den ILC istaußerordentlich. Ein Erfolg des XFEL ist nach der Ent-scheidung für die kalte Technologie unabdingbar undumgekehrt gibt es viele originäre Beiträge aus demFeld des ILC, die für den XFEL interessant werden.Es ist abgeschätzt worden, dass etwa 90% der XFEL-

Arbeitsfelder (unter Einschluss der Industriearbeiten)direkt relevant sind für den ILC. Unter diesem Lichthat beispielsweise die TESLA-Kollaboration auf ih-rem Treffen in Orsay im Herbst 2004 beschlossen, dieArbeit mit Konzentration auf die kalte Beschleuniger-Technologie weiter zu führen. Experimentelle Grund-lage bleibt der Weiterbetrieb der TTF (TTF II), derDESY eine federführende Rolle in der Kollaborationeinräumt.

Ebenfalls im November fand der erste ILC-Workshopam KEK in Japan statt, auf dem auch DESY gut ver-treten war (siehe Abb. 57). Dieser Workshop demons-trierte eindrucksvoll das große internationale Interesseund den Willen, nach der Wahl der Beschleuniger-Technologie, die Realisierung des Projektes gemeinsamim internationalen Umfeld anzugehen.

Entwicklung dersupraleitenden Technologie

Die TESLA-Kollaboration hat bereits Kavitäten mitGradienten von mehr als 35 MV/m hergestellt und be-trieben. Die gegenwärtig bei ZANON in der Entwick-lung befindlichen Kavitäten werden die bisher kleineProduktionsstatistik verbessern. Der Test neun solcherKavitäten in einem Kryostaten bei gleichem mittle-ren Gradienten konnte wegen fehlender Infrastrukturbisher nicht im Teilchenstrahl erfolgen. Das Modul 6ist für solche Tests an der TESLA Test Facility (TTF)vorgesehen. Solche Kavitäten ermöglichen den Betrieb

103

Forschung für den International Linear Collider

des VUV-Lasers mit Elektronenenergien jenseits von1 GeV und den Betrieb des XFEL bei kleinsten Wellen-längen oder wegen Verminderung der Verlustleistungbei höherer Bunchrate.

Schlüsselfrage bei der Begutachtung durch das ITRPwar die Frage nach der weiteren Industrialisierungdes Herstellungsprozesses. Die Erwartung ist, dassdurch noch weiter verbesserte Produktionsprozesse dieQualität der Module gesteigert werden kann, so dassaufwändige Tests entfallen. Die Behandlung durch,,Electro-Polishing“ scheint viele Qualitätsanforderun-gen in diesem Zusammenhang zu erfüllen und wird fürdie Herstellung der Kavitäten mit hohem Gradientenbenutzt. Neben diesem Basisprogramm zur Konsoli-dierung des Produktionsprozesses beteiligt DESY sichaktiv an der Entwicklung von Kavitäten mit noch höhe-rer Beschleunigungsspannung in Zusammenarbeit mitExperten aus Japan und USA.

Die außerordentliche Güte der Kavitäten bei hoher Be-schleunigungsspannung lässt sich nur dann effizientzur Beschleunigung ausnutzen, wenn der Verstimmungder Kavitäten aufgrund der Lorentzkraft entgegenge-wirkt wird. Bei TESLA sind Piezo-Tuner in der Entwi-ckung, die dynamisch der Deformation beim ,,Füllen“der Kavität entgegenwirken. Die Herstellung dazu pas-sender, höchstintegrierter Steuerelektronik ist Aufgabeder LLRF Gruppe bei DESY, während die mechani-schen Tuner in Zusammenarbeit mit Saclay entwickeltwerden.

Dämpfungsringe

Der lange Pulszug beim ILC von 1 ms macht es er-forderlich, dass die einzelnen Pakete in den Dämp-fungsringen eng gepackt werden. Im TESLA-Vorschlagwurde ein so genanntes ,,Dog-bone“-Konzept entwi-ckelt, bei dem die Dämpfungsringe zum Teil im langenBeschleunigertunnel aufgebaut sind. Andere Konzeptemit kreisförmigen Dämpfungsringen von 6 oder sogarnur 3 km Umfang werden ebenfalls diskutiert. SolcheVorschläge erfordern jedoch extrem schnelle ,,Kicker“für die Ejektion der Pakete. Grundlage der weiterenDiskussion bleibt deshalb gegenwärtig das Konzept ausdem TESLA-Vorschlag.

Weiteres Studium scheint auch notwendig für den so ge-nannten ,,Electron-Cloud“-Effekt, bei dem sich heraus-

geschlagene Elektronen auf der Strahlachse akkumulie-ren und die dicht nachfolgenden Bündel beeinflussen,so dass die Strahlemittanz bereits im Dämpfungsringleidet. Dieser Effekt wird gleichsam für LHC von Be-deutung sein und stellt ein spezielles Forschungsthemadar, das auch von EUROTeV behandelt wird.

Strahldynamik und Physik

Die gute Emittanz der Strahlen nach den Dämpfungsrin-gen kann in den Bunch-Kompressoren, im eigentlichenLinac und im Strahlzuführungssystem beeinflusst wer-den. Hier ist es notwendig, durch robuste Algorithmendie Optimierung des Strahls zu erreichen. Ausschlag-gebend sind hier Feedback-Systeme, die von Puls zuPuls die Strahllage nachsteuern. Wichtig in diesem Zu-sammenhang ist auch der Einfluss von Bodenbewegun-gen, die bei vertikalen Strahlabmessungen von einigenNanometern aktiv kompensiert werden müssen.

Positronenquelle

Nach einem Vorschlag von Beschleuniger Expertenaus Protvino (Russland) war im TESLA Technical De-sign Report die Erzeugung der Positronen aus einemhochenergetischen Elektronenstrahl in einem Undula-tor vorgesehen. Gegenüber konventionellen Vorschä-gen mit einem Festkörper-Target gewinnt man hiervor allem wegen der geringeren Materialbelastung imdünnen Target. Gleichzeitig ist es möglich, auch denPositronenstrahl longitudinal zu polarisieren.

Intensive Vorstudien hierzu wurden im ExperimentE166 am SLAC, USA, aufgenommen, das weiter un-ten beschrieben ist. Für die Verwendung am ILC mussgleichzeitig die Ausweitung des Konzeptes auf einen100-fach längeren Undulator berücksichtigt werdenund der Transport des Spins über die lange Streckevon Erzeugung über Dämpfungsring bis zum Kollisi-onspunkt betrachtet werden.

Global Accelerator Network

Der Bau des ILC erfordert neue Wege der internationa-len Zusammenarbeit. Anders als bei früheren Großpro-jekten der Teilchenphysik, werden für den ILC tech-nisch anspruchsvolle Komponenten weit entfernt vom

104

Forschung für den International Linear Collider

Standort des Beschleunigers entwickelt und gebaut.Selbst die Expertise zum Betrieb der Komponentenwird großteils nur aus der Entfernung abrufbar sein.Unabdingbar für eine solche Betriebsweise sind des-halb Kommunikationsmittel, die den ,,Live“ Eindruckder Beschleunigerkomponente entfernt übermitteln. ImEUROTeV Projekt ist deshalb die Entwicklung einesvirtuellen Labors vorgesehen, das Messgrößen standar-disiert aufnimmt und in Echtzeit übermittelt.

Gleichzeitig bemühen sich diese Experten um dieVerbreitung der audiovisuellen Kommunikationsmit-tel. Ziel ist hier aus dem sich schnell entwickelndenMarktangebot die geeignete Lösung herauszusuchen.

Verfügbarkeit des Beschleunigers

Die hohe Zahl von Komponenten für den Beschleunigerbeeinflusst dessen Betriebsverhalten und Einzelausfällekönnten die integrierte Luminosität empfindlich schmä-lern. Es ist deshalb notwendig, die Schwachstellen zuidentifizieren und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. We-gen der großen Zahl an Komponenten sind hier Un-tersuchungsmethoden angemessen, die auf statistischeMethoden bei der Modellierung der Ausfälle zurück-zugreifen. Solche Modelle sind insbesondere bereitsin Amerika für vergleichende Studien der verschie-denen Beschleunigerkonzepte eingesetzt worden. DieFragen haben Auswirkungen auf zukünftige Design-entscheidungen, bei denen u. a. ein zweiter Tunnelals Servicetunnel mit schnellerem Zugang diskutiertwird. Der TESLA-Vorschlag favorisiert einen Ein-Tunnelvorschlag, in dem der Linac an der Tunneldeckeangebracht wird. Eine solche Lösung erlaubt relativ un-gehinderten Zugang zum Beschleuniger, allerdings nurin den Betriebspausen.

Detektorentwicklungen

Auch im Jahre 2004 wurden an beiden DESYStandorten intensive Arbeiten zur Entwicklung vonDetektoren für einen Linearbeschleuniger durchge-führt. Die Hauptgebiete sind: strahlnahe Kalorimetrie(Zeuthen), hadronisches Kalorimeter (Hamburg), Zeit-Projektionskammer (Hamburg) und MAPS-Pixel De-tektoren (Hamburg). Darüber hinaus arbeitet DESY am

Experiment zur Entwicklung einer polarisierten Po-sitronenquelle mit (E166, in Zeuthen und in Ham-burg) und entwickelt präzise Strahllagemonitore, diefür einen Einsatz in einem Energiespektrometer gedachtsind (Zeuthen).

F&E für strahlnahe Kalorimetereines ILC Detektors

In der strahlnahen Region des ILC Detektors sind zweiKalorimeter vorgesehen, welche extremen Anforderun-gen genügen müssen und daher intensive Grundlagen-forschung erfordern. Das BeamCal, welches direkt ander Strahlröhre anliegt und einen Polarwinkel von 4bis 28 mrad überdeckt, muss unter sehr hoher Strah-lenbelastung funktionstüchtig bleiben. Elektronen undPositronen der ,,Beamstrahlung“ deponieren eine Dosisvon etwa 10 MGy pro Jahr. Das sich radial anschlie-ßende LumiCal bei Polarwinkeln zwischen 26 und82 mrad ist ein Instrument zur präzisen Luminositäts-messung.

Eine eigene Kollaboration für Kalorimetrie in Vorwärts-richtung (FCAL) erarbeitet ein technisches Design fürbeide Kalorimeter. Im Berichtszeitraum wurden um-fangreiche Monte Carlo Rechnungen zur Optimierungder Strukturen durchgeführt. Parallel dazu wurden Sen-sor Prototypen getestet und Vorbereitungen für denAufbau von Prototypen der Kalorimeter getroffen.

Die Verteilung der Beamstrahlung im Bereich desBeamCal kann zur Strahldiagnose und Korrektur ge-nutzt werden. Einzelne hochenergetische Elektronenmüssen bis zu kleinsten Polarwinkeln erkannt werden,dadiese sonst zumUntergrundbei der SuchenachneuenTeilchen beitragen. Für diese Zwecke muss das innereKalorimeter sehr kompakt sein und eine hohe Granu-larität besitzen. Mögliche Varianten sind ein Diamant-Wolfram Sandwich Kalorimeter oder ein Kalorimeteraus Szintillatorkristallen. Die Segmentierung der Sen-soren oder Kristalle wurde nach Monte Carlo Studienfestgelegt.

Diamant-Sensoren, die das Fraunhofer Institut für an-gewandte Festkörperphysik in Freiburg angefertigt hat,wurden in einem Teststrahl in einem großen Intensitäts-bereich untersucht. Ein Sensor der Größe 12×12 mm2

ist in Abb. 58 gezeigt. Linearität und Homogenität

105

Forschung für den International Linear Collider

Abbildung 58: Ein Diamantsensor für Untersuchungenim Teststrahl. Die Elektrode besteht aus vier Teilflächenetwa der Größe, die für das Kalorimeter optimal ist.Jede Teilfläche wird separat ausgelesen.

wurden getestet. Die vorläufigen Resultate sind sehrzufriedenstellend.

Aus Plastik-Szintillatoren wurden Segmente gefer-tigt, welche etwa den Abmessungen der Kristalleim BeamCal entsprechen, mit optischen Fasern zurLichtauskopplung versehen und zu einem Mini-Modulzusammengefügt. Die Lichtmenge vom Durchgangkosmischer Myonen wurde direkt am Szintillator undam Ende der optischen Faser gemessen. Etwa 10% desLichtes wird ausgekoppelt. Das ist ausreichend für dieAnwendung im Kalorimeter.

Für das Design des LumiCal wurden detaillierte MonteCarloRechnungenvonanderenPartnernderFCALKol-laboration durchgeführt. Auf deren Grundlage wurde inZeuthen ein mechanisches Design entwickelt, welchesin Abb. 59 gezeigt ist.

Die Position der Sensoren muss mit einer Präzisionvon einem Mikrometer kontrolliert werden. Deshalbsind getrennte Halterungen für die Sensoren und dieAbsorberringe notwendig.

Abbildung 59: Der mechanische Aufbau des Lumi-Cal. Die linke Figur zeigt die Aufhängung eines Sen-sormoduls. Auf der rechten Seite ist der Aufbau einesSensormoduls aus mehreren Silizium Sensoren gezeigt.

F&E für ein hadronisches Kalorimeteram ILC

Bei vielen Schlüsselreaktionen am Linear Collider wer-den schwere Bosonen, z. B. W, Z oder Higgs-Teilchenerzeugt, die ihrerseits überwiegend in Jets zerfallen. Diezugrundeliegende Physik im Energiebereich des ILCerschließt sich aus der präzisen Vermessung solcherProzesse. Die schweren Teilchen können in den Multi-Jet-Endzuständen nur anhand ihrer invarianten Massenidentifiziert werden. Dazu müssen die Energien der Jetssehr genau gemessen werden, und zwar wesentlich ge-nauer, als dies mit bisher gebauten Detektoren an Be-schleunigern möglich ist. Diese Forderung ergibt sichunter anderem direkt aus den Massenwerten der schwe-ren Bosonen bzw. deren Abstand voneinander. Die Phy-sikstudien der vergangenen Jahre haben hier eine ge-waltige Herausforderung an die Detektorentwicklungaufgezeigt.

Im Prinzip kann die nötige Präzision erreicht werden,wenn jedes Teilchen im Ereignis einzeln im Detektornachgewiesen und mit der Komponente gemessen wird,die dafür am besten geeignet ist: also geladene Teilchenmit dem Spurdetektor, und neutrale im Kalorimeter. Beidieser ,,particle flow“ genannten Methode müssen dieTeilchensignale im Kalorimeter räumlich voneinader

106

Forschung für den International Linear Collider

getrennt werden. Die Trennung ist umso erfolgreicher,je stärker das Magnetfeld ist, das die geladenen Teil-chen von der Jet-Richtung ablenkt, je weiter entferntvom Wechselwirkungspunkt die Teilchen auf das Ka-lorimeter treffen, und je feiner dessen Granularität ist.Dem stehen offensichtliche technische und budgetäreGrenzen gegenüber; der Auslegung der Magnetspuleund des Kalorimeters kommt eine besondere Bedeutungbei der sorgfältigen Optimierung des Detektorkonzeptszu.

Die Gruppe FLC arbeitet zusammen mit Partner-instituten in Frankreich, Großbritannien, Russland,den USA und Tschechien im Rahmen der CALICE-Kollaboration an der Entwicklung eines hadroni-schen Kalorimeters (HCAL) mit Eisen als Absorberund Szintillatorauslese. Dank neu entwickelter Photo-detektor-Technologien können hier deutlich kleinereAuslesezellen als früher realisiert werden. Winzige,1 mm2 messende Halbleiterdetektoren, ,,Silizium-Photomultiplier“ (SiPM), die auf einem kurzen Wel-lenlängenschieber direkt auf die Szintillatorplättchenmontiert werden, übernehmen dabei die Rolle der vor-mals verwendeten Vakuum-Photovervielfacher, zu de-nen das Szintillationslicht über komplizierte Lichtlei-tersysteme aus dem Detektorvolumen herausgeführtwerden musste.

In einem ,,particle flow“-Kalorimeter spielt die Ortsauf-lösung eine mindestens genauso große Rolle wie dieEnergieauflösung. Diese Gesichtspunkte auszubalan-cieren ist eines der Ziele des Entwicklungsprogramms.In einer radikaleren Variante kann sogar auf die Am-plitude der Kalorimetersignale ganz verzichtet werden:das ,,digitale Kalorimeter“ misst die Energie durch Zäh-len der Treffer in sehr feiner (1 cm2) Segmentierung.Für diesen Ansatz kommen auch Gas-Detektoren alsAuslesemedium in Frage, eine Option, die von anderenGruppen in CALICE untersucht wird.

Für dieses Programm ist der Bau von Kalorimeter-Prototypen für Teststrahlexperimente unverzichtbar.Zum einen müssen die neuen Technologien über denLabormaßstabhinausundunter realistischenBedingun-gen erprobt werden, zum anderen sind die Modelle, dieder Computersimulation hadronischer Schauer zugrun-deliegen, zu ungenau, als dass die Optimierung eines,,particle flow“ Kalorimeters sich darauf stützen könnte.Daten von elektronischen und hadronischen Teststrah-len sind nicht zuletzt nötig, um das Konzept überhaupt

Abbildung 60: Simulation eines Ereignisses im kom-pletten Prototypen (ECAL, HCAL und tail catcher).

auf eine experimentelle Basis zu stellen. Die Größe deszur Zeit im Bau befindlichen ,,Kubikmeter“-Prototypenist dabei durch die Ausdehnung hadronischer Schauerbei ILC typischen Energien vorgegeben, die Granula-rität und damit die Zahl der elektronischen Kanäle (ca.8000) durch die bei der Rekonstruktion der Schauer auf-zulösenden Substrukturen. Ein simuliertes Ereignis inder geplanten Konfiguration aus elektromagnetischemund hadronischem Kalorimeter sowie ,,tail catcher“ istin Abb. 60 gezeigt.

In einer Vorstudie ist ein kleineres Kalorimeter(,,Minical“) mit ca. 100 SiPMs gebaut und 2003 imElektronen-Teststrahl am DESY untersucht worden. ImJahre 2004 wurde die Datenanalyse mit einer Publi-kation abgeschlossen. Die Messungen wurden außer-dem ergänzt durch Vergleiche mit einer mit Avalanche-Photodioden instrumentierten Variante. Die Resultatein Abb. 61 zeigen, dass die erzielten Auflösungenpraktisch gleich und anhand von Simulationen gut ver-standen sind. SiPMs haben eine Pixel-Struktur underzeugen ein Signal, das der Zahl der von Photonengetroffenen Pixel entspricht. Damit gehen Sättigungs-effekte einher. Ein wichtiges Ergebnis des Minical-Teststrahlprogramms ist, dass diese Effekte zuverläs-sig korrigert werden können und ohne nennenswertenEinfluss auf die Auflösung bleiben.

107

Forschung für den International Linear Collider

Abbildung 61: Mit zwei Auslesetechniken gemesseneAuflösung für Elektronen im Minical (siehe Text).

Für den Kubikmeter-Prototypen war das gesamteelektro-mechanische Konzept zu erarbeiten. Die Ab-sorberstruktur wurde dabei so flexibel ausgelegt, dassneben Szintillator-Modulen auch andere Auslesetech-nologien getestet werden können, z. B. ein digitalesHCAL auf Gas Basis. Konnte das ,,Minical“ nochmit Elektronik-Komponenten aus der Zeit der PETRA-Experimente ausgelesen werden, wurde 2004 mit derEntwicklung neuer Frontend-Elektronik begonnen. DasKonzept ist ähnlich dem ebenfalls in der CALICE-

Abbildung62: PulshöhenspektrumeinesSiliconPhoto-multipliers. Deutlich erkennbar sind die äquidistantenSignale für einzelne Photoelektronen.

Kollaboration gebauten elektromagnetischen Silizium-Wolfram-Teststrahlkalorimeters (ECAL), so dass sichdas HCAL in die ECAL-Datenakquisition integrierenlässt. Die Elektronik-Karten für das HCAL wurden inenger Zusammenarbeit zwischen den DESY-GruppenFLC und FEB entwickelt. Ihr Herzstück ist ein amLAL in Orsay entwickelter ASIC-Chip mit Vorverstär-kern für 18 Kanäle. Am Ende des Berichtsjahres konnteder Bau der ersten Detektorebene mit den ersten 220mit SiPMs versehenen Szintillatorplättchen beginnen,und die ersten Chips der Serienproduktion erfolgreichgetestet werden. Abb. 62 zeigt ein dabei aufgenom-menes Pulshöhenspektrum; zu erkennen sind die fürdie Kalibration der SiPMs wichtigen Signale einzelnerPhotoelektronen.

Studien zum Vertexdetektoran MAPS Sensoren

Für den Vertexdetektor eines ILC-Detektors werdenmehrere Technologien studiert. DESY beteiligt sich imRahmen der ,,Monolithic Active Pixel Sensor“ Gruppean Studien zum Verhalten dieser Sensoren, zur me-chanischen Aufhängung und zur Kühlung durch Ver-dampfungskühlung. IReS in Strasbourg hat einen erstengroßen Sensor entwickelt: Mimosa V, 18 mm×18 mmgroß, mit 256 kpixel und einer Pixelgrösse von 17 µm.Dieser Sensor ist die Grundlage für die Studien beiDESY. Um das Verhalten dieses Pixeldetektors ken-nenzulernen, sind drei Sensoren, die IReS DESY zurVerfügung gestellt hat, in ausführlichen Tests mit einerFe55-Quelle und im Teststrahl vermessen worden. Da-für musste das vorhandene Datenerfassungssystem fürdas Test-Teleskop modernisiert und den Anforderungendes Pixeldetektors angepasst werden.

Abbildung 63 zeigt ein typisches Ereignis, das im Test-strahl aufgenommen wurde. Man unterscheidet klar 2typische Cluster, die aus mehreren Pixeln bestehen und2 ,,heiße“ Pixel. Die Analyse der Daten ist noch nichtabgeschlossen. Insbesondere werden die Ortsauflösungund die Nachweiswahrscheinlichkeit noch untersucht.Der Ortsauflösung sind, bedingt durch den niedrigenImpuls der Elektronen von 6 GeV/c, Grenzen durch dieVielfachstreuung gesetzt.

Um das bestmögliche Verhalten des Vertexdetektors zuerreichen, muss die Materie, die die Teilchen durchdrin-

108

Forschung für den International Linear Collider

Abbildung 63: Beispiel eines guten Ereignisses imMAPS prototypen mit 2 Clustern und 2 ,,heißen“ Pixeln.

gen, so dünn wie nur möglich sein, um Vielfachstreungzu reduzieren. Neben der Reduzierung der Sensordickemuss die mechanische Halterung wie alle anderen Ma-terialen auf das Minimum reduziert werden. Auf derSuche nach geeignetem Material für die Tragestruktu-ren (Leiter) zeigte sich neben CVD-Diamant auch ,,ge-schäumtes“ Siliziumkarbid (SiC) als sehr gut geeignet.Erste Leitern aus SiC sind gefertigt worden.

Weitere Studien befassten sich mit dem Aufbau einesKühlsystems, das entlang einer Leiter eine gleichmä-ßige Wärmeabfuhr garantieren soll. Dabei wird dasVerfahren der Verdampfungskühlung in sehr dünnenRöhrchen benutzt. Abbildung 64 zeigt den Messauf-bau, in dem die verschiedenen Aspekte des mechani-schen Aufbaus und des Kühlsystems getestet werdensollen.

Zeit-Projektions-Kammer

Als eine wichtige Komponente des Spurerken-nungssystems für einen Detektor am ILC ist eineZeit-Projektions-Kammer (TPC) in Diskussion. DerSchwerpunkt der F&E-Aktivitäten am DESY liegt beider Untersuchung eines neuartigen Gasverstärkungs-systems basierend auf Gas-Elektronen-Vervielfacher(GEM). Ziel ist eine Ortsgenauigkeit von besser als100 µm über dem gesamten Kammervolumen.

Abbildung 64: Messaufbau zum Testen des mechani-schen Aufbaus und des Kühlsytems.

In den vergangenen Jahren sind bereits eine Reihe viel-versprechender, grundlegender Versuche zum Einsatzvon GEMs in einer TPC in enger Zusammenarbeit mitanderen Instituten in Deutschland, Frankreich und Ka-nada durchgeführt worden. Im Jahr 2003 ist ein spe-zieller TPC-Prototyp bei DESY entwickelt und gebautworden. Dieser ist so konstruiert, dass er in der Hoch-Magnetfeld-Testanlage, die seit 2002 bei DESY zurVerfügung steht, betrieben werden kann.

Im Jahr 2004 wurden insgesamt rund eine halbe MillionSpuren von kosmischen Myonen mit dem neugebau-ten TPC-Prototypen in der Hochfeld-Testanlage aufge-zeichnet. Die gewonnenen Daten dienen vornehmlichder Untersuchung des räumlichen Auflösungsvermö-gens einer TPC. Abbildung 65 zeigt ein vorläufigesErgebnis der Studien. Um den Einfluss verschiedenerFaktoren auf die Ortsauflösung studieren zu können,wurden Daten mit unterschiedlichen Auslesegeome-trien und Gasen als Funktion der Kammerpositionenaufgezeichnet. Desweiteren stehen noch rund 300 000Ereignisse, die im Jahr 2004 in einem Elektronen-teststrahl am DESY aufgezeichnet wurden, für Auf-lösungsstudien zur Verfügung. Im Zuge der noch nichtabgeschlossenen Datenanalyse wurde die verwendeteRekonstruktions- und Simulationssoftware weiterent-wickelt und verbessert. Ziel der Untersuchung ist es, zuverstehen, welche Faktoren die Auflösung limitieren,um die Leistungsfähigkeit der Kammer dann in einemweiteren Schritt optimieren zu können.

109

Forschung für den International Linear Collider

Abbildung 65: Räumliches Auflösungsvermögen ei-ner TPC in transversaler Richtung als Funktion derDriftlänge bei unterschiedlichen Magnetfeldstärken.

Neben der Untersuchung der Ortsauflösung einer TPCmit GEM-Verstärkungssystem sind auch Untersuchun-gen zur Bestimmung der Doppelspurtrennung der Kam-mer begonnen worden. Hierzu kam ein UV-Laser zumEinsatz, dessen Licht in zwei Strahlen aufgespaltenwurde. In den letzten Monaten begann die Entwicklungeines Strahlführungssystems, das die Strahlteilung und-fokussierung leistet. Ferner sind für die Messungennotwendige Modifikationen an dem TPC-Prototypendurchgeführt worden, die es ermöglichen, das Laser-licht in das Driftvolumen der Kammer einzuspeisen.

Der Hoch-Magnetfeld-Teststand hat sich in dieser ers-ten Messreihe bewährt. Eine weitere Nutzung dieser,,Infrastruktur“ ist für fortgesetzte Studien zur Ortsauf-lösung auch für andere Spurdetektoren vorgesehen.

PolarisiertePositronenquelle(E166)

In den vergangenen Jahren wurde im Rahmen der Stu-dien für einen Linearbeschleuniger gezeigt, dass die Po-larisierung beider Strahlen – Positronen sowie Elektro-nen – das Physikpotential erheblich erweitert. Währenddie Methode zur Erzeugung polarisierter Elektronendurch Photoemission an geeigneten GaAs-Struktureninzwischen weit fortgeschritten ist und hohe Polarisa-tionsgrade erreicht werden, ist die Erzeugung polari-sierter Positronen vergleichsweise Neuland. Mit dem

E166 Experiment am Stanford Linear Accelerator Cen-ter (SLAC) soll erstmals die Produktion polarisierterPositronen mit einem wendelförmigen Undulator expe-rimentell demonstriert werden. Diese Idee geht auf eineArbeit von Balakin und Mikhailichenko aus dem Jahre1979 zurück: ein hochenergetischer Elektronenstrahlwird durch einen wendelförmigen Undulator geschickt.Dabei entsteht zirkular polarisierte Gammastrahlung,die hinter dem Undulator auf ein dünnes Target trifftund Elektron-Positron Paare erzeugt. Fängt man mit dernachfolgenden Strahloptik lediglich die hochenergeti-schen Positronen ein, erwartet man Polarisationsgradebis zu 60%.

Das E166 Experiment wird am SLAC FFTB unter inter-nationaler Beteiligung durchgeführt. DESY hat die Ver-antwortung für Design, Bau, Betrieb und Auswertungdes Polarimeters übernommen, mit dem die erreichtePolarisation der Positronen vermessen werden wird. Eshandelt sich hierbei um ein Comptontransmissionspola-rimeter, das aus einem Analysiermagneten (Verantwor-tung DESY Hamburg) und einem CsI(Tl) Kalorimeter(Verantwortung DESY Zeuthen) besteht. Ein weitererAnalysiermagnet wird im Polarimeter zur Messung derPhotonpolarisation eingesetzt.

Die beiden Analysiermagnete (Abb. 66) wurden vonDESY Hamburg konzipiert und vom Efremov-InstitutSt. Petersburg hergestellt. Ein in den Magneten einge-betteter Ferromagnet wird durch ein solenoidales Feldauf über 2 T magnetisiert, dabei werden die Elektronenin den unvollständig besetzten inneren 3d-AtomschalendesEisenspolarisiert. Inder ComptonPolarimetriewer-den nun polarisierte Photonen an den polarisierten Elek-tronen im Eisen gestreut. Aufgrund der Spinabhängig-keit des Compton-Prozesses ergibt sich bei Umkehrungder Magnetisierung eine Asymmetrie des Transmissi-onssignals. Die Analysiermagnete sind im Photonarmund im Positronarm, hier zusammen mit dem CsI Kalo-rimeter, installiert. Im Positronarm werden die erzeug-ten polarisierten Positronen am Eingang des Analysier-magneten in Photonen rückkonvertiert. Die Polarisationder Positronen ergibt sich dann aus der gemessenenAsymmetrie der Signale im CsI(Tl)-Kalorimeter.

Zwei Kalorimeter-Prototypen, jeweils bestehend auseinem CsI(Tl) Kristall, aber mit unterschiedlicherLichtauslese (Photomultiplier bzw. zwei großflächigenPhotodioden), wurden Anfang des Jahres noch einmalausgiebig getestet und dann am SLAC am zukünfti-

110

Forschung für den International Linear Collider

Abbildung 66: Die Analysiermagnete für das E166Experiment am SLAC. Links ist der Magnet für denPositronarm und rechts ist der Magnet für den Elek-tronarm zu sehen. Weiterhin sind die Anschlüssefür die Wasserkühlung und die Stromversorgung zuerkennen.

gen Experimentierplatz eingebaut. Beide Prototypenfunktionierten einwandfrei; da die Lichtauslese mittelsPhotodioden einfacher zu kalibrieren war, wurde ent-schieden, das Kalorimeter mit Photodioden auszustat-ten. Parasitär zum Betrieb anderer Experimente konntendie Prototypen unter tatsächlichen Strahlbedingungengetestet werden.

Im Laufe des Jahres wurde das Design des Polarimetersvervollständigt. Das Kalorimeter (Abb. 67) besteht aus9 CsI(Tl) Kristallen mit einer Größe von je 6 cm×6 cm×28 cm angeordnet in einer 3×3 Matrix.

Die Kristalle wurden von der Firma AMCRYS-HLIMITED aus der Ukraine geliefert und in Zeutheneingehend auf ihre Szintillationseigenschaften hin un-tersucht. Alle zeigten hinreichende Qualität. Die me-chanische Struktur des Kalorimeters wurde von derHumboldt-Universität, die Verstärker für den Sig-naltransport wurden gemeinsam mit der Humboldt-Universität entwickelt und gebaut. Das Kalorimeterwurde im Teststrahl am DESY II in Hamburg getestet,bevor es im Sommer zum SLAC gebracht und dort imExperiment installiert wurde. Simulationen mit Hilfevon GEANT3 haben gezeigt, dass man das Kalorimeterdurch geeignete Blei- und Wolframwände nahezu voll-ständig gegen Photonenuntergrund schützen kann. Im

Abbildung 67: Die Anordnung der CsI(Tl) Kristalle imKalorimeter für das E166 Experiment am SLAC. DieLichtauslese erfolgt mittels Photodioden; hier ist dieAusleseelektronik zu sehen.

Oktober begann die erste Datennahme für das E166 Ex-periment, doch aufgrund eines schweren elektrischenUnfalles, der nicht im Zusammenhang mit dem Ex-periment stand, wurde der Beschleunigerbetrieb nachzweieinhalb Tagen für unbestimmte Zeit unterbrochen.In Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Wiederaufnahmedes Strahlbetriebs sind für das Jahr 2005 zwei je ca.4-wöchige Strahlzeiten geplant.

Die zweieinhalb Tage Strahlzeit bei 28 GeV dienten derersten Strahljustierung und Untergrunderfassung. DerUndulator war zu diesem Zeitpunkt noch nicht instal-liert. Das wohl wichtigste und erfreulichste Ergebnisdieser kurzen Strahlzeit war, dass das CsI-Kalorimeterunter realistischen Strahlbedingungen keinen nennens-werten Untergrund registrierte, der direkt vom hoch-energetischen Elektronstrahl oder indirekt über Neu-tronen vom ,,Strahldump“ ausgeht.

Das Kalorimeter funktionierte unter realistischen Be-dingungen ausgezeichnet. Die gewonnen Daten wur-den in Bezug auf Kalibration und Linearität untersuchtund bisher konnte eine Genauigkeit der Energiemes-

111

Forschung für den International Linear Collider

sung von etwa 20% erreicht werden. Ziel ist es, dieseauf etwa 5% zu verbessern. Parallel zur Auswertungder Daten soll die vollständige Simulation des Expe-rimentes mittels GEANT4 vorbereitet werden. Dabeiist zu erwähnen, dass hier auch Entwicklungsarbeit anGEANT4 geleistet werden musste, um die Polarisati-onsabhängigkeit wichtiger Prozesse in das Programmzu integrieren.

Die Analysiermagnete wurden vor der Installation amSLAC im August 2004 am DESY in Hamburg getes-tet. Beide Magnete konnten bis zu ihrem gewünschtenMaximalwert von ±60 A hochgefahren werden. Ent-scheidend für die Bestimmung der Magnetisierung desEisens ist die Messung des magnetischen Flusses, diemit Hilfe von Induktionsspulen erfolgt, die um denFerromagneten gewickelt sind. Eine am DESY durch-geführte Messung ergab einen Wert von 0.680 Vs, wassehr gut mit dem erwarteten Wert übereinstimmt.

Beide Magnete wurden Mitte September am SLAC imFFTB-Tunnel installiert. Leider ist ein Betrieb der Ma-gnete nach dem erwähnten Unfall am SLAC bishernicht möglich gewesen.

Arbeiten zum Energiespektrometer

Gemeinsam mit dem VIK Dubna, Dzhelepov Labo-ratorium für Kernprobleme und der Technischen Uni-versität Berlin, Fachgebiet Theoretische Elektrodyna-mik, wurde eine Initiative gestartet, ein für den LinearCollider notwendiges Spektrometer zur Messung derStrahlenergie mit einer relativen Genauigkeit von besserals 10−4 zu entwickeln. Ausgehend von den Forderun-gen des Physikprogramms beim ILC wurden Designund Parameter der Magnete und der hochauflösendenStrahllagemonitore festgelegt.AnderTechnischenUni-versität Berlin wurden Monitore entwickelt, die einigezehn Nanometer Positionsgenauigkeit für den Einzel-paketbetrieb besitzen. Die 5.5 GHz Variante dieser Mo-nitore erlaubt den Ort des Teilchenpakets (mit einerprovisorischen Elektronik) mit 200 nm Präzision übereine Distanz von ±1.5 mm zu bestimmen. Die theoreti-schen Erwartungen an diesen Monitor Typ (Cavity Mo-nitor mit speziellen Wellenleitern, siehe auch Abb. 68)wurden durch Messungen an der BeschleunigeranlageELBE in Rossendorf bei Dresden weitestgehend bestä-tigt.

Abbildung 68: RF Monitor mit Koppelschlitz undWellenleiter.

Darüber hinaus wurden Fragen zur Präzisionsausrich-tung und Stabilisierung der Komponenten des Ener-giespektrometers sowie ihrer Überwachung untersuchtund Vorschläge hierzu erarbeitet. Die erzielten Resul-tate sind ineinemTechnischenDesignReport (LCNote)zusammengefasst.

Komplementäre Möglichkeiten zur Bestimmung derStrahlenergie (,,radiative return“ Ereignisse, Nutzungder Synchrotronstrahlung) wurden ebenfalls initiiert. InZeuthen wurden ,,radiative return“ Ereignisse vom Type+e− → µ+µ−γ als erstes wegen ihrer Einfachheit bei350 GeV analysiert. Mit einer integrierten Luminosi-tät von 100 fb−1 konnte ihre Nutzbarkeit zur Messungder Strahlenergie nachgewiesen werden. Der nur vonder Statistik herrührende Fehler von über 10−4 für dieStrahlenergie erfordert aber, weitere Prozesse in dieUntersuchungen einzubeziehen.

Weiterentwicklung derILC Simulations-Software

Die DESY LC Gruppen tragen in enger Zusammenar-beit mit DESY IT wesentlich zur Entwicklung eines

112

Forschung für den International Linear Collider

Software Systems für Studien für den ILC bei. In denletzten Jahren wurde in enger Kooperation mit demSLAC ein Datenformat entwickelt, in dem Daten fürden ILC Detektor abgespeichert und verarbeitet werdenkönnen (LCIO). Im Jahre 2004 wurde dieses Formatweiterentwickelt, und fand immer weitere Akzeptanzbei Gruppen, die am ILC arbeiten. Ein Fortran Inter-face für LCIO einschließlich Dokumentation wurde imBerichtszeitraum erstellt.

Nach der LCWS’04 wurde mit der Entwicklung ei-nes Programms begonnen, das die einfache Analysevon LCIO basierenden Daten erlaubt. Dieses Program,MARLIN (modular analysis and reconstruction sys-tem for the international linear collider) konnte imHerbst in einer ersten Version bereitgestellt werden.Seitdem werden von mehreren Gruppen Module ent-wickelt, die in der Simulation, Digitalisierung und inder Rekonstruktion Anwendung finden werden.

Als erster Test dieses Software Systems dienen dieDetektor Entwicklungsarbeiten. Die Daten sowohl fürden Kalorimeter Test wie auch für den TPC Test wer-den als LCIO Daten abgespeichert. Die Entwicklungder Analyse-Software im MARLIN System hat bereitsbegonnen.

Neben den neuen, C++ basierenden Paketen wer-den die existierenden, Fortran basierenden Programmeweiterhin unterstützt. Das DetektorsimulationspaketBRAHMS wurde so modifiziert, dass variable Zell-Größen im Kalorimeter berücksichtigt werden kön-nen und das Einlesen (bzw. die Ausgabe) der Simu-lationsergebnisse von (in) einem LCIO file ermöglichtwird.

Das schnelle Detektorsimulationsprogramm SIMDETwurde weiter gepflegt und neue Entwicklungen wurdeneingearbeitet. Die erwähnten Software-Pakete werdenineinemeigenseingerichtetenCVS-Server denNutzernweltweit zur Verfügung gestellt.

Das Zentrale Datennahme System

Ein wichtiger Aspekt der Detektorentwicklung ist dasZentrale Datennahmesystem, mit dessen Hilfe die Viel-zahl der Signale der verschiedenen Detektorkomponen-ten erfasst, für die spätere Analyse aufbereitet und ge-speichert werden. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei

auf einer verlustfreien Datenerfassung, um das phy-sikalische Potential des ILC voll auszuschöpfen undgleichzeitig den Aufwand im Rahmen zu halten.

Beim ILC treten Kollisionen nur 5 mal pro Sekundein einem Zeitfenster von etwa einer Millisekunde auf.In dieser einen Millisekunde treffen etwa 3000 Teil-chenpakete im zeitlichen Abstand von wenigen hundertNanosekunden aufeinander.

Diese Zeitstruktur des ILC erlaubt es, die anfallendeDatenmenge während der Periode, in der die Kollisio-nen stattfinden, lokal in den Detektorkomponenten zuerfassen, zu speichern und in der verbleibenden Zeit vonetwa 0.2 Sekunden vor der nächsten Kollision die Datenvom Detektor über ein Datennetzwerk in eine Rechner-Farm zu übertragen. In dieser werden die Daten weiter-verarbeitet, die interessanten Ereignisse selektiert undletztlich die relevante Information zum Speichern fürdie Analyse aufbereitet. Dieses Konzept erlaubt es, aufeinen konventionellen Hardware Trigger zu verzichten.

Dieses Konzept des ,,Software Triggers“ wurde in derECFA/DESY Studie entwickelt und ist im TDR bereitsprinziell beschrieben. In der anschließenden ECFA Stu-die sowie den Studien in Amerika und Asien wird diesesKonzept im Rahmen der interregionalen Zusammenar-beit weiterentwickelt und die Auswirkungen auf dieverschiedenen Detektorkomponenten untersucht undmögliche Probleme sowie deren Lösungen erörtert.

Im Bereich der zentralen Datenerfassung sind konzep-tionelle Studien über die notwendige Netzwerkband-breite, die Rechenleistung und die Speicherkapazitätnotwendig. Dazu werden Abschätzungen der Ereignis-größen in Abhängigkeit der eingesetzten Detektorkom-ponenten erarbeitet. Fragen der Kalibration sowie derÜberwachung und Steuerung der Detektoren insbeson-dere im Hinblick auf die Anforderungen für das Glo-bal Detector Network sind ebenfalls Gegenstand derUntersuchungen.

Ausbildung

Ein wesentlicher Teil der Arbeiten zum ILC, besondersim Bereich der Physik und der Detektorentwicklungen,wird von Doktoranden und Diplomanden durchgeführt.

113

Forschung für den International Linear Collider

Das Interesse an Arbeiten im Bereich des ILC hat auchin diesem Jahr angehalten. Die Verbindung von der Ent-wicklung anspruchsvoller Nachweisgeräte, interessan-ter Physik und einer sehr internationalen Atmosphäredes Projektes hat eine hohe Attraktivität. Daneben ha-ben etwa 10 Schüler die Möglichkeit wahrgenommen,im Laufe des Jahres zwei- bis dreiwöchige Praktikenin der ILC Arbeitsgruppe zu absolvieren. Die Schülernehmen am ,,Leben“ der Forschungsgruppe teil, undverfolgen daneben ein eigenständiges, kleines Projekt,dass ihnen die Möglichkeit gibt, einen Einblick in wis-senschaftliches Arbeiten zu bekommen. In der Abbil-dung 69 ist der experimentelle Aufbau zu sehen, andem die Schüler arbeiten.

Zusammenfassung und Ausblick

Beide Standorte DESYs, Hamburg und Zeuthen, enga-gieren sich in den Arbeiten am ILC. Studien zur Physikam ILC werden an beiden Orten intensiv durchgeführt.Die Maschinenphysik hat naturgemäß ihr Schwerge-wicht in Hamburg, wo die großen Anlagen installiertsind. Zeuthen engagiert sich hier vor allem im Bereichder Quelle (PITZ) und der Erzeugung polarisierter Po-sitronen. In Hamburg profitieren die Arbeiten am ILCvor allem von der Synergie mit der Entwicklung desXFEL, insbesondere in der Weiterentwicklung der su-praleitenden Technologie. Darüber hinaus werden ori-ginäre Arbeiten zum Thema der Dämpfungsringe, derStrahldynamik und des Global Accelerator Networksweitergeführt. Arbeiten zum Detektor konzentrierensich in Hamburg auf TPC Entwicklungen und die Ent-wicklung, den Bau und die Inbetriebnahme des HCALPrototypen. In Zeuthen wird an der Instrumentierungder Vorwärtsrichtung gearbeitet. Alle anderen Arbei-ten, speziell auch die Entwicklungen der Software, fin-den in enger Zusammenarbeit und Abstimmung beiderLabore statt.

Im nächsten Jahr wird einer der Schwerpunkte der Ar-beiten die Inbetriebnahme des großen HCAL Proto-

Abbildung 69: Experimenteller Aufbau, der von Schü-lerinnen und Schülern im Rahmen mehrerer mehrwö-chiger Praktika erstellt worden ist.

typen sein. Zusammen mit Gruppen aus Frankreich,Großbritannien, der tschechischen Republik und Russ-land wird dieser im DESY Teststrahl zusammen miteinem ECAL Modul ausgetestet werden, bevor er dannim Jahre 2006 vermutlich ans Fermilab an einen ha-dronischen Teststrahl geht. Die Arbeiten im Bereichder anderen Detektorprojekte werden auf annäherndkonstantem Niveau weitergeführt.

Nach der internationalen Entscheidung der Teilchen-physiker, den Beschleuniger in der kalten Technologiezu bauen, werden in den kommenden Jahren verstärktAktivitäten der FH Gruppen im Bereich der Maschinesichtbar werden. So haben bereits Arbeiten angefangen,um die Zuverlässigkeit des Beschleunigers zu simulie-ren. Arbeiten im Bereich der Maschineninstrumenta-tion sind in mehreren Bereichen geplant. Insgesamtwerden sich die Aktivitäten zum ILC weiter ausdeh-nen, und auch verstärkt Beiträge aus anderen DESYBereichen integrieren. Dem hat auch die Gründung desILC Projektes (http://ilc.desy.de) am DESYRechnung getragen.

114

115

Forschung Linearbeschleuniger-Technologien

Abbildung 70: Aufbau des EOS-Experiments am 100 MeV-Linac der Swiss Light Source.

116

Forschung Linearbeschleuniger-Technologien

ForschungLinearbeschleuniger-TechnologienGruppenleiter: B. Schmidt

Die Gruppe ,,Forschung Linearbeschleuniger-Technologien“ (FLA) ist Anfang 2004 aus dem Zu-sammenschluss der Gruppe FDET und eines Teilsder Gruppe HERA B hervorgegangen. Die in denVorjahren von FDET durchgeführten Untersuchun-gen zu supraleitenden Resonatoren mit höchstenGradienten und die Messungen zur Oberflächen-supraleitung sind im Wesentlichen Ende 2003 ab-geschlossen worden. Im Jahr 2004 hat sich dieGruppe FLA darauf konzentriert, an höchstauflö-senden Systemen zu arbeiten, die für die Strahl-diagnose an supraleitenden Linearbeschleunigernbenötigt werden mit der Zielrichtung Linear Col-lider und VUV/Röntgen-FEL. Eine Besonderheitdieser neuen Beschleuniger sind die extrem kurzenElektronenbunche, die insbesondere beim FEL nö-tig sind, um hohe Laser-Verstärkung in den Undu-latormagneten zu erreichen.

Die experimentelle Analyse dieser Bunche wird ein-mal durch direkte Zeitmessungen mit Hilfe der elektro-optischen Abtastung durchgeführt. Zum Anderen ist einoptisches Strahltransportsystem für Übergangsstrah-lung im Bereich von 0.2 bis etwa 30 THz entwickeltworden, um durch Messungen im Frequenzbereichfeinste Strukturen in den Ladungspaketen identifizierenzu können. Die Anwendung komplementärer Messme-thoden hat sich schon bei unseren bisherigen Arbeitenzur Strahldiagnose als sehr wertvoll erwiesen.

Aus den Arbeiten zur höchstauflösenden Bunchlän-gendiagnostik hat sich als neues Arbeitsfeld die Ent-wicklung optischer Methoden zur Synchronisation derBeschleunigerkomponenten (Injektor,HF-Resonatorenusw.) und der Experimente mit Femtosekundengenau-igkeit ergeben. In diesem Aufgabenfeld wurden eineDoktorarbeit begonnen und bereits erste Erfolge erzielt.

Die Gruppe FLA hat im Jahr 2004 mit Wissenschaftlernder Universität Hamburg, der RWTH Aachen und desPaul-Scherrer-Instituts zusammengearbeitet. Es sind

zwei Diplomarbeiten abgeschlossen worden. Eine Dis-sertation ist nahezu fertiggestellt, an drei weiteren wirdgearbeitet.

Arbeiten zur elektro-optischenAbtastung der Elektronen-Bunchein Linearbeschleunigern

Experimente an derSwiss Light Source

Die in den Vorjahren begonnenen Messungen der lon-gitudinalen Ladungsverteilung in den Elektronenpa-keten wurden erfolgreich fortgesetzt. Die Methodeder elektro-optischen Abtastung (electro-optic samp-ling EOS) wurde angewandt, um die Bunch-Länge am100 MeV-Linac der Swiss Light Source zu bestimmen.Das Experiment, das in Kooperation mit dem Paul-Scherrer-Institut durchgeführt wurde, ist in Abb. 70dargestellt. Die von den Elektronenpaketen erzeugtekohäherente Übergangsstrahlung (coherent transitionradiation CTR) wird aus dem Linac-Strahlrohr aus-gekoppelt und mit zwei Paraboloid-Spiegeln auf denZnTe-Kristall fokussiert. Der optische Anteil der Strah-lung wird durch ein Loch im ersten Paraboloid-Spiegelgeleitet und auf einen Photomultiplier abgebildet. EinTeilstrahl des Titan-Saphir-Lasers wird ebenfalls aufden Multiplier geführt, der einen Zeitabgleich der bei-den Signale mit einer Genauigkeit von 500 ps erlaubt.Der andere Teilstrahl des Femtosekundenlasers durch-läuft einen Polarisator und wird auf den ZnTe-Kristallfokussiert. Hinter dem Kristall befindet sich eine λ/4-Platte und ein Wollaston-Prisma, welches die beidenorthogonalen Polarisationszustände des Laserstrahlstrennt, die dann in zwei optische Fasern eingekoppeltund zum Diodendetektor außerhalb des Linac-Tunnelsgeleitet werden. Eine anspruchsvolle Aufgabe bestand

117

Forschung Linearbeschleuniger-Technologien

Abbildung 71: Elektronik zur Synchronisation des Titan-Saphir-Lasers mit der HF desSLS-Linacs.

darin, den Femtosekundenlaser mit einer Repetitions-rate von 81 MHz mit der 500 MHz-Hochfrequenz desPSI-Linacs zu synchronisieren. Dies wurde über eineVergleichsfrequenz von 3.5 GHz bewerkstelligt, die die7. Harmonische der Linac-HF und die 43. Harmoni-sche der Laserfrequenz ist. Die dazu benötigte Elektro-nik (siehe Abb. 71) wurde in unserer Gruppe entwickeltund in Zusammenarbeit mit der Gruppe MHF gebaut.

Sind die beiden 3.5 GHz-Signale nicht exakt frequenz-gleich, liefert ein Mischer ein Signal, mit dessen Hilfedie Resonatorlänge des Lasers über einen Piezospiegelnachgeregelt wird. Aus dem Rauschspektrum am Aus-gang des Mischers kann man die Zeitschwankungen(time jitter) in der Laser-Synchronisation relativ zurLinac-HF bestimmen. Diese liegen unter 40 fs (Femto-sekunden) und sind damit sehr viel geringer als die zeit-lichen Schwankungen der Elektronen-Bunche relativzur HF des Linacs.

Abbildung 72 zeigt die Signale des zeitdefinierendenPhotomultipliers und des Diodendetektors auf einem2 GHz-Oszilloskop.

Die Experimente zur Abtastung der Elektronenbuncheam PSI-Linac sind im Sommer 2004 erfolgreich abge-schlossen worden. Eine gemessene Zeitverteilung wirdin Abb. 73 gezeigt. Die Unterschwinger im Signal wer-den durch Beugungseffekte beim Auskoppeln und Fo-kussieren der Übergangsstrahlung verursacht. Die ge-messene Bunchlänge von 2 ps (Halbwertsbreite) ist inÜbereinstimmung mit den theoretischen Erwartungen.

Elektro-optischer Aufbau am Linac desVUV-FEL

Am Linac des VUV-FEL ist vor dem Eintritt desElektronen-Strahls in den Undulatorbereich ein EOS-

118

Forschung Linearbeschleuniger-Technologien

Abbildung 72: Oszillographenbild der Signale des zeit-definierenden Photomultipliers (obere Spur, negativePulse) und des Diodendetektors (mittlere Spur, posi-tive Pulse). Die Zeitskala beträgt 5 ns/Einteilung. DiePulse des Titan-Saphir-Lasers (TiSa) haben einen Ab-stand von 12.3 ns. In der Mitte des Bildes bei t ≈ 0 siehtmandieÜberlappungdesTiSa-Signalsmit demPulsderoptischen Übergangsstrahlung. Der Multiplier dientdazu, die zeitliche Koinzidenz mit einer Genauigkeit von500 ps herzustellen. Der Diodendetektor hat bei t ≈ 0ebenfalls ein großes Signal: dies ist ein Beweis dafür,dass der TiSa-Puls genau zu dem Zeitpunkt den ZnTe-Kristall durchläuft, bei dem dieser durch den CTR-Pulsdes Bunches doppelbrechend gemacht worden ist. Da-mit ist die Überlappung von TiSa- und CTR-Puls aufeiner Pikosekunden-Zeitskala realisiert.

Abbildung 73: Das gemessene Zeitprofil der SLS-Linac-Bunche (Punkte mit Fehlerbalken) im Vergleichmit einer Anpassungsrechnung, die die Beugung derÜbergangsstrahlung berücksichtigt.

Experiment aufgebaut worden, bei dem das mitgeführteLadungsfeld der Elektronenpakete direkt gemessenwerden kann. Auf die Weise entfallen die Beugungs-verluste, die bei Messungen mit kohärenter Übergangs-strahlung das Frequenzspektrum nach unten beschnei-

Abbildung 74: EOS-Aufbau am Linac des VUV-FEL.

den und damit Verzerrungen des Ladungsprofils vortäu-schen. Es wurde eine spezielle Vakuumkammer entwor-fen und gebaut, in die der Laserstrahl durch ein dünnesFenster unter einem Winkel von 6◦ gegen den Elek-tronenstrahl eintritt. Mittels eines fahrbaren Schirmskönnen der Laserstrahl und die optische Übergangs-strahlung (optical transition radiation OTR) auf eineschnelle Photodiode (oder wahlweise einen Photomul-tiplier) geleitet werden, mit deren Hilfe die zeitlicheSynchronisation der Laserpulse mit den Elektronen-Bunchen mit ca. 100 ps Genauigkeit eingestellt wer-den kann. Vor Beginn der elektro-optischen Abtastungwird der OTR-Schirm herausgefahren. Der schemati-sche Aufbau ist in Abb. 74 dargestellt.

Das Experiment ist weitgehend fernsteuerbar auf-gebaut, da der Zugang zum Beschleuniger nur be-schränkt möglich ist. Die Synchronisation des TiSa-Lasers (81 MHz) mit der Linac-HF (1300 MHz) erfolgtmit einer neu gebauten Elektronik (Abb. 71), in der die16. Harmonische der Laserfrequenz mit der Linac-HFgemischt wird. Der EOS-Aufbau ist ausgetestet und be-triebsbereit, die Messungen können beginnen, sobaldStrahlzeit am Linac zur Verfügung steht.

Numerische Studien zur Pulsverbreite-rung in elektro-optischen Kristallen

DieAnregung transversal-optischer (TO) Gitterschwin-gungen setzt eine untere Grenze für die kürzeste auf-lösbare Pulsdauer. Für Zink-Tellurid (ZnTe) liegt dieniedrigste TO-Schwingung bei 5.3 THz, dort zeigt

119

Forschung Linearbeschleuniger-Technologien

Abbildung 75: Erwartetes Signal im Diodendetektor des EOS-Aufbaus (durchgezogeneKurven) im Vergleich zu Originalform des Bunches (gestrichelte Kurven).Obere Bilder: ZnTe-Kristall von 300 µm Dicke; links: σ = 100 µm, rechts: σ = 20 µm.Untere Bilder: GaP-Kristall von 100 µm Dicke; links: σ = 20 µm, rechts: σ = 10 µm

der Brechungsindex ein resonanzartiges Verhalten.Es sind detaillierte numerische Studien zur Signal-verbreiterung und -verformung in elektro-optischenKristallen durchgeführt worden um zu ermitteln, obultrakurze Elektronen-Bunche noch unverfälscht re-konstruiert werden können. Bei ZnTe beginnt einemerkliche Verbreiterung für Pulslängen von wenigerals 30 µm (rms). Der TiSa-Laser-Puls wird ebenfallsbreiter und hat eine geringere Gruppengeschwindigkeitals der THz-Puls. Die Verbreiterung und die verschie-denen Gruppengeschwindigkeiten haben eine Signal-verzerrung im Diodendetektor zur Folge, siehe Abbil-dung 75.

Es zeigt sich, dass ein gaußförmiger Elektronen-Bunchmit σ ≥ 40 µm perfekt durch die elektro-optische Ab-tastung in ZnTe rekonstruiert werden kann. KürzereBunche erscheinen dagegen verlängert, bei σ = 20 µmfast um einen Faktor 2, und außerdem entwickeln sichOszillationen, die man durch resonante Verstärkung derFourierkomponenten nahe der TO-Gitterschwingungerklären kann.

Gallium-Phosphid (GaP) hat seine niedrigste TO-Schwingung bei 11 THz und ermöglicht daher die Mes-sung von kürzeren Pulsen. Der 20 µm-Puls wird beiAbtastung in GaP praktisch originalgetreu wiederge-

120

Forschung Linearbeschleuniger-Technologien

Abbildung 76: Schematische Darstellung der Auskopplung der THz-Strahlung und desoptischen Transportweges vom Beschleunigerbereich bis in die Messhütte.

geben, erst ein Puls mit σ = 10 µm erscheint deutlichbreiter. Die kürzeste Halbwertsbreite, die mit ZnTe alsEO-Kristall aufgelöst werden kann, beträgt 200 fs, beiGaP sind es 100 fs. Allerdings ist der elektro-optischeKoeffizient von GaP um einen Faktor 8 kleiner, unddie Detektorsignale sind entsprechend niedriger. AmEOS-Aufbau an der 140 m-Position des VUV-FEL Li-nacs sollen ZnTe, GaP und evtl. andere elektro-optischeMaterialien verglichen werden.

Spektroskopie kohärenterÜbergangsstrahlung

Die Spektroskopie der kohärenten Übergangsstrahlungim THz-Bereich ist eine Methode, die Zeitstruktur derElektronenbunche auf der Skala von 10–100 fs zu stu-dieren. Dieser Zeitbereich ist mit elektro-optischenTechniken kaum zugänglich. Um die im Beschleu-nigervakuum erzeugte Übergangs- oder Diffraktions-

strahlung optimal für Diagnosezwecke nutzen zu kön-nen, ist es zweckmässig, die Strahlung aus dem Be-schleunigerbereich herauszuführen. Zu diesem Zweckwurde eine quasi-optische Strahlführung auf der Ba-sis von Metallspiegeln entwickelt, die es erlaubt, THz-Strahlung von 0.2 THz bis 30 THz mit hoher Effizienzvom Beschleunigerbereich in eine externe Messhüttezu leiten. Die Strahlführung ist so ausgelegt, dass so-wohl Messungen der spektralen Intensitätsverteilungals auch zeitaufgelöste Messungen mit EO-Technikenoder Streak-Kameras möglich sein werden.

Die Propagation der THz Strahlung durch das opti-sche System wird auf Grund der langen Wellenlän-gen (10 µm bis 1 mm) wesentlich durch Beugungsef-fekte an den Strahlbegrenzungen und den optischenElementen bestimmt. Da kommerziell verfügbare Com-puterprogramme sich in diesem Wellenlängenbereichals unzureichend erwiesen, die Details der Beugungs-phänomene korrekt zu beschreiben, wurde ein eige-nes Mathematica Programmpaket zur Lösung diesesProblems entwickelt.

121

Forschung Linearbeschleuniger-Technologien

Abbildung 77: Intensitätsverteilung der kohärenten Übergangsstrahlung auf den optischenElementen der THz-Strahlführung (Diamantfenster und fünf Spiegel).

Das Programm THz-Transport umfasst die Behand-lung von Nah- und Fernfeldbeugung und erlaubtdie Beschreibung von sphärischen, elliptischen, para-bolischen und toroidalen Spiegelelementen. Zudemkönnen planparallele und keilförmige Fenster erfasstwerden. Basierend auf Berechnungen mittels diesesProgramms, dessen Entwicklung ca. 8 Monate in An-spruch nahm, wurden die Metallspiegel der Strahlfüh-rung und das Diamantfenster zur Auskopplung der

THz-Strahlung aus dem Beschleunigervakuum opti-miert. Diese Komponenten wurden inzwischen be-stellt und befinden sich in der industriellen Ferti-gung. Die Anordnung der optischen Elemente istschematisch in Abb. 76 dargestellt (planare Spie-gel sind nicht gezeigt), Abb. 77 zeigt exemplarischdie berechnete Intensitätsverteilung auf den opti-schen Elementen für eine Wellenlänge von 0.3 mm(f = 1 THz).

122